Grau in Grau

Immer wieder meinen wir Menschen, das Böse überwinden oder wegdefinieren zu können. Aber das Bemühen um die von allem Übel befreite Welt mündet regelmäßig in die größten Grausamkeiten. Wir müssen lernen, mit dem Bösen richtig zu leben.


ALLE Artikel im Netz auf aka-bklaetter.de lesen und auch das Archiv?

Jetzt kostenlos

Anmelden


unterwelt

Als Papst Benedikt XVI. im Frühherbst 2011 Deutschland besuchte, hielt er viele Predigten und gelehrte Ansprachen, die lohnen, noch einmal nachgelesen zu werden. Eine der bemerkenswertesten war jene im Augustinerkloster zu Erfurt, wo einst Luther Theologie studierte hatte und wo der Heilige Vater nun mit den Würdenträgern der deutschen Protestanten zusammenkam und mahnte, wie aktuell und zugleich unbequem des Reformators Sünden- und Gnadenlehre heute noch sei. „Die meisten Menschen“, führte der Pontifex weiland aus, „auch Christen, setzen doch heute voraus, daß Gott sich für unsere Sünden und Tugenden letztlich nicht interessiert. Er“ – der Herr und Schöpfer – „weiß ja, daß wir alle nur Fleisch sind. Und sofern man überhaupt an ein Jenseits und ein Gericht Gottes glaubt, setzen wir doch praktisch fast alle voraus, daß Gott großzügig sein muß und schließlich mit seiner Barmherzigkeit schon über unsere kleinen Fehler hinwegschauen wird. Die Frage bedrängt uns nicht mehr.“ „Aber“, fragt er weiter, „sind sie eigentlich so klein, unsere Fehler? Wird nicht die Welt verwüstet durch die Korruption der Großen, aber auch der Kleinen, die nur an ihren eigenen Vorteil denken? Wird sie“ – nun folgt eine Phänomenologie des Bösen – „nicht verwüstet durch die Macht der Drogen, die von der Gier nach Leben und nach Geld einerseits, von der Genußsucht andererseits der ihr hingegebenen Menschen lebt? Wird sie nicht bedroht durch die wachsende Bereitschaft zur Gewalt, die sich nicht selten religiös verkleidet? Könnten Hunger und Armut Teile der Welt so verwüsten, wenn in uns die Liebe zu Gott und von ihm her die Liebe zum Nächsten, zu seinen Geschöpfen, den Menschen, lebendiger wäre? Und so könnte man fortfahren. Nein, das Böse ist keine Kleinigkeit.“

Die Säkularisierung des Teufels

eine Kleinigkeit, gewiss. Freilich mag man Einlassungen des Papstes mit dem Hinweis abtun, dass es ganz natürlich sei, wenn er sich beklage, dass seine, also die christliche Vorstellung von Gut und Böse, von Teufel und Hölle die Menschen nicht mehr beherrsche; ob sich das aber gut oder schlecht für die Menschen auswirke, zeige sich im eigennützigen Urteil eines Kirchenfürsten noch nicht. Tatsächlich, darin allein noch nicht. Interessanterweise feiert das Böse aber auch außerhalb der Kirchenmauern seit rund dreißig Jahren ein erstaunliches Comeback. Die weltpolitische Rhetorik ist beherrscht von Metaphern, die an eine Teufelsaustreibung erinnern. Das Reich des Bösen war die Sowjetunion für einen amerikanischen Präsidenten, ein Kreuzzug gegen das Böse die Feldzüge im Nahen und Mittleren Osten für einen anderen; umgekehrt ist Amerika für seine Feinde die Verkörperung des Leibhaftigen: Zwischen der Wortwahl iranischer Mullahs und amerikakritischer europäischer Intellektueller gibt es nur graduelle Unterschiede. Und auch im begrenzten Raum der Innenpolitik finden wir die klare Einteilung in Freund und Feind, Engel und Teufel. Der französische Historiker Gerald Messadié führt es in seiner Universalgeschichte des Bösen beispielhaft aus.

