Ich, Fichte

Vor 200 Jahren, am 29. Januar 1814, stirbt Johann Gottlieb Fichte im Alter von 51 Jahren an Typhus. Zusammen mit Schelling und Hegel gilt er als Begründer des Deutschen Idealismus. In ihm begegnet uns ein leidenschaftlicher Denker, kompromisslos, verletzlich, stets für die Sache der Freiheit kämpfend.


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Johann_Gottlieb_FichteWenn nicht alles täuscht, kommen die beiden größten deutschen Philosophen aus Sachsen. Friedrich Nietzsche, geboren am 15. Oktober 1844 in Röcken (damals preußische Provinz Sachsen) und Johann Gottlieb Fichte, geboren am 19. Mai 1762 in Rammenau in der Oberlausitz. Ähnlichkeiten im Werdegang fallen ins Auge. Sowohl Nietzsche als auch Fichte besuchten die renommierte Landesschule Schulpforta, aus der viele herausragende Persönlichkeiten (Friedrich Gottlieb Kloppstock, Leopold von Ranke, Theobald von Bethmann Hollweg, um nur einige zu nennen) hervorgingen. Beide studierten auf Druck ihrer Eltern zunächst einige Semester evangelische Theologie, um sich alsbald davon abzuwenden und sich voll und ganz ihrer eigentlichen Bestimmung, dem Philosophieren, hinzugeben. Beider Werk ist durchzogen von zahlreichen Brüchen, bei Nietzsche lassen sich drei Werkphasen unterscheiden, bei Fichte sind es mindestens zwei (Wer das Alterswerk dieser beiden Philosophen liest, wird sich bisweilen wundern, ob er es noch mit den gleichen Autoren zu tun hat, die schon das Frühwerk zu Papier brachten). Beide Denker haben einen glasklaren Schreibstil, verlangen ihren Lesern nichtsdestoweniger große Anstrengungen ab, um richtig verstanden zu werden. Unerreicht ist ihre Meisterschaft, ihr eigenes Denken immer und immer wieder zu reflektieren. Nicht zuletzt teilen Nietzsche und Fichte die Erfahrung, von den Zeitgenossen (und nicht nur von diesen) oft grob missverstanden worden zu sein. Schließlich fällt auf, dass beide Männer dem Gott der Christen näher stehen, als sie es vermutlich selbst je zugegeben hätten. Bei Nietzsche ist es wahrlich nicht leicht, hinter die Maske des „Verächter des Christentums“ zu blicken. Vielfach wird bei seinen scharfen Attacken jedoch übersehen, dass seine Kritik nicht der Person Jesu, sondern der Moral des Christentums gilt. Sein hingehauchtes Bekenntnis zu Jesus Christus bleibt da fast ungehört. Was ist es anderes, als eine Aufforderung an die „tote Christenheit“ zu kompromissloser Jesus-Nachfolge, wenn er im Antichrist schreibt: „bloß die christliche Praktik, ein Leben so wie der, der am Kreuze starb, es lebte, ist christlich“. An anderer Stelle heißt es, es sei nur vernünftig „dem edelsten Menschen (Christus)“ nachzufolgen und mit dem „Christentum den Segen über seine Feinde zu sprechen“.

Auch Fichtes langer Denkweg mündet schließlich in der Erkenntnis, dass das subjektive Ich nicht das Maß aller Dinge sein könne. An die Stelle des absoluten Ichs tritt zum Ende seines Lebens der absolute Gott. Doch bis dahin ist es ein langer Weg.

