Hermann Ehlers, „Baumeister der deutschen Zukunft”

Ende Oktober 2014 wird sich Hermann Ehlers’ Tod zum sechzigsten Mal jähren. Das Le-ben des großen Parlamentariers erinnert uns noch heute an unsere Pflicht als Bürger: den demokratischen Staat zu tragen und mitzugestalten. Eine Würdigung von Dieter Gutekunst.


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s137_Ehlers_2Hermann Ehlers arbeitete unermüdlich an der sich selbst gestellten Aufgabe, dem deutschen Volk den demokratischen Staatsgedanken nahezubringen. Völlig überraschend erlag er am 29. Oktober 1954, nur fünfzigjährig, einer Krankheit. Bundespräsident Theodor Heuss drückte in seiner Trauerrede im Deutschen Bundestag am 2. November 1954 aus, was viele Deutsche in West und Ost empfanden: „Hier wurde dem Vaterland eine Kraft geraubt, die berufen war und sich auch berufen wusste, ein Baumeister der deutschen Zukunft zu werden“.

Hermann Ehlers wurde am 1. Oktober 1904 geboren. Sein evangelisches Elternhaus war monarchistisch eingestellt. Ehlers studierte an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin (1) Rechtswissenschaften. Im Wintersemester 1923 trat er in den Verein Deutscher Studenten Berlin ein. Von 1931 an arbeitete er als Justiziar der Verwaltung der Evangelischen Kirche der Altpreussischen Union und auf anderen kirchlichen Posten. 1937 wurde er wegen „Aufforderung zum Ungehorsam gegen staatliche Anordnungen“ von der Gestapo verhaftet und zwei Wochen lang in Haft gehalten. Von 1940 bis zum Kriegsende war Ehlers Soldat bei der Flugabwehr in Hamburg.

Im Oktober 1945 nahm Hermann Ehlers das Amt des Oberkirchenrats der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Oldenburg an. Im Sommer 1946 trat er der neugegründeten Christlich-Demokratischen Union, der politischen Gemeinschaft von Katholiken und Protestanten, bei. Von 1952 bis zu seinem Tod stand er dem Evangelischen Arbeitskreis der CDU/CSU vor.

Bei der ersten Bundestagswahl 1949 zog Ehlers über die Landesliste Niedersachsen in den Bundestag ein, bei der zweiten Wahl 1953 als direkt gewählter Abgeordneter des Wahlkreises Delmenhorst-Wesermarsch. Am 19. Oktober 1950 wählte der Bundestag den Abgeordneten Hermann Ehlers als Nachfolger des zurückgetretenen Erich Köhler zum Präsidenten des Deutschen Bundestags. 1953 wurde Ehlers mit 467 von 487 Stimmen im Amt bestätigt; das war das beste Ergebnis bei der Wahl eines Bundestagspräsidenten.

Eine harte Schule

Hermann Ehlers musste seit der Zwischenkriegszeit durch eine harte Schule gehen und wurde erst nach und nach der große Demokrat, als der er sich dann als Bundestagspräsident erwies (2). In der Weimarer Zeit war Ehlers zwar nicht Mitglied der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), deren Programm Nationalismus, kaiserlich-monarchistischen Konservatismus und Antisemitismus umfasste und zumindest in den ersten Zwanzigerjahren republikfeindlich war; er sympathisierte aber mit dieser Partei. Ehlers war in der Weimarer Zeit Gegner der parlamentarischen Parteiendemokratie. Später gab er zu, dass seine Haltung in der Weimarer Zeit – wie die vieler anderer – falsch gewesen war. Ehlers in einem Vortrag anlässlich einer öffentlichen Veranstaltung im Rahmen der Verbandstagung des Verbandes der Vereine Deutscher Studenten in Marburg 1953: „Im Weimarer Staat haben wir uns unsere Anti-Einstellung gegen die Demokratie durch das Schlagwort von der Erfüllungspolitik glaubhaft gemacht … Wir haben weiter gemeint, dass Monarchie und Demokratie in einem Gegensatz stehen müssten … Wir haben von Anfang an eine falsche Animosität gegen das Parlament in uns wachsen lassen, weil wir weithin nicht verstanden haben, welche Funktion das Parlament hatte.“ (3)

