Gott ist tot. Es lebe Allah.

Die muslimische Minderheit in Europa nimmt an Zahl zu und fordert mit zunehmendem Selbstbewusstsein ihre Rechte ein. Dabei stößt sie auf den Widerstand der säkularen Mehrheit viel stärker als auf den der Christen. Die Frage vom Verhältnis von Kirche und Staat, von Religion und öffentlichem Leben wird neu gestellt. Darin liegt eine große Chance.


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Eigentlich schien die religionspolitische Frontlinie klar gezogen im christlichen oder nicht mehr ganz so christlichen Abendland. Auf der einen Seite die naturwissenschaftlich-rationalistisch geprägten Kinder der Aufklärung, religiös allenfalls latent, an festen Bindungen gerade in Glaubensfragen überhaupt nicht interessiert, die Kirchenskeptiker und -kritiker also, die in der jüngeren Generation und zumal in den Städten längst die Mehrheit stellen. Und auf der anderen Seite die (ehemals) großen Kirchen, die trotz schrumpfender Anhängerschaft verbissen die Reste kultureller Dominanz verteidigen, die ihnen geblieben sind: verkaufsfreie Sonntage, christliche Feiertage, Kruzifixe in Schulen, Vorrang der traditionellen Familie und Vorrang der christlichen Moral vor allen anderen in Fragen des Lebensschutzes oder der Humangenetik.

Nach dem konservativen Schwenk der katholischen Kirche unter Benedikt XVI. und dem zunehmenden Aufkommen eines missionarischen Atheismus mit Führern wie dem englischen Biologen Richard Dawkins schienen sich zwar einige Zwischenpositionen aufzulösen und die Diskussion sich vorübergehend zu radikalisieren, aber Aufs und Abs hatte diese alte Feindschaft immer schon wie jede gute Ehe; als Voltaire oder Darwin oder Nietzsche das Podium betraten, war es nicht anders. Mit einer Konstante allerdings: Die Aufklärer – oder jene, die sich als solche bezeichnen – sind seit langem schon auf der Siegerstraße; mögen schlagzeilengierige Publizisten auch alle Jahre wieder die Rückkehr der Religionen propagieren, für die Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften ging es seit langem, im Grunde seit Jahrhunderten nur in eine Richtung: rückwärts.

Und nun geht es plötzlich seitwärts, eine neue Front ist aufgemacht, seit die muslimische Minderheit, die es ja seit Jahrzehnten gibt, ihr Selbstbewusstsein und den Mut zum aufrechten Gang gefunden hat. Wo sie sich äußert, wo sie ihren Anteil am öffentlichen Raum reklamiert, stößt sie auf Widerstand. Die laizistische französische Republik duldet keine Burkas mehr auf den Straßen, und andere Länder wollen folgen; eine Schule im heidnischen Berlin weigert sich, einen Gebetsraum bereitzustellen; neue, repräsentative Moscheen verändern die Gesichter der Städte und rufen Protestbewegungen hervor – in der Schweiz gar mit dem Ergebnis eines Bauverbots für Minarette. Natürlich fließt hier manches zusammen, auch manches Ressentiment, weil die Muslime ja zumeist auch Zuwanderer und ihre Gebräuche den Einheimischen fremd sind. Im Ganzen gesehen sind es aber weniger die Xenophoben, sind es auch weniger die alten, schwächer werdenden christlichen Kulturen, die sich zum Widerstand formieren, sondern die jungen säkularen, die Religion zur Privatsache des einzelnen erklären, was auch in der Aufforderung mündet, die anderen doch bitte mit ihr in Frieden zu lassen. Bete, wer will – aber bitte schön zuhause, wo es niemand sieht. Öffentlich praktizierte, sichtbare Religiosität gilt als verdächtig.

