Gott für Heinrich, England und St. Georg

Nicht nur weltweiser Kosmopolit: William Shakespeare übte sich auch als patriotischer Kriegerbarde. Bis heute gern zitiert wird sein Heinrich V. – Geniales Drama oder Propagandastück? Beides; und auch wieder nicht.


ALLE Artikel im Netz auf aka-bklaetter.de lesen und auch das Archiv?

Jetzt kostenlos

Anmelden


Lang währt die englische Kriegsgeschichte, ehe sich für eine Weile die Pax Britannica segensreich über die Erde legte. Rosenkriege, Bürgerkriege, Revolution; und, immer wieder, Feldzüge gegen Frankreich, eine ganze Serie davon zusammengefasst unter dem Titel Hundertjähriger Krieg. Kriegsdramen und -filme hat es darum die Menge. Am berühmtesten geblieben und stetig nachgeahmt ist freilich Shakespeares Bearbeitung der letzteren Zeit, des vierzehnten, fünfzehnten Jahrhunderts; mit dem Kriegerkönig Heinrich dem Fünften als herausragendem Helden.

 

Auf morgen ist Sankt Krispian

Die Kernhandlung ist übersichtlich. Heinrich, junger König von England, erhebt Anspruch auch auf Frankreichs Thron. Zur Durchsetzung setzt er mit einem Heer über den Kanal, erobert die Hafenfestung Harfleur. Doch lange Märsche, Kälte und Krankheiten setzen seiner Truppe zu. Auf dem Rückzug nach Calais wird er von der überlegenen französischen Armee gestellt. Von ihrem tapferen König angetrieben, erringen die ausgemergelten Engländer bei Agincourt einen wundersamen Sieg. Endlich schließt man Frieden; Heinrich heiratet die Königstochter Katharine und wird zum französischen Thronfolger berufen. Sein Sohn wird beide Kronen erben. –

Im Zentrum der Geschichte, dritter und vierter Akt, stehen die Kämpfe in Frankreich. Shakespeare hat ein klassisches Kriegsdrama geschrieben und nimmt in den Motiven viel vorweg, das man in patriotischen Kriegsfilmen des 20. Jahrhunderts wiederfinden wird. Heinrich als Held der Geschichte erscheint zeitweise überlebensgroß, mutig, weise, ehrenhaft und gottesfürchtig; doch muss er dem Publikum auch nahegebracht werden, volksnah wirken, menschliche Schwächen und Selbstzweifel zeigen. Aus dem Vorgängerstück über Heinrich IV. hat er eine Entwicklungsgeschichte; war als Kronprinz eher  Tunichtgut und Saufkumpan des dicken Falstaff. Anders auf dem Thron. In Frankreich zeigt er sich als guter Vater seiner Soldaten; legendär die Szene, als er in der Nacht vor der Schlacht bei Agincourt verkleidet durch das englische Lager zieht, um von Mann zu Mann zu reden und die Stimmung seiner Truppe zu erfühlen. Deren Zweifel und Mutlosigkeit lassen ihn selbst schwer leiden; einsam und verlassen fällt er auf die Knie und fleht zu Gott. – Neben solchen menschlichen Szenen wirken dann seine Ansprachen um so stärker. Als siegreicher Eroberer vor Harfleur: „Noch einmal stürmt, noch einmal, lieben Freunde“. Ebenso als Führer des weit unterlegenen Heeres bei Agincourt mit der berühmten Rede zu St. Krispian. Die Minderzahl dreht er rhetorisch um: „Je kleinre Zahl, je größres Ehrenteil“; je kleiner die Truppe, desto tapferer die Gemeinschaft und ehrenvoller die Erinnerung an „Uns wen’ge, uns beglücktes Häuflein Brüder“; jeder einfache Soldat darf sich überlegen fühlen den Edelleuten daheim im sicheren England.

Die niederen und mittleren Ränge müssen auch vorkommen; Shakespeare erzählt die Geschichte auf mehreren Ebenen, stilistisch und personal. Auch wirkt das Pathos stärker, wenn es gelegentlich ironisch durchbrochen wird. Dafür sorgen die anderen Figuren. Pistol, Nym, Bardolph – Halunken und ebenfalls alte Kumpane von Sir John Falstaff. Und der walisische Hauptmann Fluellen, der das Publikum mit seinem Dialekt belustigt und dabei regelmäßig doziert über „Kriegsdisziplin“ und antike römische Feldherrn. (Parallel schrieb Shakespeare am Julius Cäsar.)

Gar zu negativ wirken im Kontrast die Franzosen. Ein Mordkomplott gegen Heinrich und die Abschlachtung der jungen Pagen im Kampf machen sie zum abstoßenden Feindbild. Hassenswert der kriegslustige Kronprinz, Waffennarr und doch ein Prahlhans. Gar zu arrogant und siegesgewiss die Feldherrn vor Agincourt mit dem Konnetabel an der Spitze. Neutral bis positiv immerhin König Karl VI. und Montjoy, der Herold. Und sympathisch natürlich Katharine, Heinrichs spätere Gattin, deren englisch-französisches Sprachgemisch wieder zum komödiantischen Teil gehört.