Lehrmeister Kant

Nach Beendigung seines Studiums schlägt sich Fichte zunächst als Hofmeister durch. Schließlich nimmt er eine Stelle als Hauslehrer in Zürich an; dort lernt er auch seine spätere Frau Marie Johanne kennen, die ihm zeitlebens treu zur Seite stehen wird. Sie ist ihrem Mann Halt und Anker, auch in stürmischen Zeiten. Die Stelle in Zürich muss er schon bald wieder aufgeben. Grund sind nicht überwindbare Differenzen mit den Hausleuten in Fragen der Kindererziehung. Zu Fuß reist er zurück nach Leipzig, und stürzt sich dort Hals über Kopf in die Philosophie Kants, insbesondere versenkt er sich in die Kritik der reinen Vernunft. Doch erst die Beschäftigung mit Kants Kritik der praktischen Vernunft gerät Fichte zum philosophischen Erweckungserlebnis. War er bis zu diesem Zeitpunkt noch Anhänger einer streng deterministischen Weltsicht, gibt er diese nun zu Gunsten der Freiheit des menschlichen Willens auf. Bereits in Kants Kritik der reinen Vernunft hatte dieser die so genannte kopernikanische Wende vollzogen, indem er zur Einsicht kam, dass nicht unsere Erkenntnis sich nach den Gegenständen, sondern umgekehrt die Gegenstände sich nach der Erkenntnis richten. Damit war der Grundstein für den Deutschen Idealismus gelegt. Überhaupt, der deutsche Idealismus! Hier entstand eine weltgeschichtlich neue Form philosophischer Religiosität, die das deutsche, zumal protestantische Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts nachhaltig prägte. Die Konzentration philosophischer Großdenker, wie Kant, Fichte, Schelling und Hegel es zweifellos waren, ist wohl einmalig in der Geschichte des deutschen Geistes.

Fichte wird nun mit Macht von den Umwälzungen, die Kant in der praktischen Philosophie, namentlich in der Kritik der praktischen Vernunft vollbracht hat, erfasst. „Der Einfluss den diese Philosophie, besonders der moralische Teil derselben […] auf das ganze Denksystem eines Menschen, […] auf die Revolution, die durch sie besonders in meiner ganzen Denkungsart entstanden ist, ist unbegreiflich.“ An seinen Freund Weißhuhn schreibt er: „Ich lebe in einer neuen Welt, seitdem ich die Kritik der praktischen Vernunft gelesen habe. Sätze, von denen ich glaubte, sie seien unumstößlich, sind mir umgestoßen; Dinge, von denen ich glaubte, sie könnten mir nie bewiesen werden, z.B. der Begriff einer absoluten Freiheit, der Pflicht u.s.w. sind mir bewiesen […] Es ist unbegreiflich, welche Achtung für die Menschheit, welche Kraft uns dieses System gibt!“ Nach einer kurzen Zwischenstation als Hauslehrer in Warschau macht er sich sogleich auf den Weg nach Königsberg, um Kant persönlich zu treffen. Binnen weniger Wochen verfasst er eine Schrift mit dem Titel Kritik aller Offenbarung, übersendet sie an den Alten aus Königsberg, und wartet auf dessen gnädiges Urteil. Das Werk findet positive Aufnahme bei Kant. Er schlägt ihm vor, das Manuskript zu veröffentlichen. Anonym erscheint es schließlich zu Ostern 1792. Die „Allgemeine Literatur-Zeitung“ druckt eine lobende Rezension des Werkes, ordnet es aber fälschlicherweise Kant zu. Dieser sieht sich daraufhin genötigt, das Missverständnis in einer offenen Erklärung in der „Literaturzeitung“ auszuräumen. Er „habe weder schriftlich noch mündlich auch nur den mindesten Anteil an dieser Arbeit des geschickten Mannes und halte es daher für seine Pflicht, die Ehre derselben dem, welchem sie gebührt, hiermit ungeschmälert zu lassen.“ Damit ist Fichte schlagartig berühmt.