Die spannende Frage ist nun, ob man diese Wiedereröffnung des religiösen Kampfplatzes für die westlichen Gesellschaften als Gefahr oder als Chance sehen will. Als Gefahr – weil sie den erreichten Grad an Säkularität vielleicht zurückdrehen wird; als Chance – weil sie die müde, abgekühlte Religiosität westlicher Gesellschaften revitalisieren und befruchten könnte. Das berühmte Diktum des Verfassungsrichters Böckenförde, wonach ein freiheitlich-demokratischer Staat von engagierten Bürgern und damit aus kulturellen Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht schaffen kann – wovon die Religionsgemeinschaften ein wichtiger Teil sind – lässt zumindest die Frage aufkommen, ob ein starker europäischer Islam nicht sehr viel mehr Hoffnung als Bedrohung für unsere posthistorischen Wohlstandsgesellschaften sein kann. Auch weil dadurch und in Abgrenzung dazu das langsam schwindende Bewusstsein der Mehrheit für die eigenen – christlichen – Wurzeln wieder geschärft werden könnte.

Naturgemäß werden solche Debatten den Religionen an sich nicht ganz gerecht, denn eine Religion strebt natürlich immer nach mehr als nach gesellschaftlicher Nützlichkeit. Ihre Maßstäbe sind andere, ihre Heilsbotschaft geht über das Diesseits hinaus, und ohne diese Botschaft, ohne die Offenbarung göttlicher Wahrheit können sie nicht sein. Mit dem Wort des Apostels Paulus (1. Korintherbrief 15,14): „Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist unsere Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich.“ Dieser Wahrheitsanspruch verträgt keine Reduktion darauf, dass das Erzählte eine kulturell wertvolle Legende sei oder sich daraus ethische Wertmaßstäbe ableiten ließen, die eine Gesellschaft braucht. Er verträgt auch keine Unterscheidung in verschiedene Wahrheiten – gleichsam eine der Historiker und eine der Gläubigen. Papst Benedikt hat das in seinem Jesus-Buch sehr deutlich gesagt: „Für den biblischen Glauben ist es wesentlich, dass er sich auf wirklich historisches Geschehen bezieht. Er erzählt nicht Geschichten als Symbole über geschichtliche Wahrheiten, sondern er gründet auf Geschichte, die sich auf dem Boden dieser Erde zugetragen hat. (…) Wenn wir diese Geschichte wegschieben, wird der christliche Glaube als solcher aufgehoben und in eine andere Religionsform umgeschmolzen.“

Wenn wir auf der Linie Böckenfördes diskutieren, diskutieren wir also am Kern der Religionen vorbei. Es ist so, aber es ist leider nicht zu ändern. In der Welt kann man über Religion nur entlang innerweltlicher Maßstäbe sprechen; alle Argumente bleiben notwendigerweise Argumente der zweiten Hand. Aber auch auf dieser Metaebene gehen viele der traditionellen Argumente erstaunlich deutlich ins Leere. Vielleicht fangen wir deshalb am besten mit dem an, was in dieser Diskussion nicht zählen kann.

Ethik ist kein Argument

Das klassische Argument der zweiten Hand und die wichtigste Betrachtung von Religion in einem positiven funktionalistischen Sinne betrifft das Feld der Moral. Religionen geben den Gläubigen Wertmaßstäbe und mehr oder weniger konkrete Verhaltensregeln vor, die in den gesellschaftlichen Wertekanon einfließen, so wie etwa die christlichen Zehn Gebote in das, was wir im Westen heute Grund- und Menschenrechte nennen. Umgekehrt gilt, so hat Dostojewski einmal pointiert behauptet: „Wenn Gott tot ist, ist alles erlaubt“ – verlieren die Werte, nach denen eine Gesellschaft lebt, ihre letztgültige Grundlage und werden relativ. Und darum brauche es, nicht der Heilsbotschaft wegen, sondern als Ordnungsfaktor auch weiterhin die Religion.