Im selben Vortrag setzt Ehlers sich mit antisemitischen Tönen im VDSt der Weimarer Zeit auseinander: „Was hat der Kyffhäuserverband der Vereine Deutscher Studenten durch die Art der Ablehnung des Judentums, wie er sie vertreten hat, zu dieser Tragödie beigetragen? Um diese Frage kommen wir nicht herum. Ich bin weit davon entfernt, eine falsche Gleichsetzung vorzunehmen und zu meinen, dass irgendeiner der Männer, die 1881 aus einer bestimmten und einsehbaren volklichen und politischen Situation heraus ein antisemitisches Programm aufstellten, das, was sich in den Vernichtungslagern des Dritten Reiches abgespielt hat, gewollt oder auch nur geahnt hätte. Aber es ist die Frage zu stellen, ob nicht in unserer Geschichte irgendwo ein Rinnsal ist, das in den großen Strom hineingemündet ist und mit ihm zu dem geführt hat, was geschehen ist.“

Ein „Werbefeldzug“ für den Parlamentarismus

Ehlers war – als ein frühes Mitglied der Bekennenden Kirche – ein entschiedener Gegner des Nationalsozialismus. Krieg und Naziverbrechen formten Ehlers zum Demokraten. Die Menschenrechte hatten für ihn einen hohen Wert gewonnen. Kurz vor seinem Tod sagte Ehlers in einem Vortrag: „Angesichts der ungeheuerlichen Zerstörung der Rechte und Freiheiten von Menschen und Völkern in der Zeit des totalitären Staates war es nur natürlich, dass unsere wachsende neue staatliche Ordnung alles Gewicht auf die Begründung der Menschenrechte legte“ (4).

In Deutschland war das Parlament nie eine wirkliche „Volksvertretung“ gewesen. Das Volk betrachtete das Parlament bestenfalls distanziert, und das Parlament hatte nie beweisen können, dass nur ein starkes Parlament Regierung und Verwaltung wirksam kontrollieren kann (5). Hier setzte die Aufgabe des Bundestagspräsidenten Hermann Ehlers ein. In Hunderten von Aufsätzen und Vorträgen und auch als Debattenredner im Bundestag führte er einen „Werbefeldzug“ für den demokratischen Staatsgedanken und den Parlamentarismus. Schon bei der Übernahme des Amtes des Bundestagspräsidenten sagte er am 19. Oktober 1950 im Bundestag:

„Es ist uns die Aufgabe gestellt, in dieser Bundesrepublik vor aller Welt sichtbar zu machen, wie wir uns das Leben in Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit vorstellen. Ich weiß mich mit Ihnen, meine Damen und Herren, darin einig, dass wir durch unser Tun und Unterlassen das zu unterbauen haben. Wir sind berufen, den Menschen in unserem Volk, die langsam beginnen, zu der demokratischen Ordnung unseres Staatswesens Vertrauen zu fassen, dieses Vertrauen zu erleichtern… Dazu gehört, dass die Menschen unseres Volkes zu jedem Abgeordneten dieses Hohen Hauses das Vertrauen haben können, dass er sein Amt ausschließlich und jederzeit nicht um seiner selbst willen, sondern um der Wohlfahrt des ganzen Volkes willen ausübt“ (6).

Hermann Ehlers hat uns immer wieder gemahnt, unseren Staat zu tragen und mitzugestalten. Wir sollten „nicht abseits auf dem zweiten Rang im Theater zuschauend herumsitzen, sondern uns gefälligst als Akteure mit auf die Bühne stellen“. Ehlers wusste aus seiner eigenen Erfahrung in der Weimarer Zeit um die Folgen, wenn eine sachlich unbegründete Distanz zwischen Parlament und Volk nicht überwunden werden kann und der Staat gewissenlosen Demagogen jede Freiheit des Handelns gibt. Deshalb bekannte sich Ehlers auch zur „wehrhaften Demokratie“ (7). Andererseits war Ehlers Gegner eines Mehr an unmittelbarer Demokratie durch Volksentscheide zu Lasten der repräsentativen Demokratie. Er begründete seine Ablehnung damit, dass die Bürger mit der Entscheidung schwieriger politischer Sachverhalte überfordert und dann für demagogische Parolen zugänglich sein könnten (8).

Bundestags-Vizepräsident Carlo Schmid nannte in seiner Trauerrede am 2. November 1954 Ehlers einen Mann, der gewusst habe, „dass die Demokratie, die Herrschaft des Volkes, nur dort ihre Wurzeln fest in das Erdreich der Nation zu setzen vermag, wo sie fordernd und Achtung heischend auftritt“. Diesem Ziel habe der unermüdliche Wille Hermann Ehlers’ gegolten (9).