Radikaler Denker der Freiheit

Fichte wird in den Folgejahren weit über Kant hinausgehen, und in unablässiger Arbeit ein spekulatives Gedankengebäude errichten, dargelegt vor allem in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. Die Wissenschaftslehre ist neben Schellings Schriften zur Naturphilosophie und Hegels Phänomenologie des Geistes (1807) eines der zentralen Werke des nachkantischen Idealismus. Fichte hat es in immer neuen Anläufen überarbeitet und ausgebaut. Nicht weniger als 10 Fassungen der Wissenschaftslehre hat er zu seinen Lebzeiten veröffentlicht. Das darin dargelegte System des subjektiven Idealismus kann an dieser Stelle nur knapp umrissen werden: Fichte denkt die Freiheit radikaler als Kant. Er ist nicht länger bereit, die dem Ich auferlegten Beschränkungen durch die es umgebende Welt der Dinge (Kant spricht vom „Ding an sich“) hinzunehmen. Zugespitzt formuliert: Was uns als Welt erscheint, die Gesamtheit der Dinge die uns umgeben, existiert in Wahrheit gar nicht. Sie ist eine Setzung des schöpferischen, freien Ich.

Fichtes Ich-Philosophie gehört mit zum Anspruchsvollsten was in der Philosophie je erdacht worden ist. Das mag mit ein Grund sein, warum uns Nachgeborenen sein Denken so merkwürdig fremd ist. Einzig die Reden an die Deutsche Nation – 14 von Fichte in den Jahren 1807/08 unter Gefahr für Leib und Leben gehaltene Reden in dem von Franzosen besetzten Berlin – haben es zu einiger Popularität gebracht. Leider wurden gerade die Reden, wie Wilhelm G. Jacobs in seiner glänzend geschriebenen Fichte-Biographie (Johann Gottlieb Fichte: Eine Biographie, Insel Verlag 2012, 251 S.) richtig anmerkt, von der Nachwelt nicht als eigenständiges philosophisches Denken wahrgenommen, sondern ideologisch instrumentalisiert. Vor allem von Seiten des Nationalsozialismus wird Fichte geradezu brachial vereinnahmt. Dabei sind die Reden durchaus gehaltvoll, bereits der Zeitgenosse Goethe rühmte „ ihren schönen Stil“.

Doch zurück zur Ich-Philosophie Fichtes. Das Problem des Philosophen Fichte bestand nicht zuletzt darin, dass seine geniale Begabung als spekulativer Denker ihn zu immer neuen Höhenflügen antrieb, wodurch er sich vom gemeinen Leser, aber auch von seinen Fachkollegen, immer weiter entfernte. Das von ihm ersonnene System besitzt ein derart hohes Abstraktionsniveau, dass es kaum noch nachvollzogen, geschweige in Bezug zur Realität gesetzt werden kann. Ob man freilich gleich soweit gehen muss, das ganze System als ein einziges Schwindelunternehmen zu bezeichnen, wie Karl Popper dies in seinem Hauptwerk Die offene Gesellschaft und seine Feinde (1945) tut, sei dahingestellt.

Erschwerend für die positive Aufnahme seiner Werke kommt hinzu, dass Fichte bisweilen herrisch und schroff auftreten konnte, sobald es jemand wagte, ihm Paroli zu bieten. Reinhold, sei Vorgänger in Jena, musste dies leidvoll erfahren, ebenso Schelling und Nicolai. Fichte duldete keinen Widerspruch. Die Möglichkeit eines Irrtums zog er erst gar nicht in Erwägung. Verbalinjurien wie „geborener stumpfer Kopf“, „ungezogner, tölpelhafter Schwätzer“ und „literarisches Stinktier“ aus seinem Mund waren noch vergleichsweise harmlose Beleidigungen. Seine offensichtliche Unfähigkeit, angemessen auf Situationen zu reagieren, die sein Selbstverständnis als Vernunft-Philosoph in Frage stellten, brachte ihm manchen Spott ein.

Bei aller Kritik an der Kühnheit, ja Verwegenheit der Fichteschen Spekulation, darf das hohe Ethos nicht übersehen werden, das dahinter steckt. Noch mehr als Kant ist es ihm darum zu tun, Freiheit und Würde des Menschen gegenüber Natur und Materie zu retten. Schon Goethe stellt sich an die Seite Fichtes, wenn es darum geht, ihn gegen überzogene Kritik zu verteidigen: „Ich fordere nicht, daß jemand ein Kantianer oder Fichteaner werden soll, sondern daß er nur den Ernst, der in Kants Kritik, in Fichtens Idealismus […] ist, zu ehren weiß.“

