Gestern sucht Morgen

Was die Nation ausmacht, beantwortet jeder anders, mit dem, was er gerade wichtig findet. Der Schriftsteller sagt natürlich: die Sprache, das geschriebene Wort. Teilwahrheit nur, doch geistreich vorgetragen. Wir lesen nach bei Hugo von Hofmannsthal.


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Wien im Fin de Siècle

Kein Zufall, dass viele Weltveränderer sich so sehr um das Sprachlexikon bemühen. Gesellschaftsplaner planen zuerst die Semantik; wir kennen es von Klemperer, kennen es von Orwell; sehen es, harmloser, wohlmeinender, auch bei Gleichstellungsaktivisten unserer Tage. Gemeinsamer Tenor: neue Worte braucht das Land; wenigstens neue Endungen. Beginne mit der Sprache; die Verhältnisse werden folgen. Hoffte man jedenfalls und hofft man heute.

Wahr daran ist immerhin so viel. Sprache ist Kulturspeicher, historisches Gedächtnis; in ihr bleibt lange, was gewesen, Gutes, Böses, Schönes, Hässliches, Denkstrukturen auch und Machtverhältnisse. Vergangenheit spricht und denkt in uns, lenkt in uns, was wir fühlen, sagen, tun; unangenehm allen, die ändern wollen. „Wenn wir den Mund aufmachen“, schrieb einmal ein kundiger Sprachhandhaber, „reden immer zehntausend Tote mit“.

Der fand das freilich so übel nicht, denn er gehörte zur erhaltenden Fraktion, als einer der wenigen seiner Zunft, die in Erinnerung blieben. Mann von Adel, Mann von historischer Bildung, Mann von gestern, ein wenig immer schon, sehr sichtbar, sehr bewusst zum Lebensende hin. Sein Denkmal, als Dramatiker, hat er in Salzburg. Sein Denkmal als Essayist schuf er sich bei einer Münchener Rede, wie Jahre zuvor der Weber Max und doch sehr anders.

 

Geglaubte Ganzheit des Daseins

Hugo von Hofmannsthal (1874-1929)

Geladen hatte Karl Vossler, vom Fache Romanist, im Wintersemester 1926/27 Rektor der Ludovico Maximilianea. Was folgte, war ein Gipfelpunkt deutscher Prosa, wie immer man zum Inhalt sich verhalten will. Der Gastredner, Hugo Laurenz August Hofmann, Edler von Hofmannsthal, dozierte zum Schrifttum, vulgo zur schriftgewordenen Sprache, und ihrer Rolle „als geistiger Raum der Nation“; womit zuerst jene der zuhörenden Studenten, die deutsche gemeint war.

Europäische Nationen werden, spricht Hofmannsthal, nicht gemacht durch bloßes Zusammenleben, durch Heimatboden, Handel, Wandel – hinzusetzen mag man: auch nicht durch Staatlichkeit –, sondern durch ein „geistiges Anhangen“, eine gefühlte Verbundenheit. Verbindendes Medium, in der Weite des nicht mehr überschaubaren Landes, hin zu den Vorfahren, ist – bis dahin – das Schrifttum; aller Art, nicht nur die schöne Literatur; nicht nur für die Gebildeten.

Dem gastgebenden Romanisten zur Freude, folgt nun die Verbeugung gegen Frankreich. Es ist eine tiefe. Denn dort erfüllt das Schrifttum diese ihm zugewiesene, die Nation verbindende Funktion zu voller Zufriedenheit, schon durch die Sprachnorm. „Indem ihr sprecht“, heißt es in einem Reisebericht aus Nordafrika einmal zu einem französischen Kolonialoffizier, „befindet ihr euch in einem Saal, der die geistige Blüte der ganzen Nation umschließt.“

Es herrscht, so das wichtige Stichwort, „geglaubte Ganzheit“; alles fügt sich zu einem, das Hohe, das Mittlere, das Niedrige, das Neue und das Alte. „Mode belebt die Tradition, Tradition adelt die Mode“. Nahe fühlen sich die lebenden Franzosen ihren Landsleuten, und den Altvorderen, so dass es auch keine strenge Trennung gibt zwischen Roman, Historie, Politik; alles wird Sprache. „Die Literatur der Franzosen verbürgt ihnen ihre Wirklichkeit“

Bücher wären darüber zu schreiben, ob und wie weit genau dieses Idealbild Wirklichkeit ist oder war. Darauf aber kommt es im letzten nicht an; es dient hier allein als Spiegel, zu zeigen, dass die deutsche Wirklichkeit jener Tage unerfreulich anders ist. Nicht Einheit dort, sondern Zerklüftung und Zerrissenheit; nicht Nähe zwischen hoher Literatur und Alltag, sondern Gräben; Gräben auch zu den Klassikern hin, selbst zum großen Goethe; Gräben, natürlich, zur Politik und in der Politik.