„Unsere Zeitgenossen“, schreibt er, „sind zum größten Teil damit beschäftigt, die Werkzeuge des Bösen und deren Obermeister zu ermitteln, zu identifizieren, zu benennen, zu klassifizieren und zu lokalisieren. Kein Tag vergeht, ohne dass nicht irgend jemand proklamierte, wer oder was böse ist“ – sehr viel nämlich: – „Krethi und Plethi, außerdem noch das Auto, das Fernsehen, die Rockmusik, die Arbeitslosigkeit, AIDS, urbane Überlastung, Drogen, Umweltverschmutzung, die Sexualität, die Asylbewerber, die Araber, die Juden, der KGB, die CIA, Le Pen, Bush, Chirac, Pinochet, Margaret Thatcher, Giscard, Pol Pot, das birmanische Regime, der ‚Faschismus’, der Kapitalismus, der Lärm, die Zigaretten, der Krebs, die Atomkraftwerke – habe ich etwas ausgelassen? Jeder ist des anderen Teufel.“

Wie das Böse in die Welt kam

Das Böse ist also nicht verschwunden, sondern im Gegenteil, wenn man die verschiedenen Zuschreibungen zusammenzählt, nachgerade allgegenwärtig. Den Glauben an den Teufel mögen die meisten mittlerweile hinter sich gelassen haben; weniger verteufelt wird darum jedoch nicht. Trotz zunehmender Verweltlichung, das dichotome Bild von Gut und Böse aus der vorsäkularen Zeit prägt noch immer unseren Blick auf die Welt.

Ganz selbstverständlich ist das nicht, denn diese Zweiteilung der Welt ist kein universelles Prinzip, sie ist, wenn nicht eine christliche, so doch eine monotheistische Spezialität. Kaum eines der alten Naturvölker, deren Spuren man in Afrika, in Nordamerika oder im Pazifik noch findet, kannte einen leibhaftigen Teufel. Übelwollende Naturgeister, gewiss; religiöse Kulte, deren Nichtbeachtung böse Folgen haben konnte, natürlich; aber eine Verkörperung des absolut Diabolischen und eine scharfe Teilung der Welt in Gut und Böse: das nicht.

Auch die alten Griechen und Römer kannten es nicht. Zwar gab es auch bei ihnen einen Mythos, wie allerlei böse Dinge ursprünglich in die Welt kamen; die Eva, die vom verbotenen Apfel aß – in diesem Fall: die Büchse öffnete –, heißt Pandora. (Ewig sündhaft ist das Weib.) Aber die griechischen und römischen Götter sind keine Verkörperungen des absolut Guten, sie sind moralisch indifferente, übermenschliche, aber doch menschenähnliche Mischwesen: Sie lügen, betrügen, stehlen, morden immerfort; der Olymp ist Sitz einer wahren Schurkenbande und gewiss kein Himmelreich. Und folglich gibt es auch kein absolut Böses, keinen Teufel und auch keine der späteren christlichen Vorstellung ähnliche Hölle.

In manchen polytheistischen Religionen kann man wohl Gottheiten ausmachen, die gewisse Elemente der späteren Teufelsvorstellung vorwegnehmen. Der ägyptische Totengott Seth ist hier ein möglicher Kandidat, oder im fernen Osten Mára der Zerstörer, der Buddha auf dem Pfad der Erleuchtung versucht wie im Neuen Testament Satan den Heiland in der Wüste. Aber auch diese Götter haben ihre sinnvolle Funktion innerhalb der Welt, sind nicht nur böse, sind nicht Herren der ewigen Verdammnis.

Es gilt als weitgehend gesichert, dass der trennscharfe Gut-Böse-Dualismus erst im alten Persien rund sechshundert Jahre vor unserer Zeitrechnung ihren Anfang nahm, mit den Reformen des Gelehrten Zarathustra, der gleichsam zum Taufpaten des Teufels wurde. Noch ein wenig verdeckt durch ein formal fortbestehendes Vielgöttersystem entstand hier erstmals die Einteilung in einen absolut guten und einen absolut bösen Haupt-Gott: Ahura Mazda heißt der eine, Angra Mainyu der andere. Aber von dort ist es noch immer ein langer Weg bis zur europäischen Dichotomie des Mittelalters. Das antike Judentum kannte keine Hölle und kein Jüngstes Gericht; noch der Gott des Alten Testaments ist eine sehr zwiespältige Erscheinung, zürnt und vernichtet und bedient sich mehr des Satans, der einige wenige Auftritte hat, zur Erfüllung seiner Zwecke, als dass er ihn bekämpft; und noch lange Jahrhunderte sollten die jüdischen und christlichen Theologen über die Frage disputieren, ob der Teufel recht eigentlich der Feind Gottes sei oder nicht vielmehr sein Werkzeug und folglich ebenfalls am Ende der Zeiten erlöst werden könne.

