Im Museum angekommen

Der 300. Geburtstag Friedrichs des Großen bewegt die Historikerzunft, viele Neuerscheinungen und Ausstellungen verteilen sich übers Land. Aber die großen Kontroversen bleiben aus; der Umgang mit dem Preußenkönig ist entspannter geworden.


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Friedrich_Zweite_AltEinmal erwischt es jeden. Bei manchen dauert es nur wenige Jahre, bei anderen dauert es Jahrhunderte: Irgendwann aber sind alle wesentlichen Kämpfe gekämpft, alle Debatten geführt und selbst Geschichte, Rezeptionsgeschichte, geworden; und dann wird  die historische Figur vom Streitgegenstand zum bloßen Dekor in der langen Galerie der großen Männer der Geschichte. Bei Friedrich II., König von Preußen, genannt „der Große“, scheint dieser Augenblick zu nahen.

Die meisten und heftigsten Debatten kreisen um Recht und Unrecht, Gut und Böse; aber irgendwann einmal sind die Toten lange genug tot, die Paläste zerfallen, die Schwerter gerostet. Wer fragt heute noch danach, wer im Recht war beim Streit zwischen Rom und Karthago, ob Scipio den gerechten Krieg führte oder Hannibal? Ob Kaiser Konstantin der legitime Sieger des römischen Bürgerkrieges war und moralisch richtig handelte, als er dem Christentum zur Durchsetzung als Staatsreligion verhalf? Wer will heute noch die legendäre Debatte nachspielen, die der Kardinal Cajetan und der Doktor Martin Luther in Augsburg führten, und disputieren, ob Reform oder Revolution der richtige Weg zur Heilung einer kranken Kirche ist?

Irgendwann endet das Getöse, wird eine historische Persönlichkeit eine wie jede andere im Wachsfigurenkabinett, und was von ihren Taten Teil des kollektiven Gedächtnisses, der mentalen Einrichtung der Völker bleibt, hat oft eher anekdotischen Charakter. Von Hannibal bleiben seine Elefanten. Von Konstantin bleibt die Vision vor der Schlacht an der Milvischen Brücke. Von Luther bleibt der Junker Jörg.

Was bleibt von Friedrich dem Großen? Hohenfriedberg? Sanssouci? Die Flötenkonzerte? Die Windhunde?

Mann der Widersprüche?

Vielleicht auch einfach seine Vielseitigkeit. Traditionell hatten sich ja zwei sehr gegensätzliche Friedrich-Bilder herausgebildet, die, obwohl sie in sehr verschiedenen Epochen vorherrschend waren, nämlich im frühen und im späten 20. Jahrhundert, im Grunde beide noch aus Friedrichs Zeit stammten, nämlich seiner eigenen Propaganda und der seiner Feinde nachgeformt waren und in ihrer Zeit durchaus auch nicht frei von Propaganda und vom Kampf um die geschichtspolitische Deutungshoheit.

Das freundlichere der beiden Bilder, das vom Alten Fritz, dem gutmütigen Landesherrn, findet man noch in alten Schulbüchern, illustriert mit den Malereien Adolph Menzels und rührseligen Kupferstichen, garniert mit einprägsamen Zitaten. Es ist ein sympathisches Bild mit einem gemütlichen, freilich inzwischen etwas angestaubten Charme, wie ihn auch eine alte Kommode oder ein altes Plüschsofa haben. Es betont vor allem Friedrichs innenpolitische Seite: den aufgeklärten Monarchen, den fortschrittlichen Reformer, der die staatliche Pressezensur milderte („Gazetten dürfen nicht genieret werden“), die Folter bei polizeilichen Verhören einschränkte, weitgehend religiöse Toleranz walten ließ („Jeder nach seiner Façon“); den König der kleinen Leute, der sich um die Bauernbefreiung mühte, Fälle von Klassenjustiz behob, gleichzeitig den Rechtsstaat voranbrachte („In den Gerichtshöfen müssen die Gesetze sprechen und muss der Souverän schweigen“) und sich um die Entwicklung des Allgemeinen Landrechts verdient machte; den Entwickler des Landes, der Schulen baute, Sumpfgebiete trockenlegte, zur besseren Versorgung der Bevölkerung die Kartoffel einführte und höchstpersönlich kontrollierte, ob die Bauern sie auch anbauten; ebenso den kunstsinnigen Philosophenkönig und fürstlichen Mäzen, der Theater und Schlösser baute, Potsdam zur Residenzstadt machte, die großen Köpfe seiner Zeit an seinen Hof holte und mit Voltaire diskutierte, durchaus auch selbst respektabel dichtete und komponierte und Flötenkonzerte gab; und soweit seine Außenpolitik und seine Kriege zur Sprache kommen, klingt eher Bewunderung an für die „fritzische Verwegenheit“, mit der er seine ihm meist überlegenen Feinde überraschte und mit der er seine Schlachten führte, ebenso wie Sympathie für seine soldatische Bescheidenheit, mit der er sich („erster Diener des Staates“) unter seinen Männern bewegte in der immergleichen abgewetzten Uniform.

