Ist die Moderne unmodern geworden?

Viele Menschen fragen sich: In welcher Zeit leben wir eigentlich? Ist es eine gute Zeit oder nicht? Oder etwas genauer gefragt: Was ist gut, was nicht? Dies sind einfache Fragen, die aber nicht einfach zu beantworten sind. Zu groß ist die Bandbreite der subjektiven Beurteilung. Für die einen leben wir in der besten aller Welten. Sie sehen natürlich auch der Zukunft mit einem naiven „Alles-wird-gut-Optimismus“ entgegen.


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20100402-ist-die-moderne-unmodern-geworden_16x9Andere führen dagegen ein Leben voller psychischer, materieller oder kultureller Not, das oft auch noch von pessimistischen Zukunftsängsten begleitet wird. Beide Haltungen, also sowohl blinder Optimismus als auch bleierne Resignation sind bedenklich und gefährlich. Angemessen wäre heute vielmehr eine realistische und illusionslose Betrachtung der Zeit. Und ein aktiver Optimismus, der sich dafür einsetzt, den erkannten Gefahren zu begegnen und geeignete Maßnahmen und Kurskorrekturen zu unterstützen, mit denen negative Auswirkungen gebremst oder abgefedert werden können.

Was bedeutet es zunächst, wenn wir feststellen, im Zeitalter der Moderne zu leben? Der Begriff Moderne steht für die epochalen Umwälzungen als Folgen der neuzeitlichen Naturwissenschaft und Technik; sowie der industriellen Produktionsmethoden, in Verbindung mit den Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution. Die beiden letzteren Ereignisse bezeichnet man auch als „politische Moderne“. Heute drängen sich daraus ganz neue Fragen auf: Wie haben sich diese revolutionären Vorgänge ausgewirkt? Was hat sich unverändert bewährt, was nicht? Wie geht es weiter? Fragen jedenfalls, die jeden betreffen, da die Moderne und der mit ihr verbundene Zeitgeist, so massiv wie noch kein Zeitalter zuvor, in das Leben aller Menschen eingreift: individuell, politisch, gesellschaftlich, technisch, geistig, kulturell, ethisch.

Wie empfinden heutige Menschen die Moderne vordergründig? Kurz und bündig könnte man dies vielleicht so beschreiben: immer neuer, immer schneller, immer anders, immer schriller, immer weiter und immer undurchsichtiger – kein Ziel, kein Fixpunkt. Die Antike dachte noch zyklisch, das Mittelalter linear, aber letztendlich auf das Ziel der Erlösung gerichtet. Die ebenfalls linear ausgerichtete Moderne verzichtet dagegen ganz auf teleologische Aussagen, auf Ziele. Habermas spricht daher auch vom unvollendeten Projekt der Moderne. Wie seine Vollendung aussehen könnte oder sollte, erklärt er nicht. Auffallend ist jedenfalls dieser ewige Veränderungs- und Novitätendrang der Moderne. Das Tempo  hat sich in unserer Zeit zweifellos beschleunigt. Neu und anders gilt fast automatisch als gut, Überliefertes und Konstantes als schlecht, als veraltet. Wer gar als konservativ angesehen wird, ist politisch suspekt. Es ist kein Zufall, dass Innovation, Wandel, Reformen und Mobilität zu den wichtigsten Schlagworten unserer Zeit gehören. Noch nie in der Geschichte hat das heutige Neue das gestrige in so schnellem Tempo abgelöst. Es scheint offenbar völlig in Vergessenheit geraten zu sein, dass zu den menschlichen Bedürfnissen Veränderung und Kontinuität gehören, auch wenn die Relation zwischen beiden individuell verschieden ist. Das Wort Hektik hat übrigens in der deutschen Sprache erst vor hundert Jahren allmählich Eingang gefunden. Der Begriff Stress ist in der Umgangssprache sogar erst nach dem 2. Weltkrieg aufgetaucht. In den dreißiger Jahren haben die Menschen über den amerikanischen Ausspruch „Time is money“ noch gelächelt. Heute sind viele vom gleichen Virus befallen, In Österreich hat sich bereits ein „Verein zur Entschleunigung der rasanten Zeit“ gebildet.