Was es gibt, sind verirrte, suchende einzelne. Zerfallen die „geistige Besitzordnung“ der Bildungsphilister, deren Selbstbewusstsein darin geruht hatte, die deutschen Waffen in der Welt siegen und den nationalen Fortschritt am Werk zu sehen. Was die suchenden Literaten verbindet, „geheimer Consensus – all dieser Abseitigen, Ungekannten, von Geistesnot sich selber Habenden – ist die wahre und einzig mögliche deutsche Akademie“; eine sehr inoffizielle.

 

Träger produktiver Anarchie

Rückblick auf die Romantik

Unter den Suchern nun mehrere Typen. Der Dichterprophet, vermutlich nach dem Vorbild Stefan Georges, mit dem Hofmannsthal Jahre zuvor eine literarische Liaison verbunden hatte; der Schüler um sich versammelt, mit „Anspruch auf Lehrerschaft und Führerschaft“, zuerst Prophet ist und Dichter mehr nebenbei. Eisig auch, dunkel drohend und ein wenig Angst bereitend. „Er macht die leere Luft beengend kreisen / Und er kann töten, ohne zu berühren“ – Verse noch aus George-Tagen.

Dann der Arbeiter der Wissenschaft, hinter dem man archetypisch vielleicht Max Weber vermuten darf; oder durfte, denn 1927 war der schon lange tot. Viel weniger Schwärmerei dort, nicht Herrschsucht oder Vorwegnahme künftiger Herrschaft; doch auch Hybris, der unbedingten Wahrheitsliebe, „des Dienenwollens“, des ständigen Überspannens der Kräfte, geprägt von einer „heldenhaften Strenge“ und der leuchtenden Aura, die damals den deutschen Professor noch umgab.

Dazwischen viele. Einsame Sucher allesamt; den Romantikern ein wenig ähnlich und auch wieder nicht. Was die Romantik auszeichnete, „Kultus des Gemütes über alles“, „Suprematie des Traumes über den Geist“, „träumerische Pietät gegen das Gewesene“, „Musikmachen aus allem und mit allem“ – das ist verdrängt; es fehlt vielleicht die Sprache; wie bei Hofmannsthal einmal Lord Chandos an Francis Bacon schreibt, „eine Sprache, in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen“.

Die Dinge klingen nicht mehr, oder man hört das Klingen nicht, hat keinen Sinn mehr für diesen Zauber. Ein „strengeres, männlicheres Gehaben“, „fast grimmige Festigkeit“ zeichnen nun die Sucher aus, belehrt durch das neunzehnte Jahrhundert, belehrt durch den großen Krieg, Technisierung, Mechanisierung. Hart sind sie geworden, enger wollen sie den Raum machen, nicht weiter; nicht Freiheit wünschen sie, die suchenden Seelen, sondern Bindung.

Die wollen sie finden oder herbeiführen; „alles im äußeren Zerklüftete muß hineingerissen werden ins eigene Innere und dort in eines gedichtet werden, damit außen Einheit werde“. Schrifttum, Geist, drängen dazu, das einigende Band zu werden, das die Nation braucht; ein Prozess beginnt, eine „konservative Revolution von einem Umfange, wie die europäische Geschichte ihn nicht kennt. Ihr Ziel ist Form, eine neue deutsche Wirklichkeit, an der die ganze Nation teilnehmen könne“.

 

 

Synthese suchender Geist

Der österreichische Adel spielte eine Hauptrolle in Hofmannsthals Werk

Womit schon Ende ist. – Kein so ganz glücklicher Begriff, die konservative Revolution, den Hofmannsthal hier aufnimmt; schöpferische Restauration ein anderer, der damals in Umlauf war. Man erhält, oder man revolutioniert, man schafft Neues, oder man stellt wieder her – beides zusammen fügt sich schlecht. Gemeint ist Synthese daraus, Umsturz gegen die Gegenwart, Schaffung von Neuem, das auf Vorherigem aufbaut, ohne zu kopieren. Nur bleibt sie immer theoretisch, denn die, die erhalten, und jene, die umstürzen, sind notwendig immer verschiedene, weil es dafür verschieden geratene Charaktere braucht.

Politisch gemeint, wie man ihn sonst versteht, ist der Begriff hier nicht oder kaum. Hofmannsthal war 1918 mehr weggebrochen als seinen reichsdeutschen Freunden. Nicht nur war die alte siegesdeutsche Selbstgewissheit verloren und der Kaiser abhandengekommen. Der ganze große Bau der Donaumonarchie, der doch sein Staatsideal gewesen war, entschwand, zerfiel in seine Einzelvölker, die nun für sich ihres Weges gingen und sich der neuen Freiheit freuten. Auf Restauration, im politischen Sinn, konnte hier niemand hoffen.

