Geschwindigkeit, Gewalt und Modernität

Es begann mit einem Autounfall, bei dem Filippo Marinetti die Eingebung zu seinem „Futuristischen Manifest“ („Manifesto del Futurismo“ dem auch das Titelzitat entstammt) hatte. Es wurde am 5. Februar 1909 in der Zeitung „La Gazzetta dell’Emilia“ veröffentlicht und löste eine künstlerische Bewegung aus wie vielleicht kein anderes künstlerisches Programm.


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Bereits die Vorstellung, künstlerische Maximen zu artikulieren und in einem Manifest niederzuschreiben, war revolutionär. Das Ganze hatte Marinetti noch gesteigert, indem er sein Manifest als Triptychon gestaltete, dessen „Flügel“ in einer Art „poetischer Prosa“ verfasst sind und dessen Mittelteil die Programmpunkte des Futurismus enthalten. Fortan wurden Manifeste so etwas wie ein „Leitmedium“ des Futurismus und ein unverwechselbares Kennzeichen der Bewegung. Leitbegriffe des Manifests sind Geschwindigkeit, Gewalt und Modernität – all dies findet sich auch in futuristischen Kunstwerken wieder.

Italien war zu diesem Zeitpunkt ein Agrarland mit feudalistischen Sozialstrukturen. Die Futuristen mit ihrem Glauben an Mechanik, technischen Fortschritt, Reinigung durch Krieg oder industrielle Arbeit wollten alles Rückständige abschütteln und eine neue Epoche einläuten. Ihre Kunst sollte der Beitrag dazu sein. Diese Gedanken – provokant formuliert und geschickt verbreitet – fanden bei vielen Künstlern Anklang. Futuristische Ideen und Motive wurden von verschiedensten Kunstrichtungen aufgenommen und verarbeitet: Literatur, Malerei, Bildhauerei, Theater, Musik, Fotografie, Film … Futurismus überall!

Schaut man sich futuristische Kunstwerke an, bemerkt man zum einen, dass die Motive fast immer der Mechanik, der Industrie oder der Großstadt entstammen. Weiters sind sie von geradezu unerhörter Experimentierfreudigkeit: Töne werden mit Hilfe von Geräten produziert, Gemälde und Plastiken weisen nicht nur abstrakte Darstellungsweisen auf, sondern behandeln auch abstrakte Motive (z.B. „Schall“ oder „Geschwindigkeit“).

Oder sie emulieren industrielle Fertigung, indem sie aussehen, als ob sie von einer modernen, eleganten Maschine hergestellt wurden. Ein Beispiel für eine solche Plastik hat jeder von uns in der Tasche: auf der Rückseite der italienischen 20-Cent-Münze ist die Skulptur „Forme uniche della continuità nello spazio“ („Einzigartige Formen der Kontinuität im Raum“) von Umberto Boccioni abgebildet. In der Literatur werden Satzbau und Stilmittel in Frage und auf die Probe gestellt – von kompletter Aufgabe der Syntax hin zu Montagetechniken und Lautmalerei – es gab nichts, was nicht ausprobiert wurde.

Eine internationale Bewegung

Die Vielfalt und die Menge an Werken, die innerhalb der relativ kurzen Zeitspanne von 1909 bis etwa 1940 entstanden, verstärkten die Wirkung der neuen Kunstbewegung. Dadurch wurde der Futurismus in ganz Europa wahrgenommen und wirkte auf die dortigen Kunstströmungen. Zu nennen sind beispielsweise der Kubismus mit seinen „zerhackten“ abstrakten Elementen in neuen Anordnungen, die Montagetechnik und Großstadtmotive in Romanen wie Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“, John Dos Passos’ „Manhattan Transfer“, oder das Spiel mit Buchstaben und Wörtern im Dadaismus.

Besonders interessant ist die Wirkung des Futurismus auf Russland. Russland, wie Italien ein rückständiger Agrarstaat und wie Italien am Vorabend einer Revolution, war jenes Land, das den Futurismus am nachhaltigsten absorbierte. Nur hier entstand ab 1912 eine eigenständige und umfassende Futurismusbewegung, der russische Futurismus. Marinetti selbst war begeistert von der Unverfrorenheit und „Wildheit“ der russischen Künstler, die sich selbstbewusst von den italienischen Futuristen abgrenzten – alles Charakterzüge, die der Futurismus als wesentlich für die Entwicklung der Kunst erachtete.