Daneben trat jedoch ein anderes Bild, das, immer schon von Friedrichs Gegnern gezeichnet, vor allem vorherrschend wurde, nachdem es Preußen und seine Könige nicht mehr gab und nicht die Hausgeschichte der Hohenzollern, sondern andere Kontinuitätslinien in den Fokus der Historiker gerieten. Zuallererst ist es das Bild vom Eroberer, der sich um Rechtsprinzipien wenig scherte und, wann immer es sich anbot, auf Beutezug ging: Schlesien gewaltsam besetzte, als Österreich schwach war, sich bei der ersten polnischen Teilung Westpreußen aneignete, ohne sich um einen rechtlichen Vorwand auch nur zu bemühen; das Bild vom Kriegstreiber, in dessen Heer brutale Zustände herrschten mit Zwangsrekrutierung und Spießrutenlaufen, der in Angriffskriegen unendlich viel Blut vergoss und dessen ungestümes Vorgehen im Feld nicht nur zu glorreichen Siegen führte wie in Leuthen, Rossbach oder Zorndorf, sondern ebenso zu vernichtenden Niederlagen wie in Kunersdorf, mit katastrophalen Verlusten; das Bild vom Nihilisten, dem Gott und die Menschen nichts galten und für den die Vergrößerung seines Staates und seines Heeres die einzige Maxime bildete; und im übrigen auch das Bild des Zynikers, des Unsympathen, der sich in eitler Selbstdarstellung gefiel, seine Umgebung schikanierte und seine Gattin, die der Vater ihm noch gegen seinen Willen aufgenötigt hatte („Ich will keine Gans zur Frau haben“), auf schäbige Weise abschob und ignorierte und damit zu einem jahrzehntelangen inneren Exil verdammte.

Kind seiner Zeit

Zwischen diesen beiden Bildern, schwarz und weiß wie eine preußische Fahne, herrschte jahrzehntelang heftiger Wettstreit, mal siegte das eine, mal das andere. Inzwischen hat sich weitgehend die Ansicht durchgesetzt, dass beide Bilder stimmen – und auch wiederum keines von ihnen. Beide haben ihre Berechtigung, sind auch keineswegs unvereinbar – verschiedene Charakterzüge eines Königs des 18. Jahrhunderts sind nicht deshalb unvereinbar, weil wir die eine Hälfte davon heute bejahen und die andere Hälfte moralisch verdammen –, aber beide muss man relativieren. Nicht so sehr, weil die Bilder einförmig und überspitzt sind, weil man etwa über Friedrichs innenpolitische Reformbilanz auch kritisch urteilen kann, gelegentlich Widersprüche auftraten und manches Ankündigung und Programm blieb, Pressezensur etwa durchaus weiterhin stattfand, es eine Bauernbefreiung nur auf den staatlichen Domänen gab, weil es auf den Landadel Rücksicht zu nehmen galt („Denn ihre Söhne sind es, die das Land defendieren, davon die race so gut ist, das sie auf alle Weise meritieret, konservieret zu werden“), die Unabhängigkeit der Justiz sich mit den persönlichen Eingriffen des Königs, wie etwa im berühmt gewordenen Fall des Müllers Arnold, nicht vertrug; das alles schmälert Friedrichs Verdienste nicht, in viereinhalb Jahrzehnten Regierung gibt es ganz zwangsläufig auch Rückschläge und Kurswechsel. Nein, relativieren muss man vor allem aufgrund des Vergleichs mit anderen europäischen Ländern. Denn Friedrich war in vielem, was er tat, durchaus ein Kind seiner Zeit.

