Herr über Ägyptenland

Klassiker wiederentdeckt: Thomas Mann fand die Inspiration für sein großes Epos im Alten Testament. Joseph und seine Brüder: eine Art moderne Ilias in deutscher Sprache – aus jüdischem Erzählstoff.


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Es sind meist nur wenige Bibelgeschichten, die haften bleiben aus dem Religionsunterricht. Die Josephsgeschichte, eigentlich eine Nebenhandlung zum Ende der Genesis, Bindeglied zwischen den Stammvätern und Moses, gehört dazu; anmutig und natürlich erzählt, nach Goethes Urteil. Voll dramatischer Wendungen. Und wie vieles im Alten Testament voll List und Lüge, Sex and Crime.

In der Bibel

Jakob, Sohn des Isaak, Sohn des Abraham, ist Oberhaupt der Israeliten. Unter seinen zwölf Kindern ist das erste mit Lieblingsfrau Rahel das Wunschkind. „Israel aber hatte Joseph lieber als alle seine Kinder.“ Die Vorzugsbehandlung und selbstverliebte Träumereien des Knaben machen die (Halb-)Brüder neidisch. Sie werfen ihn in eine Grube, verkaufen ihn an Händler und erzählen dem Vater, ein wildes Tier habe ihn gerissen. Die Händler bringen Joseph nach Ägypten. Weil Gottes Segen auf ihm ruht, wird er dort ein glücklicher Mann. Tritt in den Dienst Potiphars, „des Pharaos Kämmerer und Hauptmann der Leibwache“, und steigt zu dessen Verwalter auf. Auf den jungen Mann, „schön und hübsch von Angesicht“, wird Potiphars Frau aufmerksam: „Schlafe bei mir!“ Joseph bleibt standhaft; das Weib wird rasend vor enttäuschter Liebe und beschuldigt ihn der versuchten Vergewaltigung. Joseph wird in den Kerker geworfen. Aber erneut hat er Glück. Schenke und Bäcker des Hofs, in Ungnade gefallen, deutet er ihre Träume: „Über drei Tage wird Pharao dein Haupt erheben.“ Als Pharao selbst rätselhafte Träume hat – den berühmten mit den sieben fetten und den sieben mageren Kühen –, erinnert man sich an Joseph. Der sagt sieben Jahre Wohlstand und sieben Jahre Missernten voraus, empfiehlt Kornkammern zu bauen und die Vorräte zu vergrößern. Pharao setzt ihn als Verwalter über das Land zur Bewältigung der kommenden Krise. Als die Dürre kommt und in vielen Landen Hunger herrscht, schickt Jakob seine Söhne nach Ägypten, um Korn zu kaufen. Dort werden sie vor Joseph gebracht. Der, unerkannt, stellt sie auf die Probe; aber am Ende vergibt er ihnen, man versöhnt sich, und Pharao gestattet den Israeliten, im Land Gosen im Nildelta zu siedeln und dort ihr Vieh zu züchten. Josephs Spur verliert sich in Ägypten; aber zwei seiner Söhne erhalten Jakobs Segen und bilden einen der zwölf Stämme, der später im Land ihrer Väter siedelt.

Bei Thomas Mann

Deutschlands großer Romancier macht aus diesem Stoff von wenigen Kapiteln im 1. Mose ein vierbändiges Erzählwerk von über dreizehnhundert Seiten; allein aus den zwei Dutzend Bibelversen über Joseph in Potiphars Haus ein ganzes Buch. Vom Umfang her mit Abstand das ausführlichste Werk in der Reihe seiner auch sonst nicht eben kurzen Romane. Und glaubt man Sohn Golo, der das Werk des Vaters gut kannte und, wenn er es angemessen fand, auch mit Kritik nicht sparte, ist Joseph und seine Brüder das „Größte, Reichste, Wunderbarste“ in Thomas Manns großen Erzählungen; „buntfarbener Fabelteppich“ wie die Ilias bei Homer, „tief und reich an Menschenkenntnis, Menschenfreundschaft“.

Die Menschen, die Charaktere sind das eine. Manns Joseph ist das dreidimensional ausgemalte Bild dessen, was in der Bibel nur versweise angedeutet ist. Klug, hintersinnig, aber auch selbstisch, eitel, dabei listig schmeichelnd; manchmal ein Blender, nicht unähnlich dem Felix Krull. Ironie und Witz sind freilich nur ein Teil der Stimmung. Der Verfall Mut-em-enets, wie Potiphars Frau bei Thomas Mann heißt, ist große Kunst; vom langsamen Aufkommen der Leidenschaft für Joseph, dem halbherzigen Versuch, ihn loszuwerden, die heimliche Freude, als das nicht gelingt, „weil sie den Erwecker auch weiterhin würde dürfen sehen müssen und ihn nicht würde müssen vergessen dürfen“; das Sich-Verzehren, das immer aggressivere Werben bis hin zu völliger Selbstentwürdigung. Doch auch ganz stille, würdige Trauer gehört zur Klaviatur; etwa als Joseph zum Sterbebegleiter wird für den alten Mont-kaw, der ihn aufnahm und dem er als Hausmeier nachfolgen wird.

Das andere, neben den Figuren, ist der Hintergrund, geschichtlich und sprachlich. Thomas Mann hat siebzehn Jahre an dem Stoff gearbeitet und – wie stets – gründlich recherchiert, zur Geschichte der israelitischen Religion wie des alten Ägyptens. Gleich im vierten Absatz des ersten Buchs breitet er vor dem Leser ein Satzmonstrum von dreihundertfünfzig Worten aus, in dem die Landkarte des Nahen Ostens, der Städte und Könige zu Josephs Zeit dargestellt wird. Die Namen, oft in verschiedenen Variationen, werden mit Sinn belegt. Theologische Überlegungen kommen dazu, zur damaligen Weltvorstellung, zur Verwandtschaft der Monotheismen der Juden und Pharao Echnatons, zum Übergehen der Geschichte in den Mythos, zur Unergründlichkeit des tiefen Brunnens der Vergangenheit.

Der letzte Teil der Tetralogie erschien 1943. Es ist traurige Ironie, dass Thomas Mann diesem jüdischen Erzählstoff so nahe kam, wie man wohl in der deutschen Sprache kann, als er selbst sich aus Deutschland vertrieben sah und man sich dort anschickte, das Judentum auszurotten.


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