Hegeljubiläum 2020 – War da was?

In diesem Jahr feiern wir den 250. Geburtstag des wohl bedeutendsten deutschen Philosophen nach Kant. Sein System scheint dagegen längst überholt: Wer glaubt heute noch an den absoluten Weltgeist? Und doch kommen wir von Hegel nicht los. Woran liegt das?


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In diesem Jahr feiern wir den 250. Geburtstag des wohl bedeutendsten deutschen Philosophen nach Kant. Sein System scheint dagegen längst überholt: Wer glaubt heute noch an den absoluten Weltgeist? Und doch kommen wir von Hegel nicht los. Woran liegt das?

„Deutschland deine Denker“, so lautet der Titel von Paul-Heinz Koesters 1979 erschienenem Buch. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, geboren am 27. August 1770 in Stuttgart, gehört unbestritten zum erlauchten Kreis der großen deutschen Geister. Ein Titan des Denkens sei er gewesen, Advokat freiheitlich-republikanischer Ideen, Kosmopolit und Weltphilosoph (so die Neu-Biographen Klaus Vieweg und Sebastian Ostritsch). Ein Scharlatan sei er gewesen, schallt es dagegen vornehmlich von Seiten der angelsächsischen Philosophie (allen voran: Sir Karl Popper und Bertrand Russell). Besonders hartnäckig klebt das Etikett des unterwürfigen preußischen Staatsphilosophen an ihm, ein Vorwurf der durch die Forschung zwar längst widerlegt ist, aber immer noch munter nachgeplappert wird. Als Laie ist man zumindest irritiert angesichts der offensichtlichen Uneinigkeit in der Beurteilung seines Werks.

Fest steht: Hegel hat den Deutschen Idealismus nach Fichte und Schelling zu unerreichten Höhen geführt und ein Denkgebäude geschaffen, das in der Philosophiegeschichte einen herausragenden Platz einnimmt. Den Grundstein bildet die 1801 erschienene Differenzschrift („Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems“), gefolgt von seinem ersten eigenständigen Hauptwerk, der „Phänomenologie des Geistes“ (1807). Die darin getätigte Grundlegung der Philosophie als Wissenschaft gelangt schließlich in der „Wissenschaft der Logik“ (1812) und der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“ (1817) zur vollen Blüte. Den Schlussstein bildet das wohl wirkmächtigste seiner Werke, die 1821 in Berlin veröffentlichte Rechtsphilosophie („Grundlinien der Philosophie des Rechts“).

Beethovenmania

Ludwig van Beethoven, wie Hegel vor 250 Jahren geboren, wird im Jubiläumsjahr unsere volle Aufmerksamkeit zuteil. Zahlreiche Biographien, sehenswerte Ausstellungen, Sonderhefte in allen Qualitätszeitungen; bereits zu Beginn des Jahres Konzerte landauf landab. Selbst kitschige Plastikfiguren des genialen Tonsetzers finden großen Absatz.

Wer aber erschließt uns im Jahr 2020 Georg Wilhelm Friedrich Hegel? Gerade einmal zwei neue Biographien sind bislang erschienen, dazu einige schmalbrüstige Einführungsbändchen sowie eine Handvoll wissenschaftlicher Symposien für Eingeweihte. Allein mit Corona ist die ausbleibende Auseinandersetzung mit dem schwäbischen Meisterdenker schwerlich zu erklären. Sollte Hegel tatsächlich zu einem „historischen Hinterbänkler“ (Martin Gessmann) geworden sein? Wagt nur niemand auszusprechen, dass er uns heute nichts mehr zu sagen hat?

Wir stehen bei Hegel vor einem Paradox: Auf der einen Seite ist da diese eigentümlich geschwollene Sprache gepaart mit einer vertrackten Gedankenführung, welche auch den geübten Hegel-Leser ein ums andere Mal an den Rand der Verzweiflung bringt. Auf der anderen Seite ist da die große Zahl von Schülern, früh aufgespalten in Links- und Rechtshegelianer, über Ludwig Feuerbach und Karl Marx bis hin zu zeitgenössischen Philosophen wie Charles Taylor, Dieter Henrich oder Judith Butler. Sie alle waren oder sind offensichtlich fasziniert von der Kraft seines Denkens und haben dieses auf ihre je eigene Weise fruchtbringend fortgeführt.