Es ist ja wahr: Friedrich der Große war ein aufgeklärter Monarch, er marschierte an der Spitze des Fortschritts. Aber wahr ist auch, dass er damit im damaligen Europa keine singuläre Erscheinung war; viele Staaten versuchten sich damals im sogenannten aufgeklärten Absolutismus, die kleinen und mittleren zumal, aber durchaus auch Friedrichs große Nachbarn mühten sich um Reformen, Österreich unter Joseph II., Russland unter Katharina der Großen. Friedrich mag in manchem schneller und konsequenter gewesen sein, er hatte in seinem territorial zerteilten, immer noch kleinen, rückständigen Agrarstaat Preußen auch gewiss schlechtere Voraussetzungen als andere Staaten, insofern bleibt seine Politik eine staunenswerte Leistung; aber er fällt nicht völlig aus der Zeit.

Völlig aus der Zeit fällt er allerdings auch nicht mit seiner aggressiven, man mag auch sagen: räuberischen Außenpolitik. Die Mächte des 18. Jahrhunderts führten ständig Krieg um Macht und Einfluss und Gebietsgewinne. Franzosen, Engländer, Österreicher, Russen, Türken, Schweden, Holländer, Spanier: Sie alle kämpften um ihre Stellung in einem europäischen Mächtegefüge, das im Fließen war und in dem es kein stabiles Gleichgewicht gab; das erreichte erst viel später, 1815, der Fürst Metternich, nachdem sich alle gegen Napoleon müde gekämpft hatten. Zu Friedrichs Zeit, mit den weitverzweigten europäischen Herrscherfamilien, die über Generationen in vielen Ländern Anwartschaften auf Thron und Krone erworben hatten, konnte jede unklare Erbfolge in Klein- oder Mittelstaaten leicht zu einem großen Krieg führen. Und niemand fand etwas dabei, wenn sich ein Staat dabei auf Kosten des anderen bereicherte, ob er nun ein legitimes Anrecht auf ein Territorium nachweisen konnte oder nicht. Als der Kaiser in Wien ohne männlichen Erben starb und seine Tochter Maria Theresia das Erbe antrat, war unmittelbar klar, dass ihr Anspruch angefochten und Österreich außenpolitisch unter Druck geraten würde; Friedrich nutzte die Chance und besetzte Schlesien. Aber er – und nicht etwa das überfallene Österreich – fand sofort Verbünde, die ihren Teil der Beute abgreifen wollten: Bayern, Sachsen, Frankreich. Und als rund dreißig Jahre später die erste polnische Teilung stattfand, bei der Friedrich das für ihn strategisch wichtige, überdies weitgehend von Deutschen besiedelte Westpreußen erwarb, beteiligten sich daran Russland und (wenn auch widerwillig) Maria Theresias Österreich; zur Verteidigung Polens schritt niemand ein. Außenpolitik funktionierte im 18. Jahrhundert eher wie auf dem Basar als wie auf dem diplomatischem Parkett, und viele Herrscher agierten mehr als Räuberhauptleute denn als Monarchen. Mag sein, dass Friedrich es mit seinem kleinen Preußen, das so neu auf der Staatenbühne war – erst seit 1701 war es Königreich –, besonders keck trieb. Aber auch hiermit fällt er nicht aus dem Rahmen seiner Zeit heraus.