 

Viel Blut floß

Ein patriotisches Propagandastück also? Ja und nein. Shakespeare ist immer mehrdeutig; so auch hier. Die Schrecken des Krieges jedenfalls kommen ebenso vor. Heinrich ist kein gänzlich sauberer Held; der Stadt Harfleur droht er mit Brand und Vergewaltigung, falls sie sich nicht ergibt; bei Agincourt lässt er die französischen Gefangenen töten. Im Gespräch mit seinen  Soldaten kommt die große Rechnung vor, die dem König beim jüngsten Gericht gemacht werden wird, „wenn alle die Beine und Arme und Köpfe, die in einer Schlacht abgehauen sind, sich am Jüngsten Tage zusammenfügen, und schreien alle: ‚Wir starben da und da‘, einige fluchend, einige um einen Feldscher schreiend, einige über ihre Frauen, die sie arm zurückgelassen, einige über ihre unbezahlten Schulden, einige über ihre unerzognen Kinder“.

Auch an seinen Kriegsgründen kann man Zweifel anmelden. Immerhin, der König müht sich um Redlichkeit. Warnt seine Berater: „Darum gebt acht, wie Ihr Euch selbst verpfändet, wie Ihr des Krieges schlummernd Schwert erweckt; in Gottes Namen mahn ich Euch: gebt acht“. Der Erzbischof von Canterbury, der Heinrichs fragwürdigen Anspruch auf die französische Krone als unbestreitbar ausgibt, tut es aus eigenen Motiven: um den König durch Krieg abzulenken von der Enteignung von Kirchengütern, die in England droht. Kein bewusster Betrug also von Heinrichs Seite. Aber ob die Kriegsgründe objektiv stichhaltig sind, wirkt so eindeutig nicht. Und im fünften Akt schildert der Herzog von Burgund in seinem Friedensappell ausführlich die grausamen Verwüstungen, die der Krieg in Frankreich angerichtet hat.

Die Interpretation ist also nach beiden Seiten offen. Entsprechend groß die Bandbreite der Inszenierungen, die sich deutlich zeigt in den beiden bekanntesten Verfilmungen. Die von 1944 mit Laurence Olivier, im Krieg entstanden, von Churchill gefördert, ist ein patriotisches Heldenstück, auch wenn die Franzosen als Hauptfeind damals nicht mehr recht in die Zeit passen. Die 1989er, von und mit Kenneth Branagh, mit Derek Jacobi als Erzähler und Ian Holm als Fluellen, macht schon optisch einen ganz anderen Eindruck: in kalten Farben, düster und traurig, die Schlachten in Regen und Schlamm von blutigem Realismus. Und die vielleicht stärkste Szene ist eine neu eingefügte, in der Heinrich zum Klang von Non nobis Domine den erschlagenen Pagen über das Leichenfeld von Agincourt trägt.

 

Ein Reich zur Bühne

Streng historisch, trotz Tiefe und Ambivalenz wie stets bei Shakespeare, ist das Stück natürlich nicht. Schon König Heinrichs Biographie sah anders aus. Von einer wilden, versoffenen Jugendzeit wissen die Chroniken nichts; stattdessen von früher soldatischer Bewährung im Kampf gegen Aufständische und schwerer Verwundung. Das Mordkomplott gegen ihn entstand aus einer verfolgten religiösen Minderheit im Land, nicht durch französische Intrige. Die mögliche schottische Offensive gegen England, im Stück als Gefahr erwähnt, falls der König nach Frankreich zöge, unterblieb auch deshalb, weil der schottische Herrscher wie eine Geisel in England als Gefangener lebte. Und dass Kirchenmänner Heinrich in den Krieg gegen Frankreich trieben, um ihre eigenen Güter zu sichern, ist ebenfalls nicht bezeugt.

Der Krieg selber dauerte länger als im Stück; unvermeidbar, da man auf der Bühne verkürzen muss, wie der Erzähler sagt, „das Ereignis manches Jahrs zum Stundenglase“. Agincourt war noch nicht der alles entscheidende Sieg. Es bedurfte zweier weiterer Feldzüge, bis Heinrich 1420 im Frieden von Troyes sein Ziel erreichte, die französische Prinzessin heiratete und sich die Anwartschaft auf den Thron sicherte. Und schon 1422 starb er, 35jährig, noch vor dem geisteskranken Karl VI., im Feldzug gegen dessen in der Thronfolge übergangenen Sohn, der den Friedensvertrag nicht anerkennen wollte.

Auch die Schlacht von Agincourt selbst, Herz des Stücks, verlief wesentlich anders. Deutlich kleinere Heere, die englische Unterlegenheit lang nicht so groß. Und den Sieg bewirkten wohl weniger Heinrichs Motivations- und Feldherrnkunst als die Überlegenheit des englischen Langbogens – und Regen samt schlammigen Untergrunds, der die französischen Ritter steckenbleiben ließ wie vierhundert Jahre später Napoleons Kanonen bei Waterloo.

Die Unterschiede soll man Shakespeare nicht zum Vorwurf machen. Über das Wissen heutiger Historiker konnte er nicht verfügen, und das Drama muss ändern, kürzen, zuspitzen, um einen tauglichen Erzählbogen zu spannen. Der Zuschauer (und Leser) muss freilich wissen, dass er dort eine dramatische Adaption verfolgt und nicht „Geschichte“.

Dies alles gesagt, bleibt Heinrich V. ein großes Theater- und Lesevergnügen zu ernstem Thema, Vorbild für die Kriegsdramen und -filme seither und ein schier unerschöpflicher Zitatenschatz. Lektüre unbedingt empfohlen.

 

Das Werk

William Shakespeare: The life of King Henry the fifth. Uraufgeführt um 1600, erster offizieller Druck 1623. Deutsch A.W. Schlegel 1810.


...mehr Lesen in den akademischen Blättern oder ganze Ausgaben als PDF?


Jetzt hier kostenlos Anmelden