Und wenn die Welt voll Teufel wär’

Schließlich aber, nach einer Unzahl Konzile, Glaubenskämpfe, Häretikerverbrennungen, setzte das Bild vom einen, absolut bösen Herrn der Hölle sich durch, und dieses Bild beherrschte das christliche Europa und später Amerika für viele Jahrhunderte, brannte sich ein ins kollektive Gedächtnis. Für den Teufel galt kein Bilderverbot, er wurde verewigt in zahllosen Wand- und Deckengemälden in den Kirchen und Illustrationen in den Büchern. Noch heute ist die typische Physiognomie des Teufels und seiner zahlreichen Diener Teil der mentalen Einrichtung nicht nur der Christen: Hörner, Schwanz und Pferdefuß; noch heute haben die Namen der alten Hexenkräuter einen besonderen, unheimlichen Klang: Alraune, Stechapfel und Bilsenkraut.

In dem Maße, in dem man sich eine irdische Vorstellung vom großen Unterirdischen machte, ihm bestimmte körperliche Eigenschaften zuwies, ergab sich natürlich eine Rückwirkung auf die Menschen selbst. Der Teufel, sofern er sich nicht listig als schöner Verführer zeigte, hatte einen hässlichen, hybrid tierisch-menschlichen Körper; Behinderungen, Verkrüppelungen galten folglich, wenn nicht geradezu als Zeichen, dass man von Dämonen besessen war, so doch als göttliche Strafe und waren mehr als nur ein physischer Makel. Körperliche Gebrechen schlossen vom Priesteramt aus, und ein großes Unglück bedeutete es für die herrschenden Familien, wenn etwa ein künftiger Fürst mit einer sichtbaren Missbildung geboren wurde.

Als die Wissenschaften allmählich das Laufen lernten, waren sie von diesen überlieferten Vorstellungen noch lange Zeit beherrscht und brauchten Jahrhunderte, um sich zu emanzipieren. Die frühe Kriminologie etwa, die sich auf die Suche nach körperlichen Ursachen für Verbrechen begab, war noch völlig durchdrungen von der christlichen Mystik und vermischte ständig Physiologie und Ästhetik. Der Zürcher Physiognomiker Johann Caspar Lavater, der dadurch berühmt wurde, dass er anhand von Schattenbildern die Neigung von Menschen zu Verbrechen beurteilte, verstieg sich zu der Aussage: „Je moralisch besser; desto schöner. Je moralisch schlimmer; desto hässlicher.“

Was den Göttinger Physiker Georg Christoph Lichtenberg, einen Gegner dieser neuen Lehre, dazu veranlasste, düster vor ihren Folgen zu warnen: „Wenn die Physiognomik das wird, was Lavater von ihr erwartet, so wird man die Kinder aufhängen ehe sie die Taten getan haben, die den Galgen verdienen, es wird also eine neue Art von Firmelung jedes Jahr vorgenommen werden. Ein physiognomisches Autodafé.“

Das Böse und die Freiheit

Hier sind wir nun an einem interessanten Punkt angelangt. Lichtenbergs Warnung klingt heute nicht mehr so abstrus wie weiland 1777. Denn die Wissenschaft hat, nach noch manch weiteren Kuriositäten wie der Gallschen Schädelkunde und Lombrosos Atavismuslehre, im letzten Jahrhundert große Fortschritte gemacht bei der körperlichen Lokalisierung des Bösen. Das Bild der Aufklärung vom freien, selbstbestimmten Menschen ist weithin passé und dem Bild eines neurologisch determinierten Wesens gewichen, dessen Neigung zu gesellschaftlich als böse definierten Handlungen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit prognostiziert werden kann. Zwar, vom Aufhängen spricht niemand. Aber Forscher, die dafür plädieren, Menschen mit einer physiologisch bedingt erhöhten Kriminalitätsneigung präventiv in Behandlung zu nehmen, finden sich bereits.