So jedenfalls geht dieses Argument, und durch die vielen Jahrhunderte kritischer Theologie hindurch, angefangen schon bei Augustinus und den Kirchenvätern, hat es relativ unangefochten überlebt – ganz einfach, weil das empirische Gegenbeispiel fehlte. Das ist nun anders. Die Länder des Westens sind seit Jahrzehnten schon nur noch nominell christlich, nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung ist noch wirklich praktizierend religiös, und wenn trotzdem nicht Chaos und Morden ausbrechen, so nicht, weil das Volk fürchtet, für jede Regelübertretung in die Hölle zu fahren. Nachprüfen können wir also. Und siehe da: Die Welt ist nicht untergegangen, im Gegenteil. Dass Gewalt, Gesetzlosigkeit und Verwahrlosung im Zuge der Säkularisierung zunehmen, ist Legende; die Ziffern sind überall im Sinken begriffen. Und Gewalt herrscht leider auch und vor allem dort vor, wo Menschen sich einerseits nahe sind und wo es andererseits Machthierarchien gibt. Und das gilt, wie wir bitter erfahren mussten, leider gerade in den Zentren christlicher Gesellschaftsmodelle: den Familien und den kirchlichen Internaten.

Natürlich gibt es Querverbindungen zwischen Religion und Moral, gerade im Westen. Manches, was wir heute typisch westlich-säkular nennen, Individualität, Menschenwürde, mag im christlichen Kulturkreis stärker ausgeprägt sein als anderswo und in der Vorstellung der Gottesebenbildlichkeit eine Wurzel haben; aber die säkularisierte Gesellschaft hat dafür auch gottfrei ein Wertefundament gefunden und bewahrt es sich. Sollte es auch so sein, dass wichtige Eckpfeiler unseres Wertesystems durch nachwirkende christliche Moraltraditionen geschaffen oder jedenfalls gestärkt wurden: Inzwischen tragen diese Pfeiler auch alleine, ohne religiösen Unterbau.

Moral entwickelt sich natürlich im Lauf der Zeit weiter; und gerade in den Grenzfragen, die durch die modernen Biowissenschaften aufgeworfen werden, spielen religiöse Argumente eine Rolle. Man kann daher, wie das beispielsweise Habermas in seinem mittlerweile berühmten Disput mit dem damaligen Kardinal Ratzinger sehr pfiffig tat, argumentieren, die religiösen Stimmen seien für den gesellschaftlichen Diskurs wichtig, ohne sie gehe Vielfalt verloren, und auch die Säkularen hätten daher am Erhalt dieser Stimmen ein Interesse. Aber es gibt, wie Schnädelbach darauf ganz richtig gesagt hat, sehr viele wertvolle Stimmen im Chor der Diskutanten, und es besteht keine Veranlassung, die religiösen darunter zu bevorzugen oder gar gleichsam unter Artenschutz zu stellen.

Naturwissenschaft ist kein Argument

Artenschutz gibt es nun freilich auch für die andere Seite nicht, für die Rationalisten, von den modernen Naturwissenschaften eingenommenen, vor allem, wenn sie vom hohen Katheder der Wissenschaft herab weniger dozieren, sondern auf eigene Weise predigen, nur mit wissenschaftlichen Formeln verbrämt. Das gilt, beispielsweise, für einen altvorderen Philosophen wie Ludwig Feuerbach, der in einem verqueren frühen psychotherapeutischen Ansatz der Religion vorrechnete, was für neurotische Verhaltensweisen sie doch hervorbringe, so wie es für einen modernen Wissenschaftler wie den Evolutionsbiologen Dawkins gilt, der Religionen recht allgemein als Gotteswahn abqualifiziert, weitgehend allerdings mit Argumenten, die im neunzehnten Jahrhundert stehengeblieben sind.

