Himmel und Erde

Was das Judentum sei, ist eine uralte Frage: Religion oder Nationalität; gebaut auf das Göttliche hin oder auf das Irdische, das Volk und das Land, Eretz Israel. Gewiss kann man simpel antworten: beides. Aber der Schwerpunkt verschiebt sich immer wieder merklich.


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Alle Religionen, hat eine englische Schriftstellerin einmal notiert, scheinen zur Hälfte aus tiefen Wahrheiten und zur anderen Hälfte aus ausgemachtem Unsinn zu bestehen. Das kommt daher, weil Religionen in der Regel sehr alt sind, viel mitschleppen aus ihrer Frühzeit und als Teil ihres Erbes liebevoll pflegen, was den praktischen Lebensbedürfnissen einmal entsprach, aber heute nicht mehr. Das Judentum ist die älteste der monotheistischen Religionen und daher rein chronologisch die mit dem größten historischen Ballast; oder, freundlicher gesagt, der stärksten historischen Bindung. Aber weniger an einen einzelnen Propheten und Religionsstifter, sondern an Volk und Land.

Unter dem Davidstern

Das antike Judentum ist Stammesreligion spät sesshaft gewordener Nomaden, eines kleinen Wüstenvolkes, das kühn genug ist, die Idee des namenlosen, gesichtslosen, formlosen, ganz abstrakten Einen Gottes bis zum Ende zu durchdenken und diesen Gott zum Herrn der Welt zu erheben, über die vielen Götter der mächtigeren Reiche ringsum.

Das Alte Testament erzählt die Geschichte eines Volkes und seines Bundes mit Gott. Stammvater Abraham, Isaak, Jakob; Joseph als Traumdeuter an Pharaos Hof, die zwölf Stämme, Moses Auszug aus Ägypten; Sturm auf Jericho, Landnahme in Kanaan, die Zeit der großen Könige, Saul, David, Salomo; Streit und Niedergang, Nordreich und Südreich, Tributpflicht und Eroberung.

Der historische Wert der Erzählung ist begrenzt, sie wurde Jahrhunderte später niedergeschrieben auf Basis mündlicher Überlieferung, verbliebener Quellen und theologischer Deutung seither geschehenen Unheils. Dennoch zeigt sie die Wechselhaftigkeit der jüdischen Geschichte in ihrem kleinen Streifen Land an der Ostküste des Mittelmeers. Meist werden die Juden von anderen Völkern beherrscht: Ägypter, Hethiter, Assyrer, Babylonier, Perser, Griechen, Römer; im besseren Fall als abhängiger Bundesgenosse, im schlechteren als besiegter Kriegsgegner. Echte Eigenständigkeit gibt es nur in Übergangszeiten. Zweimal wird der Tempel von Jerusalem erbaut, unter Salomo und Herodes. Zweimal wird er zerstört, unter Nebukadnezar und Kaiser Vespasian. Im Schnitt wird die Stadt mehrmals im Jahrhundert von Feinden erobert.

Die harte Lage bringt aber auch eine Befruchtung der jüdischen Kultur. Für die nach Babylon verschleppte Oberschicht, ohne Hauptstadt, ohne Tempel, entortet, rückt die Schrift ins Zentrum der Religion. Die jüdische Theologie beginnt erst eigentlich dort. Nach Alexanders Feldzügen wird das jüdische Denken hellenisiert, nach Pompeius romanisiert. Es gibt nun Gelehrte, die über die Tora disputieren wie über ein Werk von Aristoteles oder Seneca und von überkommenen Denktraditionen abrücken. Die Scheidelinie im berühmten Glaubensstreit um die Zeitenwende, zwischen Sadduzäern und Pharisäern, verläuft gerade dort.

In der Welt verstreut

Nach den gescheiterten Aufständen gegen die römische Herrschaft wird Palästina weitgehend von Juden entvölkert. Die Juden werden wieder zum Wandervolk, über Nordafrika bis hin nach Spanien, über Kleinasien, Griechenland, Italien und über die Alpen nach Mitteleuropa, ins Rheintal, später mit der deutschen Ostwanderung bis hin nach Russland. Jüdische Staatlichkeit gibt es für fast zwei Jahrtausende nicht, sieht man von Episoden wie dem frühmittelalterlichen Chasarenreich im Nordkaukasus ab.