Der zerrissene König

Aus der Zeit fällt er eher durch seine Vita und durch seinen Charakter. Schon in seiner Prinzenzeit ist er eine europäische Berühmtheit, was freilich zum größten Teil dem bitteren Konflikt mit seinem Vater zu verdanken ist, Friedrich Wilhelm I., dem Soldatenkönig, einem einfachen, nüchternen, gottesfürchtigen Mann, der Preußen im Innern entwickelt, durchaus auch aufrüstet, aber den Frieden hält; leider aber privat zum Jähzorn neigt und zum ungezügelten Prügeln. Die zwei so unterschiedlichen Charaktere geraten aneinander, woran der Kronprinz mit penetranter Aufsässigkeit gewiss seinen Anteil hat; der Streit spitzt sich zu bis hin zu Friedrichs spektakulärem Fluchtversuch, der ihm die Festungshaft einträgt und seinen Freund Katte das Leben kostet. In diesem Streit ist die Sympathie der Zeitgenossen wie auch der Nachgeborenen fast immer auf Seiten des ungehorsamen, geistreichen Sohnes, nicht des strengen, schlichten Vaters; und als Friedrich seinen „Antimachiavell“ schreibt und nach der Thronbesteigung sein innenpolitisches Reformprogramm verkündet, sind ihm die europäischen Eliten, die dem aufgeklärten Zeitgeist zugetan sind, endgültig gewogen. Freilich übersehen sie dabei, wie sehr der junge König durch den Dauerstreit seelisch verletzt und verhärtet und nun gewillt ist, das „scheußliche Handwerk“, das ihm durch sein Amt aufgetragen, hart gegen sich und hart gegen seine Untertanen, anzugehen.

Friedrich ist zum Zyniker geworden, der gerne sich selbst und seine Zeit verspottet. Für seinen ersten schlesischen Krieg etwa, nur ein halbes Jahr nach seiner Thronbesteigung, hat er eine recht abenteuerliche Begründung abgegeben: „Meine Jugend, das Feuer der Leidenschaften, Begierde nach Ruhm, (…) die Neugierde und ein geheimer Naturtrieb haben mich der sanften Ruhe, die ich genoß, entrissen, und das Vergnügen, meinen Namen in den Zeitungen und künftig auch in der Geschichte zu sehen, haben mich verführt.“ Dieses Selbstzeugnis ist, wie alles bei Friedrich, doppelbödig. Er war zweifellos ein sehr eitler, sehr stolzer Mann; aber es war ein bitterer, ein einsamer Stolz, und die bissige Selbstironie oft nicht mehr als Pose, nur nach außen vorgetragen. Friedrich Nietzsche, hellsichtiger Psychologe, hat einmal, in Jenseits von Gut und Böse, einige Sätze geschrieben, die wie auf Friedrich gemünzt zu sein scheinen: „Alles, was tief ist, liebt die Maske. (…) Es gibt Vorgänge so zarter Art, dass man gut tut, sie durch eine Grobheit zu verschütten und unkenntlich zu machen. (…) Ich könnte mir vorstellen, dass ein Mensch, der etwas Kostbares und Verletzliches zu bergen hätte, grob und rund wie ein grünes altes Weinfass durchs Leben rollte: die Feinheit seiner Scham will es so.“

In der Kontinuität preussischer Geschichte

Man muss sich aber hüten, Friedrichs charakterlichen Eigenheiten zu viel Gewicht beizumessen und seine politischen Handlungen im Wesentlichen psychologisch erklären zu wollen. So abenteuerlich seine Politik auch zeitweilig war, so sehr ist sie in Sachzwängen verhaftet, ist sie durch den europäischen Vergleich ebenso zu relativieren wie durch den Vergleich mit seinen Vorgängern und Nachfolgern. Zwei Beispiele mögen das kurz illustrieren: seine von religiöser Toleranz geprägte Einwanderungspolitik, die auch heute noch Beifall findet; und seine Feindschaft zu Polen, die als eine seiner gefährlichsten Hinterlassenschaften gilt.