Zu den Befunden der Neurologen, dass sich das Böse körperlich in Individuen verorten lässt und damit in ihnen angelegt ist (der sog. Dispositions-Ansatz), steht scheinbar im Widerspruch, dass gleichzeitig der sogenannte situationistische Ansatz, nach dem das Handeln stark von der sozialen Umgebung und aktuellen Lage der Person, eben der Situation abhängt, gleichfalls sich wachsender Beliebtheit erfreut. Aber der Widerspruch ist nur einer im ersten Augenschein.

Viele Untersuchungen, von denen Zimbardos 1971er Stanford-Experiment, bei dem zufällig ausgewählte Personen Gefängniswärter und Gefangene simulierten und die Wärter schon nach wenigen Tagen zu Folterknechten mutierten, wohl das berühmteste ist, zeigen, dass je nach Situation sehr viele oder fast alle Menschen dazu gebracht werden können, Böses zu tun; je anonymer die Situation ist, je eher man die moralische Verantwortung an andere delegieren kann, je geschickter man schrittweise vom Normalen an das Böse herangeführt wird, desto leichter.

Die Wissenschaft bestätigt hier im Experiment zwei Erfahrungen, die sich historisch vielfach gezeigt haben: Erstens die von der Banalität des Bösen, die vereinfacht gesagt beinhaltet, dass es keine Sadisten und geborenen Verbrecher braucht, um Foltergefängnisse oder Konzentrationslager zu betreiben, sondern ganz normale, unscheinbare Alltagsmenschen in der geeigneten Umgebung zu Monstren werden können und es mit statistischer Zuverlässigkeit werden. Zweitens die alte Lehre, dass das Verbrechen der Zwilling der Not ist oder, anders gesagt, die hohe Moral ein Luxus der Wohlhabenden. So wie Büchner seinen Woyzeck sagen lässt, als ein Offizier ihn über die Tugend belehren will: „Ja Herr Hauptmann, die Tugend! Ich hab’s noch nicht so aus. Sehn Sie, wir gemeine Leut, das hat keine Tugend, es kommt einem nur so die Natur, aber wenn ich ein Herr wär und hätt ein Hut und eine Uhr und eine anglaise und könnt vornehm reden, ich wollt schon tugendhaft sein. Es muß was Schöns sein um die Tugend, Herr Hauptmann. Aber ich bin ein armer Kerl.“ Hinter alldem steht das Versprechen: Haben wir erst einmal die Not überwunden und das Elend und die Unwissenheit, dann wird auch das Böse vom Angesicht der Erde verschwinden.

Der Widerspruch zwischen Dispositions- und Situations-Ansatz ist, wie erwähnt, nur scheinbar, beide Effekte wirken zusammen. Dass in bestimmten Situationen viele oder fast alle Menschen zu bösem Verhalten neigen, heißt ja nicht, dass es für den Normalfall nicht unterschiedliche Verhaltensmuster geben kann. Gemeinsam ist beiden Ansätzen aber eines: Sie schränken die dem Menschen zugewiesene Entscheidungsfreiheit stark ein. Er ist wahlweise Sklave seiner Hirnchemie oder Sklave seiner sozialen Umgebung. Frei ist er nicht mehr.

Aber gewisse Freiheitsgrade scheinen doch zu bleiben, wie man an einem recht aktuellen Beispiel beobachten kann. Die 2000er Jahre sind gewiss vieles gewesen, geopolitisch aber vor allem das Jahrzehnt des Terrorismus und des Kampfes gegen diesen Terrorismus. Und von den durchweg als böse eingestuften islamistischen Terroristen wird man weder pauschal sagen können, dass sie hirnkrank oder dass sie arm gewesen seien. Und selbst wenn manche von ihnen es waren, wird man sich fragen, warum nun gerade sie und nicht die Millionen anderen von der Not Bedrückten zur Waffe griffen.