Mit Feuerbach wollen wir uns hier nicht lange aufhalten; seinen religionskritischen „Sahnetortenbeweis“ hat der katholische Theologe und Psychologe Manfred Lütz so wunderschön zerlegt, dass wir uns aufs Zitieren beschränken. „Es könnte doch sein“, parodiert Lütz, „dass es Gott nicht gibt und dass dann all die Vorstellungen von Gott aus unseren gestaltgewordenen Wünschen und Sehnsüchten bestehen. Es könnte doch sein, dass es Gott nicht gibt und dass all unsere Hoffnung auf Erlösung sich in einem liebenden Gott ein Gebilde geschaffen hat, das uns das Leben erträglicher macht. Es könnte doch sein, dass es Gott nicht gibt und dass alles Unerklärliche in dieser Welt in Gott eine phantasierte Lösung findet. Es könnte doch sein, dass es Gott nicht gibt und dass wir zum Schutz vor allen Ängsten, vor Blitz, Donner und Hagelschlag und vor allem vor dem Tod, uns in der Idee Gottes eine Beruhigung geschaffen haben. Könnte doch sein, oder? Doch das Problem der Feuerbachschen Argumentation ist: Feuerbach begründet damit gar nicht den Atheismus; er setzt ihn einfach voraus und versucht bloß psychologisch zu erklären, warum es Menschen geben kann, die sich nicht zum Atheismus bekennen. Dass es psychologische Gründe geben kann, einen Gegenstand zu wünschen, sagt freilich aus logischen Gründen gar nichts darüber aus, ob es den Gegenstand in Wahrheit gibt oder nicht.“ Und, mag man hinzusetzen, auch nichts darüber, ob dieses Wünschen oder Einbilden denn per se nützlich oder schädlich wäre.

Dawkins ist da interessanter, und zwar insofern, als er seine insgesamt recht affektive und teils vulgäre Religionskritik an manchen Stellen naturwissenschaftlich fundiert und die Ursprünge des religiösen Phänomens an sich demaskiert. Im wesentlichen funktioniert das auf zwei Schienen. Einerseits lassen sich Reaktionen auf tatsächlich oder vermeintlich religiöse Erfahrungen physiologisch messen wie bei anderen Reizen auch; andererseits hat Religiosität nicht nur eine Kulturgeschichte, sondern auch eine biologische Geschichte.

Beide Schienen führen allerdings ins Leere; wiederum weniger auf die eigentliche Gottesfrage bezogen, die letztgültig nicht beantwortet werden kann, sondern auf die durchaus diesseitige nach Schaden oder Nutzen von Religion. Gewiss finden sich Wissenschaftler, die meinen, Religiosität physiologisch verorten und gar durch Stimulation bestimmter Hirnregionen „spirituelle“ Erfahrungen künstlich erzeugen zu können. Und es mag ebenso sein, dass man das vermeintliche Bedürfnis der Menschen nach Religion neurologisch und evolutionsbiologisch auf eine recht banale Zweckmäßigkeit zurückführen oder ihm sogar eine gleichsam therapeutische Funktion – wie „brainsoothing“ – zuweisen kann.

Beides gilt aber für weite Teile des Sozialverhaltens ebenso, für Gruppensolidarität, Familienbande, Altruismus jeder Art. Alle menschlichen Verhaltensweisen, einschließlich all dessen, was wir heute an Werten hochhalten, lassen sich in physiologischen Reaktionen messen und eventuell manipulieren; alle haben eine Entwicklungsgeschichte und unterlagen einer Evolution. Derart demaskiert, werden sie aber für uns nicht wertlos. Ein Gemälde bleibt schön, auch wenn man die stoffliche Zusammensetzung der Farben versteht und weiß, mit welchen Pinselstrichen es gemalt wurde. Kurz gesagt: Selbst wenn alle Religion Wahnvorstellung oder neurologische Störung oder evolutionäres Überbleibsel wäre – darüber, ob sie uns heute nützt oder schadet, sagt das genau nichts aus.

Geschichte ist kein Argument

Um auf das zu kommen, was heute aktuell ist, muss man freilich noch allerlei historisches Gestein wegbrechen, um zu der Sedimentschicht zu gelangen, die am Ende zählt. Denn die Diskussion wird überlagert von Jahrtausenden an geschichtlichem Ballast, der mäßig relevant ist. Natürlich können sich Religionsfreunde und -kritiker in langen Debatten die Verdienste und Verbrechen der Religionen quer durch alle Kulturen vorrechnen, bis ihnen die Köpfe qualmen. Aber gesagt ist damit wenig. Denn das allermeiste davon ist unter Umständen geschehen, die verloren sind und nicht wiederkehren werden.