Vor allem aber ist mit der Moderne erstmals in der Geschichte das Massenzeitalter entstanden, was weder den Vorstellungen noch der Absicht ihrer Vordenker entsprach. Inzwischen gehören Massen zu den auffälligsten Kennzeichen der Moderne: Massendemokratie, Massenuniversitäten, Massenmedien, Massengeschmack und Massenverhalten. Wenn wir uns dessen bewusst sind, erkennen wir, dass die Aufklärung nicht wie ausgedacht gelingen konnte. Es lohnt sich übrigens in diesem Zusammenhang noch einmal Ortega y Gassets „Der Aufstand der Massen“ aus dem Jahr 1930 nachzulesen. Sehr aufschlussreich!  Der scharfzüngige kolumbianische Aphoristiker Nicolas Gomez Dávila war ein Mensch klarer Worte: „In einem Jahrhundert, in dem die öffentlichen Medien unbegrenzte Dummheiten unter die Leute bringen, wird der gebildete Mensch nicht an seinem Wissen erkannt, sondern an seinem Nichtwissen.“ Fraglos orientieren sich heute Politik und Gesellschaft an den Interessen der Massen.

Jeder Zeitgeist erwartet und verlangt von den Menschen ein zeitgeistkonformes Verhalten. Wir sind heute trainiert worden, „mit der Zeit zu gehen“, wie es heißt. Doch kaum jemand fragt danach und niemand sagt es uns, wo die Zeit uns denn hinführt. Es mag am Wesen der Moderne liegen, solche Zukunftsfragen als unnötig anzusehen. Der Fortschritt wird’s schon richten! Entscheidend ist aber die Frage, auf welchen Gebieten es Fortschritte gab und gibt und auf welchen nicht.

Die Moderne ist übrigens mit der Philosophie, ihrer entscheidenden geistigen Wegbereiterin, ziemlich schäbig umgegangen. Sie ist inzwischen von der Königin der Wissenschaft allzu oft zur Magd für alles und jeden herabgesunken. Es mag schon sein, dass die Moderne die Eigenart der Philosophen befürchtet, die schon Goethe erkannte, nämlich „mit ihrer Zeit im Unreinen“ zu sein. Sie, die Spezialisten für das Allgemeine, bereiteten jedenfalls mit ihrer Denkart einst auch den Sauerteig, auf den sich die Moderne gründen konnte.

Es sei daran erinnert,  dass es in Europa traditionell unterschiedliche philosophische Schwerpunkte gab und, mit Ausnahme von Deutschland, noch gibt. In grober Näherung bevorzugt Frankreich den Rationalismus, England den Empirismus und das frühere Deutschland den Idealismus. Die vielleicht größte geistesgeschichtliche Leistung Kants bestand darin, die jeweiligen Grenzen und spezifischen Anwendungsberechtigungen dieser drei Grundansichten systematisch aufgezeigt zu haben. Diese unterschiedlichen philosophischen Überzeugungen waren keinesfalls abstrakte Glasperlenspiele. Aus ihnen sind ganz konkrete weltanschauliche Folgen und Mentalitäten entstanden, die letztlich sogar mitursächlich für zwei Weltkriege waren.

Nun könnte natürlich der eine oder andere einwenden, es lohne sich eigentlich doch gar nicht, sich intensiv mit einem so komplexen, aber längst etablierten Gebilde wie dem der Moderne zu befassen. Unsere Zeit habe schon alle Hände voll zu tun, um die zahllosen Sachfragen und konkreten Probleme zu behandeln. Das ist richtig. Nur frage ich mich, ob es reicht, nur Fakten- und Symptombehandlung zu betreiben und sich über die Ursachen und Hintergründe nur noch selten Gedanken zu machen. Ich bin nämlich davon überzeugt, dass das 21. Jahrhundert an den Grundfesten der Moderne rütteln wird. In einer solchen Situation gilt es, das Haus der Moderne wetterfest zu machen. Leider gehört es aber zu den menschlichen Eigenheiten, Grundfragen meist erst dann zu stellen, wenn es  zu spät ist. So beim Beispiel Perestroika.