Was die Einwanderungspolitik betrifft: Preußen als dünn besiedeltes, noch stark agrarisch geprägtes Land ohne ein ausgeprägtes städtisches Bürgertum konnte die Zuwanderung von gut ausgebildeten, wirtschaftstüchtigen Menschen aus seinen Nachbarländern gut brauchen; und weil es ansonsten wenig Standortvorteile anzubieten hatte, verlegte es sich unter anderem darauf, Flüchtlinge bei sich aufzunehmen, die anderswo aus religiösen Gründen verfolgt wurden, im eigenen Lande also religiöse Toleranz zu praktizieren. Friedrich der Große hat auch diese Politik nachdrücklich verfolgt, und seine Aussprüche hierzu sind berühmt geblieben: „Alle Religionen sind gleich gut. Und wenn Türken und Heiden nach Berlin kommen, so wollen wir Moscheen für sie bauen; wenn sie nur das Land bevölkern.“ Er war aber nicht der erste und auch nicht der letzte preußische Herrscher, der so handelte. Schon unter dem Großen Kurfürsten war in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine große Zahl an Hugenotten eingewandert, die in Frankreich verfolgt worden waren. Unter Friedrichs Vater – selbst Calvinist – folgte eine große Zahl an Salzburger Lutheranern, die vor ihrem katholischen Erzbischof flohen. Friedrich führte also nur fort, was seine Vorgänger bereits angefangen hatten. Und wie sie handelte auch er nicht nur aus menschenfreundlichen Motiven: Es galt, Preußen stark zu machen, wirtschaftlich und militärisch; Toleranz und Einwanderungspolitik waren Mittel hierzu und nicht Zweck.

Ähnlich verhält es sich mit Friedrichs Polenpolitik und – man muss es so drastisch sagen – Polenphobie. Die Geschichte der preußisch-polnischen Feindschaft war zu Friedrichs Zeit bereits Jahrhunderte alt. Das eigentliche Preußen, das alte Ordensland im Osten, einst eine unabhängige Klerikalrepublik, war im 15. Jahrhundert unter polnische Oberhoheit geraten, Westpreußen direkt dem polnischen Staat einverleibt, Ostpreußen zum polnischen Lehen umgewandelt worden. Und seit die Hohenzollern, Markgrafen von Brandenburg, in Personalunion auch in Ostpreußen regierten, wurden sie zu natürlichen Gegnern Polens und waren bestrebt, die polnische Oberhoheit abzuschütteln; das gelang dem Großen Kurfürsten, und sein Nachfolger, Friedrich I., wurde dann der erste König „in“ Preußen (noch nicht „von“ Preußen, darauf hatten die Polen bestanden). Und ebenso lag es im Interesse der Hohenzollern, Westpreußen wiederzuerwerben und so die Landverbindung zwischen ihren Territorien herzustellen. Das gelang Friedrich dem Großen im Rahmen der ersten polnischen Teilung 1772. Und auch seine Kriege um Schlesien kann man mit der Gegnerschaft zu Polen in Zusammenhang bringen: Denn Polen war seinerzeit mit Sachsen durch Personalunion verbunden, die Wettiner regierten als Könige in Sachsen und in Polen; hätten sie im Rahmen eines österreichischen Erbfolgekrieges Schlesien erworben, wäre die Mark Brandenburg von ihnen eingekreist gewesen. Also griff Friedrich als erster zu. Sein Nachfolger beteiligte sich an den weiteren polnischen Teilungen, bis Polen gänzlich unter den Nachbarstaaten aufgeteilt war. Die preußischen Regierungen bemühten sich in der Folge, ihre neuen polnischen Untertanen zu integrieren, mit mäßigem Erfolg; unter Bismarck wurde dann eine regelrechte Germanisierungspolitik betrieben – eine traurige Geschichte, wie man zugeben muss, und eine böse Tradition. Aber, und das ist für uns hier das entscheidende: Friedrich der Große hat sie nicht begonnen; seine Rolle ist nicht wesentlich anders als die seiner Vorgänger und Nachfolger.