Man kann natürlich, als Verfechter starker Religionen, argumentieren, dass keine nennenswerte Hochkultur der Geschichte ohne eine religiös-kultische Komponente ausgekommen sei, dass es also historisch evident ein notwendiges menschliches Bedürfnis nach Religion gebe. Aber man übersieht dabei, dass die moderne Welt mit keiner früheren Hochkultur vergleichbar ist. Das Wissen über die Welt, die technischen Fähigkeiten zur Beherrschung der Natur, die Bevölkerungsdichte und Urbanität, die globale Mobilität, all das bewegt sich heute in den entwickelten Ländern in ganz anderen Dimensionen als jemals zuvor in der Weltgeschichte.

Ebenso kann man, als Religionskritiker, vor allem Christentum und Islam vorrechnen, dass sie in ihrer langen Geschichte nicht unschuldig geblieben sind, dass sie mit Macht und Geld paktierten, dass sie ihre Hände mit Blut besudelten, dass sie manchen Fortschritt in der Welt lange verzögert haben. Und ebenso übersieht man hier etwas: nämlich dass weder das gesellschaftliche Machtgefüge, in dem das geschah, mit all seinen Zwängen auch nur entfernt mit dem heutigen vergleichbar ist, noch die Religionen in ihrer inneren Ausrichtung, im Wechselspiel mit Aufklärung und Wissenschaft, die gleichen geblieben sind wie früher; und auch ein europäisierter Islam wäre schwerlich vergleichbar mit dem, was sich zwischen Rabat und Jakarta fand und findet.

Kurz: Die Analogien trügen, die alten geschichtlichen Erfahrungen taugen für die Weltgesellschaft des 21. Jahrhunderts nicht mehr, ebenso wenig, wie alte Feindschaften ewig fortbestehen müssen.

Kultur ist ein Argument

Auch die Weltgesellschaft des 21. Jahrhunderts besteht freilich immer noch aus Menschen, die soziale Gemeinschaften bilden und die Herausforderungen und Grenzen ihres Lebens bewältigen müssen. Auch unsere Weltgesellschaft steht in der Kontinuität menschlicher Kulturgeschichte. Und hier beginnt, nachdem wir den Ballast abgeworfen haben, tatsächlich die Rolle, die Religionen auch heute spielen können (und sollten). Nicht im Sinne einer statischen Kulturauffassung, die besagt, das Abendland war einmal christlich und muss immer christlich bleiben, weil es sonst seine Identität verliert und ohne diese Identität nicht sein kann. Sondern im Sinne ganz pragmatischer Alltagsbedürfnisse.

Eines dieser Bedürfnisse ist das Bedürfnis nach Mythen. Jede Kultur hat es. Der Kulturphilosoph Friedrich Nietzsche hat das, bevor er zum radikalen Religionskritiker wurde, sehr weise festgestellt: „Ohne Mythus aber geht jede Kultur ihrer gesunden schöpferischen Kraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schließt eine ganze Kulturbewegung zur Einheit ab.“ Kulturen ohne Mythen werden unausgeglichen, profan und materialistisch. Das gilt zumal für die westlichen Kulturen und besonders für Deutschland, dem nicht nur die Religion, sondern auch die ideologischen Ersatzmythen immer mehr abhanden kommen. Der Politologe Herfried Münkler hat das vor einiger Zeit in „Die Deutschen und ihre Mythen“ sehr schön durchdekliniert: Siegfried-Mythos, Arminius, Barbarossa, Preußenmythos – alle zweifelhaft geworden nach den Katastrophen, die der Nationalismus im 20. Jahrhundert hervorrief. Auch die Säulenheiligen der Sozialisten sind längst in die Hölle gestürzt. Und nun, wie der Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel („Exit“) diagnostiziert, droht mit einer nachhaltig stagnierenden Wirtschaft auch der in den 50ern geborene Wachstumsmythos abhanden  zu kommen.