Wir verdanken dem philosophischen Genius viele originelle Einsichten, die sich in der öffentlichen Hegel-Rezeption allzu oft auf die dialektische Methode und seine Geschichtsphilosophie reduzieren. Dabei lässt sich nicht zuletzt dies von ihm lernen: Die Naturwissenschaften sind nicht das Ganze der Welt! Das glauben Sie nicht? Dann fragen Sie mal einen Physiker was Liebe ist, oder wie die Formel für Vertrauen lautet.  Und wie kann es einen freien Willen geben, wo doch die Welt physikalisch determiniert ist? Mit der ihm eigenen Tiefgründigkeit führt uns Hegel die Unhaltbarkeit eines radikal naturalistischen Weltbildes vor Augen. Empirische Gewissheit erscheine zwar vordergründig als die „wahrhafteste“, sei aber in Wirklichkeit die „ärmste Wahrheit“ da sie unzulässigerweise vom unmittelbaren sinnlichen Eindruck auf das Allgemeine schließe. Gerade für uns moderne Menschen ist das ein bleibender Affront (und womöglich einer der Gründe für unser aktuelles Desinteresse an Hegel?). Wie selbstverständlich akzeptieren wir die Deutungshoheit der Naturwissenschaften und vergessen dabei, dass diese Rolle über Jahrhunderte hinweg Theologie und Philosophie vorbehalten war. Erst spät, im 19. Jahrhundert, gewinnen die „Sternengucker und Tatsachenfetischisten“ (Klaus Vieweg) die Oberhand.

Mann der Mitte

Überhaupt ist ihm jeglicher Dogmatismus fremd, sei es der sich objektiv gerierende Realismus der Naturwissenschaften, sei es der subjektiv-spekulative Idealismus Fichtescher Prägung. Hegel erweist sich diesbezüglich als Mann der Mitte. Sowohl Begriffslosigkeit als auch Realitätslosigkeit seien zu vermeiden. Wenn Hegel recht hat, und „das Wahre das Ganze ist“, sind die Naturwissenschaften nur ein Teil davon. Deren zur Schau getragener Absolutheitsanspruch sind ihm eine Anmaßung, selbst die Axiome der Mathematik hält er nicht für sakrosankt. Grandios, wie Hegel in der Vorrede zur „Phänomenologie des Geistes“ einen Frontalangriff gegen die vorgeblichen ewigen Wahrheiten der Mathematik fährt: „Die Evidenz dieses mangelhaften Erkennens, auf welche die Mathematik stolz ist und womit sie sich auch gegen die Philosophie brüstet, beruht allein auf der Armut ihres Zwecks und der Mangelhaftigkeit ihres Stoffs und ist darum von einer Art, die die Philosophie verschmähen muß. – Ihr Zweck oder Begriff ist die Größe. Dies ist gerade das unwesentliche, begriffslose Verhältnis. Die Bewegung des Wissens geht darum auf der Oberfläche vor, berührt nicht die Sache selbst, nicht das Wesen oder den Begriff, und ist deswegen kein Begreifen…Das Wirkliche ist nicht ein Räumliches, wie es in der Mathematik betrachtet wird. Mit solcher Unwirklichkeit, wie die Dinge der Mathematik sind, gibt sich weder das konkrete sinnliche Anschauen noch die Philosophie ab. In solchem unwirklichen Element gibt es denn auch nur unwirkliches Wahres, d.h. fixierte, tote Sätze.“ Welcher Geisteswissenschaftler hätte heute noch die Chuzpe, mit derart heruntergeklapptem Visier die Natur- und Ingenieurwissenschaften in ihrem Wesensverständnis herauszufordern?