Apotheose und Höllensturz

Freilich, Kontinuitätsthesen sind nicht ganz ungefährlich, und dass das Bild von Friedrich dem Großen in der Geschichte immer wieder verzerrt worden ist, hängt wesentlich damit zusammen, dass – durchaus absichtsvoll – falsche Kontinuitäten zu späteren Zeiten konstruiert wurden.

Die erste dieser konstruierten Kontinuitäten ist die zur Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts. Nach 1871, als die deutsche Einheit mit preußischen Kanonen hergestellt worden war und die Könige von Preußen auch Deutsche Kaiser hießen, wurde sie Teil der Hauslegende der späten Hohenzollern, und insbesondere Wilhelm II. war bemüht, sich in die Traditionslinie seines großen Vorfahren zu stellen. Die Historiker, von Droysen über Ranke bis Treitschke in zunehmendem Maße, waren bemüht, Friedrich und dem Preußen seiner Zeit bereits eine deutsche Sendung nachzuweisen und Friedrichs Politik als die ersten Schritte hin zur Einigung Deutschlands unter preußischer Führung darzustellen. Und als in den 1920er Jahren im neuen Medium Film Friedrich dann, dargestellt vom Schauspieler Otto Gebühr, zur wichtigsten Historienfigur auf der Leinwand avancierte, war er endgültig zu einer Art deutschem Nationalhelden geworden.

Friedrich selbst hätte das ziemlich fern gelegen. Bekanntlich war er der französischen Kultur deutlich mehr zugetan als der deutschen, er verachtete regelrecht die deutsche  Philosophie und Literatur seiner Zeit, seine eigenen Gedichte – ein durchaus umfangreiches Oeuvre – sind durchgehend in französischer Sprache geschrieben. Krieg führte Friedrich in wechselnden Koalitionen gegen Russland, Schweden, Frankreich, aber auch gegen das urdeutsche Sachsen und gegen das kaiserliche Österreich, dessen Vormacht im alten Heiligen Römischen Reich er zurückdrängte und damit den deutschen Dualismus eröffnete, den dann erst Bismarck 1866 entschied. Aber in Friedrichs Absicht lag das nicht, ebenso wenig wie die Begründung der deutsch-französischen Erbfeindschaft; die beginnt, wenngleich es nach Friedrichs Schlacht bei Rossbach dazu erste Vorzeichen gibt, erst wirklich mit Napoleon. Am Entstehen des deutschen Nationalstaats oder auch nur des deutschen Nationalismus kann man Friedrich kein Verdienst zusprechen; und sicherlich auch keine Verantwortung für die Verirrungen, denen dieser Nationalismus dann später verfiel. Ja, Friedrich der Große wurde Teil einer deutschnationalen Geschichtslegende, er wurde von den Nationalsozialisten für ihre Zwecke eingespannt; er wurde, das darf man annehmen, von führenden Vertretern des Regimes insbesondere für seine kühne Kriegspolitik ehrlich bewundert – noch ganz am Ende, im Führerbunker, hing ein Porträt Friedrichs über Hitlers Schreibtisch und erhoffte man sich eine wundersame Errettung in letzter Stunde, in Erinnerung an das „Mirakel des Hauses Brandenburg“, das Friedrich vor der Niederlage im Siebenjährigen Krieg bewahrt hatte. Aber niemand kann sich seine Bewunderer aussuchen, und das gleiche Schicksal wie Friedrich hat Hermann den Cherusker und den Kaiser Barbarossa ereilt. Wirkliche, nicht nur eingebildete Kontinuitäten zwischen dem kultivierten, frankophilen, pflichtbewussten Preußenkönig und dem Wiener Plebejer Adolf Hitler nachzuweisen, ist sehr schwer.