Dass sich eine jüdische Eigenidentität über diesen langen Zeitraum in der Diaspora erhält, wenn auch in verschiedensten regionalen Variationen, grenzt an ein Wunder. Gewiss wirkt die bleibende Ausgrenzung mit, in den christlichen Ländern noch stärker als in den muslimischen, jedenfalls zeitweise. Das Ghetto wirkt wie eine Zeitkapsel, in der sich alte Formen erhalten, die Sprache, die Riten, Beschneidung, Schläfenlocken, die Festtage, Jom Kippur, Sukkot, Chanukka, Passah, Speise- und Reinheitsregeln aus der 613 Punkte langen Liste der Ge- und Verbote im Talmud. Die Geschichte, der zerstörte Tempel als Fixpunkt der Erinnerung, als Projektionsfläche gefühlter Identität spielt auch eine starke Rolle. „Nächstes Jahr in Jerusalem.“ Von alldem muss sich lossagen, wer, mit der Taufe, halb und halb in der christlichen Mehrheitsgesellschaft aufgehen will. Sehr viele gehen diesen Schritt nicht, trotz Gewaltandrohung und, immer wieder, offener Pogrome.

Mit der Französischen Revolution und Napoleon verbreitet sich die Judenemanzipation, also die gesetzliche Gleichstellung mit den Christen, in wenigen Jahrzehnten in West- und Mitteleuropa. Sondersteuern, Berufsbeschränkungen, Heiratsverbote, Wohnortvorgaben werden abgeschafft; die Ghettomauern fallen. Für viele Juden verbinden sich diese Fortschritte mit dem Aufstieg ins Bürgertum, als Anwälte, Ärzte, Bankiers, Journalisten, Verleger, Wissenschaftler. Historiker sagen, in Deutschland sei dieser Aufstieg etwas später gekommen als in England und Frankreich, dafür besonders rasant. Gleichzeitig wird der alte Antijudaismus der Kirchen überlagert durch den neuen Antisemitismus des Neides und zunehmenden Rassismus, gegen den keine Taufe mehr hilft. Auch dies in Deutschland wohl stärker als anderswo.

Das Streben zurück

Im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert scheint es für die emanzipierten, aber noch nicht voll akzeptierten Juden zwei Alternativen zu geben: Assimilation, Aufgehen in der Mehrheitsgesellschaft, weitgehender Verzicht auf die kulturelle, religiöse Eigenidentität, ob mit oder ohne Taufe. Oder ein eigenes Volk bleiben, mit starkem Glauben. Die Zionisten stehen quer zu diesen Alternativen. Theodor Herzl, Anwalt und Publizist aus Budapest, ist kein sehr gläubiger Mann, spricht kein Jiddisch oder Hebräisch. Er will einen jüdischen Musterstaat schaffen, liberal, demokratisch, westlich, wenn möglich in Palästina, wenn nicht, dann anderswo. Zionismus ist säkularer jüdischer Nationalismus, im Grunde eine Kopie der anderen europäischen Nationalismen des neunzehnten Jahrhunderts.

Die Zuwanderung nach Palästina, schon eineinhalb Jahrzehnte im Gange, als Herzl seine Bewegung ins Leben ruft, ist zunächst anders geprägt. Dorthin zieht, zahlenmäßig zu einem kleinen Anteil, wer anderswo verfolgt ist. In den 1880ern ist das Osteuropa, russisch beherrscht bis nach Polen hinein. Dort gibt es noch keine Emanzipation, leben die Juden nach wie vor als geduldetes Fremdvolk mit traditioneller Lebensweise: solcherart, wie man sie heute orthodoxe Juden nennt. Pogrome treiben viele ins Ausland, aber die meisten nach West- und Mitteleuropa oder Amerika. Wirklich in Gang kommt die Einwanderung ins Gelobte Land erst in den 1920ern, nach Ende der türkischen Verwaltung. Mit der Judenverfolgung in Nazideutschland und den deutsch beherrschten Gebieten kommt eine weitere Welle nun auch vermehrt westlich geprägter Juden. Der jüdische Bevölkerungsanteil, anfangs kaum fünf Prozent, steigt bis zur Staatsgründung auf fast die Hälfte. Einwanderung wird Unterwanderung und dann Überwanderung. Große Landflächen werden gekauft, die arabischen Bauern, die seit Generationen dort leben, allmählich verdrängt. Die Haltung der Bevölkerungsgruppen zueinander wird zunehmend feindselig, schlägt um in offene Gewalt und Terrorismus, gegeneinander und gegen die britische Mandatsmacht.