Alte und neue Feindbilder

Der Terrorismus und die Pflege der Feindbilder auf beiden Seiten zeigen freilich noch einen anderen Aspekt im ewigen Ringen von Gut und Böse auf. Nicht nur Gott, auch der Teufel ist abwesend: diabolus absconditus. Oder prosaischer ausgedrückt: Ein Feindbild eignet sich immer dann am besten, wenn der Feind ein ganzes Stück entfernt ist. Und das war der Terror der 2000er für die überwiegende Mehrzahl der Amerikaner und Europäer so wie die euroamerikanischen Interventionstruppen für die meisten Islamisten. Beide sind füreinander im wesentlichen ein Medienereignis. Dämonisierung funktioniert am besten aus der Distanz. Auch Ausländer- und Islamfeindlichkeit findet man nicht seltener, eher häufiger in den Gegenden, in denen wenige oder keine Vertreter der genannten Gruppen leben.

Dies scheint ein ewiges Gesetz zu sein. Interessant ist nun, dass einige andere scheinbar ewige Gesetze im Verhältnis von Gut und Böse, Freund und Feind in den heutigen demokratisch-aufgeklärten Gesellschaften nicht mehr gelten.

Damit ist nicht gemeint, dass sich bestimmte Werte verschieben, Feindbilder verschwinden und neue entstehen. Das ist historisch normal; was gut und was böse ist, ist kulturbedingt, ist relativ, ändert sich über die Zeit. Gewiss ist man versucht, Universalien entdecken zu wollen. Dass etwa Mord böse ist, und Diebstahl böse ist, und Lügen böse ist, würde man als universelle Gesetze für beinahe alle Kulturen annehmen. Aber was jeweils ein Mord ist und was nicht – etwa Töten im Kriege –, was Eigentum ist, was Wahrheit ist, unterscheidet sich von Epoche zu Epoche, von Volk zu Volk immens. Zwar erkennt man gewisse Schemata. Inselvölker bringen andere Kulte hervor und haben andere Vorstellungen vom Bösen als Bergvölker oder Wüstenvölker; zentralistisch organisierte Großreiche neigen zu anderen Moralsystemen als Stammesgesellschaften oder kleine Stadtstaaten. Aber die Geschichte ist kein Labor mit genau festlegbaren Rahmenbedingungen und vorhersagbaren Resultaten. Insofern ist es nicht ungewöhnlich, dass, beispielsweise, die im jüdisch-christlichen Kulturraum für Jahrtausende als schwere Sünde geltende Homosexualität heute weithin nicht mehr als Sünde gilt (was sie in vielen anderen Kulturen noch nie war); ebenso normal, wenn auch ein wenig ironisch, ist, dass das Gut-Böse-Verhältnis sich umgekehrt hat und heute nicht mehr der Homosexuelle, sondern der Homosexualität Verdammende, der „Homophobe“ vielfach als Paria deklariert und, mit der gleichen pathologisierenden Argumentation wie früher gegenüber den Homosexuellen, als zwanghaft gestört eingestuft wird.

Bemerkenswert ist nicht die inhaltliche, sondern die strukturelle Invertierung. Denn als böse gilt heute keineswegs mehr ausschließlich das Andere, das Fremde; nicht mehr der von Krankheit Gezeichnete, nicht mehr der Schwache. Als böse gilt auch und immer mehr das Eigene, die Mehrheit, die Macht und der Vertreter der Macht. Der Feind, heißt es nun, steht im eigenen Land.

Die Teufel von heute

Eine deutsche Spezialität, ein besonderer Schuldkomplex, ist das keineswegs; man findet dergleichen überall in Europa und Amerika bei der Beurteilung der internationalen Politik. Schuld an allem Übel der Welt ist immer der euroamerikanische Westen – genauer: die westlichen Regierungen –, alle übrigen sind Opfer. Wenn es anderen Völkern schlecht geht, ist der Kolonialismus schuld, sind die ungerechten Handelsbedingungen schuld, ist der amerikanische Imperialismus schuld; verfehlte innere Politik, Korruption, Machtkämpfe sind allenfalls abgeleitete Ursachen zweiten Ranges. Gewiss, die Abneigung trifft vor allem die besonders exponierten Mächte, Amerika, weil es mächtig ist, und Israel, weil es seit über sechzig Jahren an der Front steht und sich in dieser Lage zu vielerlei unappetitlichen Aktionen gedrängt sah (weshalb das kleine Land mit weniger Einwohnern als Österreich laut Umfragen in Europa erstaunlicherweise als der gefährlichste Staat der Erde gilt). Aber beide stehen stellvertretend für den Gesamt-Westen, für das Eigene.