Etwas anders sieht es mit den Kontinuitäten zur spätpreußischen Politik aus, insbesondere unter Wilhelm II. Zu groß sind die Ähnlichkeiten zwischen der Konstellation am Vorabend des Ersten Weltkriegs mit dem eingekreisten Kaiserreich und dem Beginn des Siebenjährigen Krieges mit Friedrichs eingekreistem Preußen; zwischen den diplomatischen Fehlern Bülows und Holsteins und Friedrichs Konvention von Westminster, mit der er sich Frankreich zum Feind machte; zwischen dem überstürzten Beginn des Ersten Weltkriegs mit dem Einmarsch ins neutrale Belgien und Friedrichs Präventivschlag mit dem Einmarsch ins neutrale Sachsen; zwischen Reichskanzler Bethmann Hollweg, der dem Deutschen Reichstag und der Welt offen erklärte, man begehe mit dem Einmarsch Unrecht, und Friedrich, der seinen eigenen Rechtsbruch nicht bemäntelte und, als sein Minister Podewils sich anschickte, einige zweifelhafte Erbansprüche auf Teile Schlesiens hervorzukramen, darauf nur meinte, das sei das Werk eines tüchtigen Scharlatans. Freilich, Friedrich geriet in diesem Krieg in höchste Not und erkannte seine Fehler, als die, die sie waren; dass sie geringer erschienen, weil er den Krieg gegen alle Erwartung und Wahrscheinlichkeit überstand, und dass andere sie später in ähnlicher Form wiederholten, ist nicht ihm anzulasten. Sein Expansionismus machte allerdings auch Schule, wie Rudolf Augstein in seinem Friedrich-Buch ausgeführt hat: „Nun war Preußen gewiss nicht das einzige Territorium, dessen Fürsten sich vergrößern wollten. Geographische, wirtschaftliche, strategische, auch Gründe allgemeiner Machtentfaltung mochten dabei geltend gemacht werden. Aber man wird keinen zeitgenössischen Fürsten finden, der die Vergrößerung in äußerster Zuspitzung auf den einfachen Nenner gebracht hatte: ‚Ich wünschte, dass wir Provinzen genug besäßen, um 180000 Mann, also 44000 mehr als jetzt, zu unterhalten.‘ Der dies 1752, 40 Jahre alt, in seinem ersten Testament niederschrieb, hatte sein Territorium zehn Jahre zuvor um fast ein Viertel, dessen Bevölkerungszahl um ein Drittel, seine Wirtschaftskraft beträchtlich vermehrt, ohne einen anderen Rechtstitel als eben den, Preußen sei zu klein. Dass Preußen größer werden müsse, um mehr Soldaten zu haben, die eben dieses Größerwerden ‚gegen eine Welt von Feinden‘ abschirmen konnten, defensiv versteht sich, wurde das konstituierende Prinzip Preußen-Deutschlands, bis hin zu Ludendorffs ausschweifender Absicht, die Krim samt ihren Tartaren für Deutschland zu rekrutieren.“ Augstein übergeht hier allerdings den spätpreußischen Politiker Bismarck, der Preußen richtigerweise schon nach 1866 für saturiert erklärte („Wir dürfen niemals weiter gehen, als unser Vorrat an preußischen Offizieren reicht“), und übergeht ebenfalls, dass weder Kaiser Wilhelm II. noch der General Ludendorff sich in erster Linie als Vertreter Preußens verstanden; sie vertraten bereits einen deutschen Imperialismus, der weit mehr an den Weltmächten ihrer Zeit orientiert war als am alten Preußen Friedrichs des Großen.

Nun – Augsteins Pamphlet „Preußens Friedrich und die Deutschen“ ist mittlerweile selbst über vierzig Jahre alt und ein Stück Geschichte geworden, ein Spiegelbild der hohen Tonlage, in der die Debatten um Friedrich in der Nachkriegszeit stattfanden, mit der possenhaften Aufregung anlässlich der Umbettung nach Sanssouci im Jahr 1991 als vielleicht letztem Beispiel. Inzwischen ist die Nachkriegszeit beendet, Berlin wieder Hauptstadt, das wiedervereinigte Deutschland dennoch recht unpreußisch und vielleicht gerade deswegen in Europa angekommen – und Friedrich der Große damit vor allem eines: historisch sehr weit weg. Nicht alle Streitigkeiten um seine Person sind beigelegt, aber die Diskussionen sind weit weniger schrill als früher.