Der „moderne Westen“ ist, übrigens ideologisch gesehen, keinesfalls ein monolithischer Block. Die jeweiligen Rollen von Staat, Gesellschaft und Individuum werden bekanntlich in den USA, in Frankreich oder einst in Deutschland durchaus unterschiedlich bewertet und mit unterschiedlichen Prioritäten versehen. Dies ist auch der tiefere Grund für die heutigen  Auslegungskonflikte zwischen den dominierenden US-Vorstellungen und den kontinentaleuropäischen Traditionen. Viele heutige Probleme sind aus europäischer Sicht dadurch entstanden, dass die USA, wie alle Weltmächte, ihre weltanschaulichen Überzeugungen durchgesetzt haben, z. B. in der Gestaltung der Globalisierung oder dem freizügigen Umgang mit Investmentbanken. Wenn wir heute von der Moderne sprechen, handelt es sich weitgehend um ihre US-Interpretation. Zu den Grundproblemen der Moderne insgesamt gehört jedenfalls auch die Tatsache, dass das Prädikat modern bzw. demokratisch unterschiedlich ausgelegt wird. In diesem Zusammenhang sei noch auf eine seit Jahrzehnten verbreitete Auslegung in Deutschland hingewiesen. Viele Menschen beanspruchen heute das Recht auf eine uneingeschränkt freie Lebensgestaltung und Selbstverwirklichung. Gleichzeitig erwarten sie aber auch umfangreiche staatliche Hilfen, wenn sie mit ihren individuellen Entscheidungen in finanzielle Schwierigkeiten geraten, Beispiel Scheidungen.

„Die Legitimität der Neuzeit“ (Hans Blumenberg, 1988) war von Anfang an ein Problem. Die politische Moderne ist nicht organisch oder evolutionär entstanden, sondern mit Hilfe des Ideenvorrates der Aufklärung gewissermaßen am Reißbrett konstruiert worden. Ihre auf der Vernunft beruhende Legitimation musste sich daher anfänglich am mystisch überlegenen Gottesgnadentum der Feudalzeit messen lassen. Auch dieser Umstand war Anlass für die mit der Moderne einhergehende „politische Propaganda“. Die Moderne konnte sich jedenfalls durchsetzen, weil sie erstmalig und exemplarisch über die Voraussetzungen für eine gelungene Revolution verfügte, indem sie richtige Ideen, zum richtigen Zeitpunkt, einem dafür aufnahmebereiten Kreis von Menschen verkündete.

In den letzten Jahren mehren sich allerdings gewichtige Stimmen, die der Ansicht sind, dass die Moderne auf den Prüfstand gestellt werden müsste und eine Renovierung dringend geboten, aber auch möglich ist. Dass die auf Tagesfragen und  Infotainment fixierten Medien diese Thematik nicht anschneiden, spricht nicht dagegen. Unsere Medien verstehen sich in der Kunst, komplexen Themen auszuweichen oder sie so mundgerecht zu offerieren, dass sie jeder versteht. Dabei wird manchmal eine ganze Rinderherde auf die Größe eines Brühwürfels kondensiert. Kein Wunder, dass der dann nicht mehr nach Rindfleisch, sondern nach Brühe schmeckt. Der erwähnte Aphoristiker Dávila hält dagegen: „Was nicht kompliziert ist, ist falsch“ (Aphoristiker dürfen sich so pointiert ausdrücken).

Wie und warum ist die Moderne entstanden?

Die Einführung der Moderne war ein in der Menschheitsgeschichte einmaliges Ereignis. Noch nie zuvor stand das Individuum, also jeder einzelne Mensch, in diesem Maße im Mittelpunkt eines prinzipiell hierarchielosen Gemeinwesens. Und noch nie war der Mensch derart selbstbewusst, ja selbstherrlich, seit die Moderne den Entschluss fasste, fortan die Geschicke der Menschen selbst in die Hand zu nehmen; ohne die Hilfe von mythologischen Mächten, Göttern und auch Gott in Anspruch zu nehmen. Der Homo faber war das Idol der Moderne und nicht mehr der Ritter, Künstler, Denker oder Gottsucher. Worauf gründete sich dieses Vertrauen? Auf nicht mehr aber auch nicht weniger als auf die menschliche Vernunft, die Ratio. Max Weber charakterisierte die Neuzeit daher auch treffend als das „Zeitalter des okzidentalen Rationalisierungsprozesses“. Er erkannte aber auch die damit verbundene „Entzauberung“ der Welt.

Am Beginn der Moderne stand die etwa um 1500 entstandene Neuzeit. Die politische Moderne ist ein Ergebnis dieser Neuzeit. Mit beiden Impulsen sollte die Welt und das Leben der Menschen in ihr auf ganz neue Grundlagen gestellt werden. Das überaus ehrgeizige Ziel war die Beseitigung der ewigen Not durch Erkenntnis und Beherrschung der Naturvorgänge und der ewigen Unterdrückung durch die Gewährung gleicher Freiheitsrechte für alle im Rahmen demokratischer und rechtsstaatlicher Institutionen.