Man sagt gelegentlich, die überzogene Israel-Kritik sei in Wahrheit verkappter Antisemitismus und der Anti-Amerikanismus ein um die Ecke gedachter Antisemitismus, in dem Amerika mit der Wallstreet und die Wallstreet mit der jüdischen Hochfinanz gleichgesetzt werde. Daran mag wohl etwas sein. Aber eine deutlich größere Rolle dürfte spielen, dass Amerika und Israel als Mitglieder der eigenen, westlich-atlantischen Völkerfamilie wahrgenommen werden, denen man Sünden nicht nur übler nimmt als den unzivilisierten Wilden im Rest der Welt, sondern denen man nicht verzeiht, dass sie sich nicht verhalten wie im Paradiese: Dass Amerika sich verhält, wie noch jede Großmacht sich verhalten hat, auch jede europäische, und Politik auch nach seinen Interessen macht statt nur nach seinen Idealen; und dass Israel sich so verhält, wie noch jedes westliche Land sich in Bedrohung verhalten hat: dass ihm die Lebensinteressen des eigenen Volkes im Zweifel vor dem Recht gehen. Amerika und Israel sind Erinnerungen an die unschöne weltpolitische Realität, die außerhalb des posthistorischen Friedensparadieses Europa noch immer existiert. Der Philosoph André Glucksmann sieht es so: „Das anti-amerikanische Glaubensbekenntnis lässt sich in einer These und deren logischer Ableitung zusammenfassen. These: Das Böse gibt es nicht. Ableitung: Das einzig Böse, das es gibt, besteht darin, dass die Amerikaner an das Böse glauben.“

Der edle Mörder

Dieser Gedanke hat einen gewissen Reiz. Macht erst der Glaube an das Böse die Menschen eigentlich böse? Führt erst der Glaube an den Teufel dazu, dass man, sich mit dem Teufel im Kampfe wähnend, beginnt, sich wie ein Teufel zu verhalten?

Historisch spricht einiges dafür. Unstreitig ist, dass der Kampf gegen den Teufel und seine irdischen Manifestationen im europäischen Mittelalter zu einigen der größten Grausamkeiten in der Geschichte des Kontinents führte. Berühmt geworden ist der Ausspruch des Abtes von Cîteaux, als er nach der Eroberung einer von Rom abtrünnigen Stadt gefragt wurde, wie man denn die Rechtgläubigen von den Ketzern unterscheiden solle: „Tötet sie alle, der Herr wird die Seinen erkennen.“ Berühmt geworden ist auch der Name Torquemadas und der anderen Großinquisitoren, die vor allem in Spanien im Namen der Teufelsbekämpfung folterten und töteten.

Unstreitig ist ferner, dass die beiden grausamen Groß-Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts, der Nationalsozialismus und der Sowjetkommunismus, durch das Vorhandensein des Gegenübers sich in ihren Grausamkeiten gegenseitig anspornten und das Bewusstsein, gegen das große Menschheitsübel zu Felde zu ziehen, beiden Seiten die Entscheidung zum massenhaften Töten erleichterte.

Zu dieser Eskalation kommt es immer, wenn man meint, gegen den leibhaftigen Teufel zu kämpfen; dieser Kampf fordert und rechtfertigt alles. Auch wenn es gegen einen körperlosen Geist oder eine körperlose Ideologie geht, werden am Ende immer Menschen gemordet.

Denn an den Dämon kommt man nicht heran, nur an die menschlichen Körper, in die er gefahren ist. Gern würde man lediglich den Geist töten; wenn man nur könnte! Gern würde man ihn sanft aus den Körpern austreiben; wenn man nur könnte! Als sich die Verschwörer zur Ermordung des Cäsar versammeln, sagt Shakespeares Brutus:

„Let’s be sacrificers, but not butchers, Caius:
We all stand up against the spirit of Caesar;
And in the spirit of men, there is no blood:
O! that we then could come by Caesars spirit,
And not dismember Caesar! But, alas!
Caesar must bleed for it. And gentle friends,
Let’s kill him boldly, but not wrathfully:
Let’s carve him, as a dish fit for the gods,
Not hew him as a carcass fit for hounds.”