Nicht beigelegt ist beispielsweise auch die Diskussion um seinen Rang und seinen Titel. Noch heute ist es eine Art geschichtspolitisches Bekenntnis, ob man ihn „den Großen“ nennt oder schlicht Friedrich den Zweiten. Auch diese Diskussion ist nicht neu, um 1800 schon sprachen ihm wortmächtige Publizisten den Titel ab, weil er das alte römisch-deutsche Reich zertrümmert hatte und nicht national genug gewesen war; nach dem Zweiten Weltkrieg galt er dann als zu kriegerisch. Wie die Bewunderer, so wechseln  auch die Gegner. Die Diskussion wirkt dennoch merkwürdig kleinlich. Theodor Schieder hat in seiner Friedrich-Biographie ganz richtig festgestellt: „Der Beiname ‚der Große‘ ist kein Preis, den eine weltgeschichtliche Jury verleihen kann; er beruht auf höchst subjektiven Wertungen, deren Kriterien nicht messbar und nicht feststehend sind.“ Vor allem ist historische Größe nicht gleichzusetzen mit moralischer Größe, schon gleich gar nicht mit Gut und Böse nach unseren heutigen Wertmaßstäben. Sonst würde wahrscheinlich Alexander von Makedonien, von Beruf nie etwas anderes als Eroberer, ebenso wenig als groß gelten wie der Frankenkönig Karl, der Sachsenschlächter. Nun, deren Kriege liegen noch länger zurück; wahrscheinlich ist Friedrich doch noch nicht lange genug tot, um gänzlich gelassen mit ihm umzugehen.

Friedrich der Unsterbliche

Friedrichs Beiname „der Große“ geht vermutlich auf seinen Bewunderer Voltaire zurück, ebenso wie dessen Wunsch, Friedrichs Name möge unsterblich bleiben. Dafür bestehen gewisse Aussichten; Friedrichs Kriege sind Vergangenheit, sein Staat besteht nicht mehr, dennoch ist das Interesse an ihm gleichbleibend groß. Seinen Platz im Museum hat er sicher.

Hat er noch mehr sicher, hat er uns heute noch etwas zu sagen? Und wenn nicht uns, womöglich manchen Staaten im fernen Asien, die sich seinen Weg der autoritären Modernisierung, des Rechtsstaates ohne Demokratie, vielleicht zum Vorbild nehmen, wie so mancher Ausstellungskurator in diesen Tagen meint, um aktuelle Bezüge bemüht?

Geschichte ist gewiss keine simple Handlungsanweisung für die Gegenwart, und die Analogien trügen. Spinoza meinte einmal, man solle alle Dinge aus dem Blickwinkel der Ewigkeit betrachten, „sub specie aeternitatis“, und nicht bloß aus dem Hier und Heute heraus. Aus dem Blickwinkel der Ewigkeit, also auch jenseits dessen, was wir heute für gut und für böse halten, ragt am Ende sicherlich Friedrichs Leistung als Feldherr im Siebenjährigen Krieg heraus. Sie ist wahrhaft monumental: gegen vielfache Übermacht, am Anfang mit militärischem Geschick, mit Preußens Gloria, zum Ende hin nur mehr mit purem Durchhaltewillen, den Untergang täglich vor Augen und zum Tode bereit. („Es ist nicht nötig, dass ich lebe, wohl aber, dass ich meine Pflicht tue.“) Dieser eigentlich geschlagene, aber dennoch zäh weiterkämpfende Friedrich ist es vermutlich auch, der am ehesten den Titel „der Große“ verdient. „Wenn andere längst ihre Sache verloren sahen“, so noch einmal Theodor Schieder, „gab Friedrich sein Ziel, die Erhaltung seines Staates, nicht auf. Es genügt nicht, diese Haltung als Trotz, Starrsinn, oder überheblichen Stolz abzuwerten, es war vielmehr eine im Geistigen begründete Zuversicht, die ihn zu außerordentlichen Taten befähigte. Der Geschlagene von Kunersdorf erscheint dann menschlich größer als der Sieger von Hohenfriedberg.“


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