Was war Anlass für diese Hoffnungen, von denen die Menschen seit ewigen Zeiten höchstens träumen konnten? Der neuzeitliche Rationalismus hat gezeigt, welche Kräfte im Menschen schlummern, wenn er sich von überkommenen Bindungen befreit und seinem Verstand freien Lauf lässt. Die Physik hat ganz neue Wege beschritten und damit bewunderte Erfolge bei der Entschlüsselung von Naturgesetzen und den darauf basierenden Vorhersagen erzielt. Fast gleichzeitig wurde die Erde Stück für Stück nicht nur geographisch entdeckt und kartiert, sondern in vielen Fällen auch von Europäern erobert. All dies hat eine Stimmungslage erzeugt, die das Selbstvertrauen des Menschen gewaltig hat anwachsen lassen. Die Erfolge der Naturwissenschaften im 16. und 17. Jahrhundert haben jedenfalls eine enorme Euphorie erzeugt, Physik statt Metaphysik war gewissermaßen die ausgegebene Parole. Auf der materiellen Ebene schien also alles in eine gute Zukunft hinzuführen. Was lag näher, als das Zauberwort Ratio auch beim Menschen anzuwenden. Hier waren die Defizite offenkundig und unerträglich: unaufhörliche Religionskriege, Unterdrückung durch Feudalherrschaft, Rückständigkeit, Not etc.

Nachdem wir die Welt immer besser verstehen und in der Lage sind, sie und die Natur zu beherrschen, war es, so viele Geister jener Zeit, nur noch ein kleiner logischer Schritt, auch die Geschicke des Menschen und sein Zusammenleben selbst in die Hand zu nehmen. Ein unerhörter, weltgeschichtlich einmaliger Vorgang, aber auch eine folgenschwere Grenzüberschreitung in anthropologische Bereiche.
In Deutschland spricht man seit etwa 200 Jahren von „modernen Zeiten“. Die Moderne inhaltlich und als politischer Begriff wurde hier im Wesentlichen aber erst nach dem 2. Weltkrieg eingeführt.

Wo liegen die Hauptprobleme der Moderne?

Die Moderne wurde einst zwar mit großem Elan und bewundernswertem Idealismus  erdacht, sodass viele ihrer Erfolge auch heute noch hoch geschätzt werden. Zunehmend wird sie aber inzwischen  konfrontiert mit inneren Widersprüchen, äußeren Einschränkungen, vielen Missbräuchen und ärgerlichen Banalitäten, die eben bei jeder Umsetzung von Ideen in die Realität anzutreffen sind. Vor allem große Ideen und Ideale verlieren auf dem langen Weg bis hin zum real existierenden Menschen einen Großteil ihrer Aura. Die Moderne scheint daher auf wichtigen Gebieten ihren Zenit erreicht zu haben. Sie spürt die Konsequenzen einseitiger Grundentscheidungen und ihrer Überdehnung. Die Geschichte hat immer wieder aufgezeigt, dass zu große Erfolge und eine zu große Expansion den Keim des Scheiterns in sich tragen. Alle Weltreiche waren davon betroffen. Man ist fast versucht, von einer Analogie zu der in der Natur vorherrschenden Entropie zu sprechen.

Heute treten zunehmend immanente Probleme zu Tage, die immer entstehen, wenn Ideologien auf den niemals berechenbaren Menschen treffen; und ebenso externe, die mit der heutigen globalisierten und  technisierten Welt zusammenhängen und für die noch keine befriedigende Lösungskompetenz zu erkennen ist: Ressourcen, Klima, Bevölkerung, Weltpolitik.

Wir wissen heute ferner, dass alle Revolutionen von der Französischen Revolution über die sowjetisch-kommunistische bis hin zur 68er Kulturrevolution drei grundsätzliche Fehler begehen. Sie begeistern anfänglich durch die Botschaft zukünftiger Glücksversprechen: ein Leben in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, das Paradies der Werktätigen oder den endlich emanzipierten, selbstverwirklichten Menschen. Zunächst sind allerdings leider die Guillotine, der Gulag oder die Straßenkämpfe und die RAF unumgänglich. Zweitens verfangen sich alle Revolutionen in der Illusion, mittels neuer Lebensverhältnisse auch ganz neue Menschen schaffen zu können. Das Sein, meinen sie, präge das Bewusstsein. Um dieses Ziel zu erreichen, sei es drittens unabdingbar, möglichst alle bisherigen Überlieferungen zu zerstören. Die Einsicht kommt regelmäßig zu spät, dass Zerstören leicht, Neues, mindestens Gleichwertiges aufzubauen aber schwierig und mühselig ist. So werden heute beispielsweise die von 68ern abgeschafften sog. „Sekundärtugenden“ wieder händeringend herbeigesehnt.