Das „begreifende Denken“ ist eine der zentralen Kategorien in des Meisters Denkkosmos. Er fordert uns immer wieder dazu auf, unsere Begrifflichkeiten zu reflektieren. Was meinen wir eigentlich, wenn wir „Gott“ sagen oder vom „Ich“ sprechen? Halten Begriffe wie „Tugend“ und „Ehrlichkeit“ wirklich das was sie versprechen? Worauf es beim „Studium der Wissenschaften“ ankomme, so Hegel, sei „die Anstrengung des Begriffs auf sich zu nehmen, denn wahre Gedanken und wissenschaftliche Einsicht“ seien nur „in der Arbeit des Begriffs zu gewinnen“. Das schließt für ihn ganz ausdrücklich die Newtonsche Terminologie der Physik (Raum, Zeit, Kraft etc.) mit ein.

Von großer Originalität ist auch seine These von der Unhaltbarkeit des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch. Damit stellt er sich gegen das Diktum der orthodoxen Philosophie, demzufolge die Widerspruchsfreiheit die Grundvoraussetzung für logisches Schließen sei. Hegel stellt es vom Kopf auf die Füße: „Ein Satz für sich allein gesetzt, ohne den ihm contradictorisch entgegengesetzten ebenso zu behaupten, ist eben darum falsch“. Der Widerspruch als notwendiges Denkprinzip und Voraussetzung für wissenschaftliche Einsicht! Er hoffe somit, „daß die Philosophie der Form der Wissenschaft näher komme – dem Ziel, ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu sein“.

Und was für ein Mensch war Hegel? Ein humorvoller, geselliger, berichten uns die Zeitgenossen. Einer, der zeitlebens ein Faible fürs Kartenspielen hatte, gerne guten Wein trank und stets zu Scherzen aufgelegt war. Ein in sich ruhenden Charakter, würde man heute wohl dazu sagen. Auch hier: ganz Mann der Mitte.

 

Kurzbiographie:

  • August 1770: Geburt in Stuttgart (als Sohn des Finanzbeamten Georg Ludwig Hegel und der einer Anwaltsfamilie entstammenden Maria Magdalena Louisa Fromm)
  • 1788 – 1793: Studium der Theologie und Philosophie im Tübinger Stift (zusammen mit den Freunden Schelling und Hölderlin)
  • 1793 – 1800: Hauslehrertätigkeit in Bern und Frankfurt
  • 1801 – 1807: Habilitation und Privatdozentur im „Saale-Athen“ Jena (Entstehung der „Phänomenologie des Geistes“)
  • 1807 – 1808: Redakteur der Bamberger Zeitung
  • 1808 – 1816: Gymnasialdirektor in Nürnberg (Gründer des ersten humanistischen Gymnasiums)
  • 1816 – 1817: Professor der Philosophie in Heidelberg (zahlreiche Hegel-Hörer finden sich in der 1817 gegründeten Heidelberger Burschenschaft, u.a. sein späterer Assistent Friedrich Wilhelm Carové, der eine der wichtigsten Reden zum Wartburgfest halten wird)
  • 1818 – 1831 Professor für Philosophie an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin (Nachfolge von Johann Gottlieb Fichte, 1829: Ernennung zum Rektor)
  • November 1831: Hegel stirbt in Berlin (auf seinen Wunsch hin wird er auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof neben J. G. Fichte beigesetzt)

Hegel-Lektüre zur Einführung:

Paul-Heinz Koesters, Deutschland deine Denker, Stern Verlag, Hamburg 1979

Klaus Vieweg, Hegel: Der Philosoph der Freiheit, Verlag C. H. Beck, München 2019

Sebastian Ostritsch, Hegel: Der Weltphilosoph, Propyläen Verlag, Berlin 2020

Jürgen Kaube, Hegels Welt, Rohwohlt Verlag, Berlin 2020 (geplanter Erscheinungstermin: 21.07.2020)

Dietmar Dath: Hegel. 100 Seiten, Reclam Verlag, Stuttgart 2020

 

Zum Autor:

Stefan Martin, geb. 1979, Redakteur der Akademischen Blätter, unternimmt im aktuellen Jubiläumsjahr den (hoffentlich nicht vergeblichen) Versuch Hegel zu verstehen


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Stefan Martin

geb. 1979, Ingenieur, VDSt Freiberg.

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