Vom absoluten Ich zum absoluten Gott

Die Übersteigerung des menschlichen Ich zum absoluten Ich konnte Fichte freilich auf Dauer nicht durchhalten. Ein Wandel seines Denkens kündigt sich nach dem Atheismusstreit an, in dessen Folge er 1799 seine Professur in Jena aufgeben muss. Bis zu diesem Zeitpunkt ist für Fichte, ganz in der Tradition Kants, Religion gleichzusetzen mit Sittlichkeit. Der sittlich gute Mensch lässt sich allein von der Vernunft leiten. Wie wir im konkreten Fall handeln sollen, sagt uns das Gewissen, das niemals irren kann. Nur wenn das Handeln vom Gewissen (bzw. dem Bewusstsein der Pflicht) geleitet wird, hat es sittlichen Charakter. Macht man es von etwas anderem abhängig, dann verzichtet man auf seine Freiheit und damit auf die Möglichkeit, sittlich zu handeln. Fichtes Intention bis zu diesem Zeitpunkt war es, einen rational begründeten Gottesbegriff vorzulegen. Dieser war mit der christlichen Vorstellung eines persönlichen Gottes nicht in Übereinstimmung zu bringen.

In seiner kurz nach seinem Weggang aus Jena verfassten Schrift Die Bestimmung des Menschen (1800) scheint ihm erstmals der hohe Preis bewusst zu werden, den er für seinen subjektiven Idealismus bezahlen muss.  Konsequent zu Ende gedacht wartet hinter dem absoluten Ich die absolute Leere, Auflösung, Nihilismus. In den Worten Wilhelm Weischedels: Außer ihm (dem absoluten Ich) existiert nichts, weder ein Gott noch ein anderer Mensch noch eine Welt. Es selber aber existiert in kältester Einsamkeit. Es ist zwar frei. Aber was kann es in einer unwirklich gewordenen Wirklichkeit mit dieser seiner Freiheit anfangen?

Spätestens in seiner Schrift Anweisungen zum seligen Leben (1806) wird die Revision seiner bis dahin vertretenen religionsphilosophischen Grundposition offensichtlich. Dem Religiösen wird nun eine eigene Wirklichkeit zugestanden, dass der Subjektivität vorausgeht. Hinter dem absoluten Ich zeigt sich ihm etwas größeres, der absolute Gott. Derjenige Mensch gilt ihm nun als frei, der sein Selbst aufgibt und durchsichtig wird für Gottes Wirken. In einem seiner Sonette heißt es: „Gar klar die Hülle sich vor dir erhebet,/Dein Ich ist sie: es sterbe, was vernichtbar,/ Und fortan lebt nur Gott in deinem Streben./ Durchschaue, was dies Sterben überlebet,/ So wird die Hülle dir als Hülle sichtbar;/ Und unverschleiert siehst du göttlich Leben.“ Ob Fichtes Spätwerk, insbesondere die noch auf dem Sterbebett verfasste letzte Version seiner Wissenschaftslehre, mit der Lehre des Christentums vereinbar ist, darüber mag man trefflich streiten. Unstrittig ist die grundlegende Wandlung der religiösen Anschauungen Fichtes. Sein absolutes Ich ist ihm am Ende nicht mehr haltbar.

Was bleibt von Fichte? Er ist in erster Linie der geniale Denker der Wissenschaftslehre, der Erfinder und Begründer des subjektiven Idealismus. Man tut ihm Unrecht, wenn man ihn auf das irrational-nationale Element seines Denkens reduziert, das man in den Reden an die Deutsche Nation zu erkennen glaubt. Sein existentielles Pathos mag uns heute fremd erscheinen. Seine intellektuelle Leistung mindert das nicht.

Wie kann man sich dem großen Denker Fichte heute nähern? Ganz einfach, indem man seine Schriften liest. Der 200. Todestag ist eine gute Gelegenheit dazu.


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Stefan Martin

geb. 1979, Ingenieur, VDSt Freiberg.

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