(In Dantes Inferno finden sich die Verschwörer Brutus und Caius Cassius übrigens zusammen mit dem Verräter Judas im neunten und innersten Kreis der Hölle wieder, als schlimmste aller Sünder.)

Nicht vereinfachen, nicht verleugnen

Also einfach das Böse negieren, vielmehr wegdefinieren als Übergangsstadium, das sich von selbst erledigt, und sich weiterhin des Lebens freuen? Den Teufel besiegen, indem man ihn ignoriert?

Das mag tatsächlich die Antwort sein; manchmal. Aber dass nicht wenige im echten oder vorgespielten Glauben, das Böse zu bekämpfen, selbst Böses und oft Teuflisches tun, heißt nicht, dass es Gut und Böse nicht gibt und dass das Böse sich von selbst auflöst, wenn man sich ihm nicht widersetzt.

Die tiefere Antwort ist: Maßhalten. Nicht dämonisieren, wo nichts zu dämonisieren ist; nicht zu sehr dem Spruch frönen, dass eben Späne fallen, wo gehobelt wird, dass der Zweck alle Mittel heiligt; umgekehrt nicht dogmatisch auf reinster Moralität beharren, die es in der Politik nirgendwann und nirgends gibt, und nicht alle gleichsetzen, die dieser Moralität zuwiderhandeln, gleich ob wenig oder viel.

Nach wie vor haben wir ein dichotomes, vom Glauben an Gut und Böse geprägtes Weltbild. Es zeigt sich vor allem an fernen Vorgängen, die wir nicht recht begreifen. Immer, wenn irgendwo in der Welt ein Autokrat in Schwierigkeiten gerät und sich Rebellen erheben, halten wir es instinktiv mit den Rebellen, denn der Tyrann ist böse und mächtig und schuldig, die Opposition jedoch ist gut und schwach und – noch – unschuldig. Dass das nie so ganz stimmt, zeigt sich immer wieder, zuletzt in Syrien. Auch die syrienerfahrene Journalistin Kristin Helberg, die insgesamt zu einem recht positiven Urteil über die Opposition gelangt, stellt bei ihrem „Einblick in ein verschlossenes Land“ fest: „Insgesamt klingt die Revolution immer ‚islamischer’. Ab dem Frühjahr 2012 gibt es kaum noch Internetvideos ohne Gottesbezug. Demonstranten rufen: ‚Wir unterwerfen uns nur Gott’, Bürgerjournalisten kommentieren Raketeneinschläge mit ‚Gott stehe uns bei’, Rebellen benutzen den Ausspruch ‚Gott ist größer’ als Schlachtruf, und jede Erklärung eines Deserteurs oder einer FSA-Einheit beginnt mit den Worten ‚Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen’. (…) Neben religiösen Extremisten treiben örtlich auch kriminelle Banden und Schmuggler ihr Unwesen, die das Chaos für ihre verbrecherischen Aktivitäten nutzen. Sie entführen Menschen, um Lösegelder zu erpressen, klauen Autos oder rauben Lastwagenfahrer aus. Trittbrettfahrer der Revolution, deren kriminelle Energie nur ein staatliches Gewaltmonopol zügeln kann.“ Auch die von den Rebellen verübten Massaker erwähnt Frau Helberg; meint freilich, dass die von Regierungstruppen angerichteten sie um ein Mehrfaches übertreffen.

Auch ein böser Diktator kann böse Feinde haben oder doch jedenfalls Feinde, in denen Gutes und Böses gemischt ist. Nicht weil der Diktator böse ist, sind seine Gegner automatisch besser. Nicht weil sich auch Böses in den Reihen seiner Gegner findet, ist der Diktator automatisch das kleinere Übel.

Die Welt, würde Luther dem Papst in Erfurt wohl entgegnet haben, ist voller Sünde. Aber es gibt Gradunterschiede.


...mehr Lesen in den akademischen Blättern oder ganze Ausgaben als PDF?


Jetzt hier kostenlos Anmelden