Und auch der Adel schwand und mit ihm der feste literarische Grund. Gegenstand in Hofmannsthals Werk waren stets die Oberklassen gewesen, mal in der italienischen Renaissance, mal zur Zeit Maria Theresias, immer aus der Welt von Stand, „der edlen und gestrengen Herrn auf Lerchenau, kaiserlicher Majestät Kämmerer und Landrechts-Beisitzer in Unter-Österreich“. Heitere Lustspiele oder tiefsinnige Reflexionen, immer hatte er von hohen Herren erzählt, das Volk allenfalls zur Verzierung gedient.

Geistig sehr allein muss man ihn sich also vorstellen, den Hofmannsthal der zwanziger Jahre. In der neuen Welt hatte er seine Rolle suchen müssen und sie so recht nicht gefunden. Nach verlorenen Kriegen solle man Komödien schreiben, meinte er; doch eine Aneinanderreihung von Missverständnissen wie „Der Schwierige“, in dem irgendwie die Adelswelt doch fortbestand, wirkte so witzig eigentlich nicht, in der Prosaform sehr fern den Lustspielen der Vorkriegszeit und stets mit düsteren Erinnerungen versetzt.

Auch bei der Wendung zurück zum Märchen, die sich allgemein in den Zwanzigern zeigte als Reaktion auf die Kriegserlebnisse, in Oxford etwa bei den Inklings, auch dort tat Hofmannsthal kräftig mit. „Die Frau ohne Schatten“ gehört zu seinen schönsten Erzählungen. Daneben Trauerspiele wie „Der Turm“ um den polnischen König Sigismund und das tragische Ringen mit dem Sohn und Nachfolger. Es bleibt im Ganzen aber beim Blick zurück, rings von Grautönen umschattet und spürbar verunsichert.

 

Die Welt von gestern

Sehnsucht nach der guten alten Zeit

Nun; ein wenig von gestern war Hofmannsthal freilich immer schon gewesen. Einst als Wunderknabe der Wiener Moderne, der seltsam fertig schien, mit allen Stil- und Versformen zu spielen verstand und altklug hübsche Lebensweisheiten herzusagen wusste. „Wunder früher Vollendung“, wie Stefan Zweig noch in einem Nachruf feststellte. Kaum ein Werk eines Siebzehnjährigen wird man so reif finden wie „Gestern“ von 1891; zugleich so alt, wie sehr das Neue darin auch beschworen wird.

Hofmannsthal war, wie sein Freund Jakob Wassermann später schrieb, ein „Genie der Bindung“ in einer „Epoche der Auflösung“: ein lebender Anachronismus. Geprägt durch sein Herkommen, Produkt des habsburgischen Vielvölkerreichs mit seiner langen Geschichte. „Blut alter Rassen, italienisches, niederösterreich-bäurisches und jüdisches, mischte sich zu fast gleichen Teilen in ihm und verlieh seinem Wesen das Adelige, das Facettierte, die Spannweite, den Tiefgang. Es war ein Schleier um ihn, den man nicht lüften konnte.“

Ein Schleier bleibt auch um den unbestimmten Begriff der konservativen Revolution. Näher definiert, mit Leben erfüllt hat Hofmannsthal ihn nicht, und im Aufsatz steht er, zum Ende wie ein Bekenntnis, doch ein wenig neben dem Beschreibenden, den so scharfen, treffenden Zeichnungen um die Propheten und Romantiker, nur schwach dazu in Zusammenhang gebracht, mehr ein Sehnsuchtsgefühl als ein Weg, der gewiesen würde. Prophet sein, wie George, dieser Ehrgeiz fehlt.

Liest man die Rede heute wieder, wird man vor allem ein Zeitdokument in ihr sehen und in Hofmannsthal selbst einen jener verlorenen Sucher, der sein Ziel nicht mehr fand; ein Beispiel der Verwirrung und Zerklüftung, die im Deutschland der 1920er herrschte, im Geistesleben mehr noch als im politischen; und die deutsche Sprache doch auf höchsten Höhen hielt und strahlte in alle Richtungen über das Dunkel davor. „Grauenhaftes, das vergangen“, sagt bei Hofmannsthal einmal der Kaiser Porphyrogenitus, „gibt der Gegenwart ein eignes Beben, eine fremde Schönheit, und erhält den Glanz der Dinge wie durch eingeschluckte Schatten.“

 

Der Aufsatz

Hugo von Hofmannsthal: Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation. Rede, gehalten an der Ludwig-Maximilians-Universität München am 10. Januar 1927. Hier verwendeter Druck: S. Fischer Verlag, 1. Auflage, 1931 Berlin.

 

 


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