Nach über 200 Jahren praktizierter Moderne stellen wir jedenfalls bei nüchterner Betrachtungsweise eine größere Zahl von Unzuträglichkeiten und Ungereimtheiten fest. Der Mensch ist nicht so, wie die Vordenker der Moderne ihn sich zu Zeiten Friedrichs des Großen und Maria Theresias vorgestellt oder erwünscht hatten. Er wird nur bedingt von der Vernunft geleitet, er ist oft auch egoistisch, materialistisch, verantwortungslos und aggressiv. Die meisten Menschen sind heute nicht autonom im Sinne Kants, sondern überwiegend fremdgesteuert durch die Massenmedien. Die Welt ist inzwischen derart komplex geworden, dass der Einzelne oft gar nicht mehr in der Lage ist, eine eigene fundierte Meinung zu bilden. Die Massenmedien sehen sich deshalb verpflichtet, alles Komplizierte auf Bilder und einfache Erklärungen  herunterzudestillieren, daher verfügen heute alle Menschen zwangsläufig nur noch über ein begrenztes Ausschnittwissen. Anders verhielt es sich noch bei den heimischen Bauern, die etwa bis Mitte des 19. Jahrhunderts gelebt haben. Sie waren noch in der Lage, rund 70 bis 80 % selbst zu verstehen, worum es bei ihrer Arbeit und in ihrem Umfeld geht. Sie fühlten sich dadurch auch geborgen.

Mensch und Menschenbild

Für den Philosophen Max Scheler ist der Mensch ein „Dilettant des Lebens“. Auch andere Nachdenkliche sind sich darin einig, dass der Mensch, trotz aller wissenschaftlichen Entschlüsselungen, ein rätselhaftes, für manche sogar das unbekannte Wesen bleibt. Diese Tatsachen zu respektieren ist für moderne Denker und vor allem moderne Ideologen unerträglich. Wie will man, wie kann man Gesellschaftspolitik betreiben, wenn man „den Menschen“ und sein Wesen noch nicht einmal richtig definieren oder einordnen kann? Am Anfang einer jeden Ideologie steht dessenungeachtet  ein bestimmtes Menschenbild. Die meisten Fehler werden aber gerade auch am Anfang gemacht. Goethe beschreibt dies, wie so oft, ganz anschaulich, wenn er erklärt, man käme beim Zuknöpfen eines Mantels niemals zu einem guten Ende, wenn man mit dem falschen Knopfloch anfängt.

So macht es eben einen großen Unterschied aus, wenn Kant erklärt: „Aus so krummem Holze aus dem der Mensch geschnitzt ist, kann nichts Gerades gezimmert werden“ und der Brite Thomas Hobbes verkündet: „Der Mensch ist des Menschen Wolf“ oder ob der Franzose de Maistre sogar erklärt, der Mensch sei zu schlecht, um frei zu sein. Oder aber ob Rousseau sehr viel wohlwollender, ja schmeichelhafter meint, der Mensch sei von Natur aus gut, nur Eigentum, Gesellschaft und Institutionen hätten ihn verdorben.

Kant war sich dagegen im klaren, dass auch die von ihm leidenschaftlich geforderte Freiheit niemals grenzenlos sein könne. Von seiner deshalb verkündeten Pflichtethik und seinem kategorischen Imperativ will heute aus (US?-)ideologischen Gründen kaum mehr jemand etwas wissen. Die Mär vom guten und anständigen, in Freiheit lebenden Menschen klingt eben vielen sympathischer.

Tatsächlich gehört für mich die Ambivalenz zum fundamentalsten Kennzeichen des Menschen. Wir wissen doch alle, wie großartig, aber auch wie niederträchtig Menschen sein können. Wenn dem so ist, muss jedes einseitige Menschenbild zu Konflikten und Misserfolgen führen. Dieser schmerzliche Realismus, d. h. den Menschen weder ungerechtfertigt zu erhöhen, aber auch nicht nur negativ zu deuten, erscheint mir als Richtschnur unerlässlich. Der einseitig optimistische bis utopische Überschwang der Moderne hat enorme Heilserwartungen geweckt, die so nicht erfüllt werden konnten. Die Ursachen liegen meines Erachtens vor allem im euphorisch verkündeten, aber unrealistischen Menschenbild.