Christentum Grundlage der deutschen Staatsidee

Für Hermann Ehlers war das Christentum die Grundlage der deutschen Staatsidee. Während des Kirchenkampfes im Deutschland der nationalsozialistischen Zeit hatte er mit der Bekennenden Kirche „den Widerstand gegen den Einbruch der Unkirche gestärkt. Nach dem Krieg half er, aus den Trümmern einer totalen Kirchenzerstörung ein Haus Gottes in unserem Vaterland neu aufzubauen“ (10). Nach Ehlers ist der Staat Ordnung Gottes für die Welt. „Die Bürger sind als Christen verpflichtet, für Leben und Freiheit des Nächsten einzustehen. Dadurch entsteht im Staat in Freiheit gelebte Gemeinschaft“. Und: „Zu den Erfordernissen eines Staates gehört in erster Linie neben der Gerechtigkeit, die der Staatsbürger vom Staat fordern muss, auch die Gerechtigkeit, die der Bürger dem Staat zubilligt“ (11).

Für Hermann Ehlers endete die deutsche Staatsidee nicht an Elbe und Werra. Bundespräsident Theodor Heuss über Hermann Ehlers in seiner Rede anlässlich der kirchlichen Trauerfeier in Oldenburg am 3. November 1954: „Das unzerstörte und unzerstörbare Einheitsbewusstsein im Seelisch-Religiösen war ihm eine tröstliche und kräftigende Bestätigung, dass politische Macht des Tages ein Volk wohl technisch trennen mag, aber nicht sein gemeinsames Erbe und seine gemeinsame Zukunft vernichten“(12).

Der Mensch HerMann Ehlers

Welch hohe Achtung auch der „Mann und die Frau auf der Straße“ in Deutschland für Hermann Ehlers empfanden, das schildert unser Bundesbruder Karl Maßmann, damals Stellvertretender Vorsitzender des Altherren-Verbandes des VDSt, wenige Wochen nach Ehlers’ Tod in den Akademischen Blättern (13):

„Als in den späten Abendstunden des 28. Oktober die Nachricht kam, dass Bundestagspräsident Dr. Hermann Ehlers… nach einer Operation um sein Leben rang, und dann in der grauen Dämmerung des nächsten Morgens die Bestätigung folgte, dass er kurz nach Mitternacht heimgegangen war, ging ein jähes Erschrecken durch unser Volk. Es war, als stockte einen Augenblick der Atem der Geschichte… Über unendlich viele Menschen war ein Gefühl der Verlassenheit gekommen. In der Stadt Oldenburg bat der Deutsche Gewerkschaftsbund darum, dass die Lambertikirche, in der Hermann Ehlers aufgebahrt wurde, bis in die Abendstunden geöffnet blieb, damit auch die Arbeiter von ihm Abschied nehmen könnten. Und als dann am 3. November nach der Trauerfeier in Oldenburg sein Sarg in die niedersächsische Heide bei Celle, in das Dorf Sülze, die Heimat seiner bäuerlichen Vorfahren, geleitet wurde, da standen überall an den Straßen, in den Landstädten und in den Dörfern in endlosen und dichten Reihen die Menschen, alte und junge, und Schulkinder, manche stundenlang im strömenden Regen, um den Niedersachsen Hermann Ehlers noch einmal zu grüßen… Durch alle Ansprachen, die an seinem Sarg in der Lambertikirche in Oldenburg und vorher in der Trauerkundgebung des Deutschen Bundestags in Bonn gehalten wurden, klang immer wieder am stärksten die Trauer um den Menschen Hermann Ehlers. Das ist uns die beglückende Bestätigung dafür, dass sein unermüdliches Wirken für die von ihm selbst gestellte Aufgabe, den neuen demokratischen Staatsgedanken im deutschen Volk tief zu verankern, nicht vergeblich war…“

Hermann Ehlers war neben Kurt Schumacher und Konrad Adenauer die am stärksten geprägte politische Persönlichkeit des heutigen westdeutschen Staates. Seine große Wirkung beruhte in erster Linie auf seiner Aktivität und, wie Bundespräsident Theodor Heuss es so schön nannte, auf der fröhlichen Tapferkeit seines Wesens. Er hat in den letzten acht Jahren in zahllosen großen und kleinen Versammlungen, in Kursen und auf Schulungstagungen gesprochen und durch die Gewalt seiner Rede, die auf der kristallklaren Logik seiner Gedankenführung und der Schlagkraft seiner Formulierungen beruhte, die Hörer in seinen Bann gezogen…“

Die Hermann-Ehlers-Gedächtnistagung

Dreissig Jahre nach Hermann Ehlers’ Tod, Ende Oktober 1984, veranstaltete der Verband der Vereine Deutscher Studenten in Celle eine Tagung zum Gedenken an unseren großen Bundesbruder Hermann Ehlers unter dem Titel „Demokratie heute – Soll und Haben“. Das Heft 6/1984 (Dezember 1984) der Akademischen Blätter enthält einen Bericht von dieser Tagung und einige Aufsätze von und über Hermann Ehlers. Aus ihnen habe ich oben zitiert.