Kulturen, wenn sie nicht zerfasern wollen, brauchen aber Mythen. Dass hier immer noch, auch in der modernen Welt eine Nachfrage besteht, findet man kurioserweise an einer Stelle bestätigt, wo man es vielleicht nicht vermutet: Auf dem Buchmarkt. Als vor einigen Jahren ein deutscher Fernsehsender einmal wieder „Unsere Besten“ kürte und sich dabei mit der Kategorie Buch befasste, da wählten die Deutschen „Der Herr der Ringe“ vor der Bibel als ihr liebstes Buch. Tolkiens episches Werk ist nun nicht nur der Klassiker der Fantasy-Literatur, sondern der ambitionierte Versuch, einen neuen – in diesem Fall: altenglischen – Mythos zu stiften. Wie man an der Resonanz ablesen kann, nicht ohne Erfolg: Nicht wenige im Abendland dürften die fiktive Landkarte Mittelerdes, von Hobbingen bis Minas Tirith, von Isengart bis Barad-dûr, inzwischen besser kennen als die heiligen Stätten der Christenheit.

Es ist natürlich dennoch ein schlechter Ersatz, so wie auch mythisch aufgeladene Ideologien immer nur ein schlechter Ersatz für Religionen sind, die über Jahrtausende in Wechselwirkung mit der Alltagskultur standen und natürlich in sie hineingewachsen sind. Das gilt nicht nur für die Architektur – kaum etwas an der europäischen Kultur ist reicher und eindrucksvoller als ihre Kirchenbauten –, es gilt auch für die große Musik; man braucht nur an Bach zu denken. Und es gilt auch für die Sprache: Mythen inspirieren Erzählung und Dichtung, sie formen Sprachbilder. Das gilt für die biblischen Geschichten, es gilt in den katholischen Gegenden für die Heiligengeschichten und in den protestantischen für die Reformationsgeschichte um Luther, die in Preußen-Deutschland zeitweise Nationalmythos wurde. Wie viel reale Geschichte und wie viel Mythos jeweils in den Erzählungen steckt, ist dabei gar nicht entscheidend. Sie verlieren aber ihre inspirierende Kraft, wenn man ihre religiöse Sprache nicht mehr versteht.

Rationalismus und Naturwissenschaft haben demgegenüber wenig anzubieten. Auch sie haben natürlich ihre Märtyrer und Säulenheiligen: Galilei, Giordano Bruno, Darwin. Aber auch das ist ein schlechter Ersatz, weil diese Mythen negativistisch sind, gegen ein altes, geschlossenes Weltbild gerichtet, mächtig nur so lange, wie der Feind mächtig ist. Verlieren die Religionen ihre Kraft, so auch die Mythen des – durchaus heroischen – antireligiösen Befreiungskampfes der Wissenschaften.

Überhaupt ist Skepsis angebracht gegenüber gar zu verqueren Ersatzkonstruktionen; Religion und Mythos sind ihrem Wesen nach umkompliziert. Herbert Schnädelbach hat die bekannte Formel vom „frommen Atheisten“ geprägt – also von jemandem, der selbst nicht glaubt, aber sich dennoch lange und intensiv mit Religion beschäftigt hat, sich nach reiflicher Überlegung dagegen entschied, religiöse Menschen aber dennoch schätzt und respektiert. Gewiss, solche Menschen gibt es; Enoch zu Guttenberg, Dirigent und Vater des derzeitigen Verteidigungsministers, ist ein relativ bekanntes Beispiel. Aber es sind Ausnahmen. Die Mehrzahl der Nichtgläubigen findet ihre Überzeugung nicht nach tiefgehender Reflexion, sondern affektiv und durch mangelnde Beschäftigung mit der Gegenseite, so wie es in Zeiten der allgemeinen Volksfrömmigkeit umgekehrt nicht anders war. Die menschliche Natur ist und bleibt so.