Der Erste Weltkrieg war eine Zäsur für diese avantgardistische Kunstbewegung. Nicht nur wegen der Brutalität und des daraus folgenden Umdenkens in Bezug auf die „reinigende Kraft des Krieges“ und die martialischen Aspekte der Manifeste, sondern auch dadurch, dass mehrere Dutzend futuristischer Künstler fielen. So kam zum Beispiel aufgrund des Todes des Architekten Antonio Sant’Elia die futuristische Architektur in Italien nie über die Phase von Entwürfen und Studien hinaus.

An dieser Stelle kommt Russland wieder ins Spiel: Dort war der Futurismus bisher fast ausschließlich auf die Literatur und die Malerei beschränkt. Nach der Sozialistischen Revolution ging aus dem russischen Futurismus der Konstruktivismus hervor. Er hat seine deutlichsten Spuren in der Architektur hinterlassen. Die Bauten, die in den 1920er Jahren in der Sowjetunion entstanden, können zu Recht als revolutionär bezeichnet werden.

Es sind nicht nur die Formen und deren Anordnungen, die neuartige Gebäude entstehen ließen – es ist auch revolutionär, welchen Gebäudetypen sich die neue Architektur zuwandte. Arbeiterheime, Druckereien, Sternwarten, Parkhäuser – alles Gebäude, von denen man nicht erwarten würde, architektonisch anspruchsvoll gestaltet zu werden.

Aus Russland schwappte die Welle der neuartigen Architektur nach Westeuropa und auch nach Amerika über; der Konstruktivismus diente vielen Architekten als Vorbild, und es finden sich noch heute viele Gebäude, die seine Ideen repräsentieren.

Mitte der 1930er Jahre fand in Russland der zuvor gefeierte Konstruktivismus ein abruptes Ende, da er von der sowjetischen Parteiführung als bürgerlich und konterrevolutionär verurteilt wurde. Ähnlich erging es dem italienischen Futurismus: Anfangs von der Revolution begrüßt, wurde er im Laufe der 1930er Jahre als „degeneriert“ verworfen.

Wenn die Kunst mit der Politik …

Es ist nicht einfach, die Symbiose von Futurismus und Faschismus (bzw. Sozialismus) abschließend zu deuten. Es fällt jedoch auf, dass beide aufgrund ihrer Programmatik (neue Ordnung, neuer Mensch, Fortschrittsgläubigkeit usw.) grundsätzlich einander interessant waren. Die Sympathien auf beiden Seiten wechselten mehrfach, denn verschiedene Künstlergruppierungen und verschiedene Parteiströmungen (sowohl in Italien als auch in Russland) bezogen verschiedene Positionen zur jeweils anderen Seite. Mit Jacob Burckhardt („Weltgeschichtliche Betrachtungen“) kann man in diesem Wechselspiel eine anthropologische Konstante sehen: Den beiden „stabilen Potenzen“ Staat und Religion steht die wechselhafte Kultur gegenüber; die Spannungen des wechselseitigen Einflusses führen den Wandel der realen Gegebenheiten herbei.

Die politische Revolution, sobald sie ihre Macht gefestigt hatte, zögerte nicht, auch gegenüber ihr zunächst durchaus wohlgesonnenen Elementen in unterschiedlichem Maße repressiv zu werden.

Im Zuge der Festigung des Stalinismus und der damit einhergehenden „Säuberungen“ kam es zu Verboten und Verfolgungen von Künstlern und Intellektuellen. Die Folge war, dass auf dem künstlerischen Gebiet fortan nur wenige international nennenswerte Impulse aus der Sowjetunion kamen. Eine dieser Ausnahmen war ein von einem russischen Futuristen geschriebener Roman. Es handelt sich um „Doktor Schiwago“ aus dem Spätwerk Boris Pasternaks. Dem anarchistischen Geist des Futurismus treu, widersetzt sich Pasternak dem von oben verordneten „Sozialistischen Realismus“ mit einem Buch, das den unbändigen Wunsch des Helden nach Leben in den Mittelpunkt stellt – losgelöst von jedwedem politischen System. Schiwago hätte sich im Roman mindestens dreimal vor lauter Leid töten können – er tut es nicht. Genausowenig interessiert er sich dafür, in den Ideen der Revolution aufzugehen und ein „neuer Mensch“ zu werden. Stattdessen zieht er sich zurück aufs Land, schreibt Gedichte und lebt von der Scholle. Pasternak wurde verboten, das Buch zu veröffentlichen. Ihm wurde unter anderem ein untolerierbarer Individualismus seines Helden vorgeworfen. Wieder war es eine italienisch-russiche Kollaboration, die den Kreis schließt: Der russische Autor verfasste das Buch, der italienische Journalist Sergio d’Angelo schmuggelte das Manuskript aus der Sowjetunion und der Verleger Giangiacomo Feltrinelli druckte die Erstausgabe, die Pasternak den Nobelpreis einbrachte.


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