Die Tagung endete mit der Niederlegung eines Kranzes an Hermann Ehlers’ Grab in Sülze bei Celle. Dort sagte ich in meiner damaligen Eigenschaft als Verbandsvorsitzender 14).

“Wir sind an Hermann Ehlers’ Grab zusammengekommen, um unseres Bundesbruders zu gedenken, der vor dreissig Jahren starb. Als Bundestagspräsident arbeitete, ja, kämpfte Hermann Ehlers dafür, der Demokratie in der jungen Bundesrepublik eine sichere Grundlage zu geben: die Freiheit des Menschen in der Verantwortung vor Gott und den Mitmenschen. Wir danken unserem Bundesbruder für seinen bewegenden Einsatz im Aufbau der freiheitlichen Demokratie und eines Vertrauens zwischen Volk und Parlament. Sein Vermächtnis an uns alle ist, dass wir die menschliche Demokratie mittragen und mitgestalten.

„Mit Gott für Volk und Vaterland“

Hermann Ehlers’ Werben für den demokratischen Staatsgedanken und den Parlamentarismus ist auch heute keineswegs überholt. Wenn wir weiterhin in einem demokratischen Rechts-, Sozial- und Kulturstaat in Frieden und Freiheit leben möchten, dann müssen wir diesen Staat etwas tun. Was sollen wir tun? Hier ein paar Gedanken zu einer Antwort.

Der demokratische Staatsgedanke verlangt von jeder Bürgerin und jedem Bürger, dass sie – über das Zahlen von Steuern und die Teilnahme an Wahlen und Volksabstimmungen hinaus – den menschlichen Staat tragen und mitgestalten – je nach ihren Möglichkeiten und Fähigkeiten in einer demokratischen Partei, in einem sozialen, kulturellen oder anderen Ehrenamt oder auf vergleichbare Weise.

Der demokratische Staatsgedanke verlangt von Abgeordneten des Deutschen Bundestags etwa, dass sie

  • in Wahlkämpfen nicht mehr versprechen, als sich halten lässt, und nach Wahlen das Versprochene halten,
  • in Beratungen und bei Abstimmungen im Parlament nach bestem Wissen und Gewissen 15) dem Gemeinwohl dienen,
  • die Kontrolle von Regierung und Verwaltung sehr ernst nehmen und
  • sich für die Beachtung des Subsidiaritäts-Grundsatzes, also des Grundsatzes der Aufgabenerfüllung auf einer Organisationsebene möglichst weit „unten“, also nahe am Menschen, einsetzen 16).

(Diese Gedanken gelten für andere Parlamente als den Deutschen Bundestag natürlich sinngemäß.)

 

Anmerkungen

(1) Seit 1946 Humboldt-Universität.

(2) Weert Börner, Hermann Ehlers’ Biograph, „Politik aus christlicher Verantwortung“, Akademische Blätter (ABl) 6/1984, S. 146 ff.

(3) Hermann Ehlers, „Die Fundamente der deutschen Staatsidee“, ABl 6/1984, S. 156 ff.

(4) Börner aaO, S. 151.

(5) Börner, „Hermann Ehlers und der Aufbau einer parlamentarischen Demokratie“, Bonn 1967, S. 123.

(6) Hermann Ehlers, ABl 6/1984, S. 143.

(7) Börner, „Hermann Ehlers und der Aufbau…“, S. 128.

(8) Mein Aufsatz „Volk und Parlament – Demokratie in Deutschland“, ABl 6/1984, S. 144 f.

(9) ABl 6/1984, S. 163.

(10) Unser Bundesbruder Präses D. Kurt Scharf, „Hermann Ehlers“, Wuppertel 1955, S. 64.

(11) Hermann Ehlers, „Die Fundamente des Parlaments“, ABl 6 /1984, S. 161.

(12) Theodor Heuss, „Der Christ Hermann Ehlers“, ABl 6/1984, S. 150.

(13) ABl 11/1954, S. 289 ff.

(14) ABl 6/1984, S. 136.

(15) Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes: „Sie (die Abgeordneten des Deutschen Bundestages) sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“.

(16) Das Grundgesetz nennt an einer Stelle den Grundsatz der Subsidiarität, nämlich in Artikel 23 Absatz 1 Satz 1, dem Bekenntnis zur Europäischen Union.


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Dieter Gutekunst

geb. 1934, Dr. iur., Ministerialdirigent a. D., VDSt Würzburg und München.

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