Es ist freilich nicht nur die relativ abstrakte kulturstiftende Wirkung von Mythen, die Religionen nach wie vor nicht überflüssig macht. Religionen sind vor allem eine Form der Verarbeitung ungeheurer, anders nicht bewältigbarer Erfahrungen. In der modernen Welt, die weniger als früher von Schicksalsschlägen – etwa in Form schlechter Ernten – ereilt wird als ältere Zeiten, hat dieses Bedürfnis nachgelassen, aber verschwunden ist es nicht. Denn für alle Menschen gleich bleibt die elementare Erfahrung des Todes. Er ist nicht aus der Welt zu bannen, darin unterscheiden wir uns nicht von älteren Kulturen. Die säkulare Gesellschaft reagiert darauf auf relativ ungesunde Weise, indem sie Krankheit und Tod an den Rand und aus ihrem Bewusstsein verdrängt, wie man ein Trauma ins Unterbewusstsein verdrängt. Hin und wieder aber bricht es hervor, in Momenten der kollektiven, öffentlichen Todeserfahrung. Und dann ist die natürliche Reaktion die Rückkehr zu den alten – in unserem Fall christlichen – Formen. Es ist so bei den Gefallenenbegräbnissen, die es in Deutschland nun wieder gibt; es war so beim aufwühlenden Tod des jungen Fußballtorwarts Robert Enke im letzten Jahr und beim tragischen Tod vieler junger Menschen auf der Duisburger Loveparade in diesem; und es wird auch in künftigen Fällen wieder so sein. Der natürliche Versammlungsort für die Trauernden sind die Kirchen, und die natürliche Verarbeitungsform ist der in Jahrhunderten zivilisatorischer Prozesse entwickelte Trauergottesdienst.

Um dieses und ähnliche Kulturgüter zu erhalten, muss die säkulare Mehrheit nicht wieder streng gläubig und zu fleißigen Kirchgängern werden. Aber sie sollte gedanklich und sprachlich andocken können an die alten Kulturformen. Deshalb bleibt staatlicher Religionsunterricht notwendig, und deshalb bleibt auch für Nichtgläubige eine zumindest rudimentäre Kenntnis der christlichen Traditionen und Riten geboten; alles andere ist kein Zeichen von Aufklärung, sondern von Ignoranz und mangelnder Bildung.

Respekt vor der eigenen gewachsenen Kultur und dem, was an religiösen Bestandteilen in sie hineindiffundiert ist: das können uns die gläubigen Muslime mit ihrem Beispiel vielleicht wieder lehren. Insofern ist der Umgang mit der neuen Vielfalt eine Chance und keine Bedrohung. Es ist unsinnig, zu argumentieren, weil die Gesellschaft religiös pluralistischer werde, die Dominanz der Christen schwinde, müssten christliche und überhaupt religiöse Symbole aus dem öffentlichen Raum verdrängt werden, auf dass auch kein Nicht- oder Andersgläubiger sich belästigt fühle. Toleranz sieht anders aus. Es wird sich auch im öffentlichen Raum ein angemessener Platz für die Muslime – und, abgestuft, auch für Juden, Buddhisten und andere Glaubensrichtungen – finden lassen. Die Idee eines muslimischen Feiertages wurde schon diskutiert. Warum eigentlich nicht? Der deutsche Feiertagskalender ist föderal, zum Teil sogar lokal; wo die Muslime einen signifikanten Teil der Bevölkerung stellen, soll man ihnen ihren Platz gewähren. Auch für offizielle Anlässe mit religiöser Komponente, wie eben Trauerfeiern, werden sich in Fortentwicklung dessen, was man Ökumene nennt, kreative, interreligiöse Formen finden lassen, die jedem gerecht werden, ohne in beliebigen Synkretismus zu verwischen.

Deutschland ist von seiner Verfassung her kein laizistisches Land, es hat auch keine laizistische Tradition. Verfassungsrichter Udo Di Fabio spricht, als Gegenentwurf zum Laizismus, gerne von einer „wohlwollenden Neutralität“ des Staates gegenüber den Religionen, weil der Staat – aus den genannten Gründen – an lebendigen Religionsgemeinschaften ein Interesse hat. Diese wohlwollende Neutralität lässt sich problemlos von den christlichen Konfessionen auf die Muslime übertragen. Und, das zeigen die Schwierigkeiten, mit denen die Franzosen und andere heute konfrontiert sind: Sie ist das bessere Konzept.


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