Als die Briten abziehen und nach einem UN-Teilungsplan der Staat Israel ausgerufen wird, überziehen die arabischen Nachbarstaaten, denen die britische Diplomatie das Land früher einmal versprochen hatte, die Juden mit Krieg. Gegen die Erwartung der meisten ist Israel siegreich, besetzt weitere Gebiete, die im Teilungsplan den Arabern zugewiesen waren. Die arabische Bevölkerung flieht oder wird vertrieben. Nun erst stellen die Juden in Palästina wieder die Mehrheit.

In den ersten Jahrzehnten nach 1948 ist Israel ein eher weltlich geprägter Staat. Den Ton geben aufgeklärte Juden aus West- und Mitteleuropa an. Es sind Zeiten von Krieg und Existenzkampf. Bestimmt werden die Geschicke durch Untergrundkämpfer und Generale, die später auch politisch ans Ruder kommen: Begin, Dajan, Schamir, Rabin, Scharon.

Im Lauf der Zeit verschiebt sich das; verschieben sich die demographischen Gewichte, durch weiteren Zuzug aus Osteuropa und divergierende Geburtenraten. Gewinnt mit der Eroberung Ostjerusalems, dem Ort der alten Heiligen Stätten, die Rückbindung an die biblische Erzählung wieder an Kraft.

Heute leben im heiligen Land nicht eigentlich zwei Völker nebeneinander, Israelis und Palästinenser. Schon die Juden zerfallen in zwei Völker in einem, Weltliche und Strenggläubige; und auch die Palästinenser, Muslime und Christen in verschiedensten Fraktionen, bilden eher Flickwerk.

Kampf um Land

Wie steht Israel nun da?

Nach außen glanzvoll, ruhmreich, mächtig wie nie seit König David. Als ein wehrhaftes Volk, mit einer tapferen Armee, einem gefürchteten Geheimdienst, der Atombombe in der Hinterhand. Rückversicherung und sicherer Hafen für die Juden, die noch in der Diaspora leben. Zugleich ein tüchtiges, gebildetes Volk mit hervorragenden Wissenschaftlern, führend in hochtechnischen Wirtschaftszweigen. Und dennoch ein kleines, ein bedrohtes Volk: acht Millionen inmitten von zweihundert Millionen Arabern. Abhängig von Waffen, Geld und Wirtschaftsgütern seiner Schutzmächte, Briten und Franzosen im Anfang, seit den 1960ern vor allem den Amerikanern.

Und, wiederum, in seiner Bedrohtheit doch ein Herrschaftsvolk, das gebietet über andere und sich dabei nicht immer menschlich verhält. Was es von anderen Herrschaftsvölkern nicht unterscheidet und auch nicht von der eigenen Geschichte. Schon die antiken Reiche der Israeliten, in den Zeiten, in denen sie Macht besaßen und nicht von benachbarten Großmächten bedrängt wurden, gehorchten dem Gesetz der Verdrängung, das auf diesem Flecken Erde herrscht, nicht einmal halb so groß wie Bayern, und davon noch zur Hälfte Wüste. Unterwerfung der Nachbarn, Landnahme, Vertreibung sind hier seit jeher traurige Losung. Wer Opfer dieser Regel wird, zieht die Lehre daraus, künftig besser der Starke zu sein; nicht, die Regel an sich abschaffen zu können, daran glauben nur wenige.

Das macht der historische Ballast.


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