Rousseaus Ansicht von der latenten Güte des Menschen war zwar ein Irrtum, aber seine verheerenden Folgen erleben wir heute noch. Diese Beurteilung klang eben so schön, dass Idealisten und Scharlatane immer wieder daran glauben. So ziehen bestimmte Zeitgeistjünger auch heute zwei ganz bestimmte Folgerungen daraus. Erstens erkennen sie persönliche Schuld nur ungern an. Denn eigentliche Schuld trifft nach ihrer (und Rousseaus!) Meinung zumeist das Umfeld, die gesellschaftlichen Verhältnisse. Zweitens ist Rousseau letztlich Ursache für die ewige Reformitis. Man muss, so glauben manche, die Gesellschaft und übrigens auch die Schulen, nur solange reformieren und alle Ungerechtigkeiten und Unzulänglichkeiten wegräumen, bis eines Tages, wie durch Zauberstab, der gute bzw. gebildete Mensch doch noch auftaucht. Irrsinn mit Methode!  Das Menschenbild der Moderne war somit in wichtigen Teilen überzeichnet, utopisch oder es basierte auf falschen Annahmen. Der Mensch ist nicht so gut wie erwartet oder erhofft. Deshalb konnte die Moderne auf diesem Gebiet auch nicht die in sie gesetzten Hoffnungen und Erwartungen erfüllen.

Ferner ist der Mensch, um es in der Computersprache auszudrücken, heutzutage immer weniger kompatibel mit der Nano-Genauigkeit der Wissenschaft und der elektronischen Geschwindigkeit moderner Technik, vielleicht sogar, noch viel weitergehend, mit den tempogeladenen Lebensverhältnissen in der Moderne insgesamt. Anders gesagt, die Geschwindigkeit, mit denen sich modernes Wissen einerseits und Mensch andererseits auseinanderentwickeln, ist atemberaubend. Der naturwissenschaftliche und technische Fortschritt bewegt sich mit ICE-Geschwindigkeit manchmal, sogar im Raketentempo, während der alte Adam und die nicht wesentlich jüngere Eva ungemein träge Gesellen sind und bleiben. Evolutionär gesehen bewegen sie sich noch nicht einmal im Schneckentempo. Niemand hört es gern, aber wir sind, biologisch gesehen, immer noch auf dem Stand steinzeitlicher Jäger und Sammler geblieben, wenn auch neuerdings mit Internetanschluss und Weltraumerfahrung. Deshalb ist unser biologisches Erbe für alle eiligen Gesellschaftsingenieure auch ein ewiges Ärgernis. Sie flüchten daher in ein bewährtes Verhaltensmuster, indem sie angeborene Eigenschaften kurzerhand als kulturell anerzogene deklarieren. Die Natur kann so eine gewisse Zeit überlistet werden, aber niemals auf Dauer.

Diese zwei so unterschiedlichen Geschwindigkeiten haben jedenfalls dazu beigetragen, dass der Mensch auf einigen Gebieten an seine Anpassungsgrenzen gestoßen ist und sich damit zunehmend als Engpass erwiesen hat. Es liegt in der Logik der Moderne zu überlegen, wie auch dieses letzte große Hindernis für den weiteren Fortschritt beseitigt werden könnte. Als Mittel der Wahl bieten sich bekanntlich Psychopharmaka und genetische „Verbesserungen“ an.

Was hat die Moderne insgesamt erreicht, was nicht?

Nach dem bisher Gesagten fällt ein kompaktes Urteil nicht allzu schwer: Unbestreitbare, großartige Erfolge auf den Gebieten Wissenschaft, Technik und Wirtschaft. Ein Hartz-IV- Empfänger lebt heute in vielerlei Hinsicht besser als ein König im Mittelalter. Insbesondere in der Lebenswelt der breiten Masse zählen zu den Pluspunkten eindeutig die Auswirkungen des technischen Fortschritts. Sie haben im allgemeinen das Leben vieler Menschen enorm bereichert, bequemer und komfortabler gemacht. Sehr viel dazu beigetragen haben neue ungeahnte Möglichkeiten zur Erweiterung der Mobilität, der Kommunikation und Information oder die vielen Erleichterungen durch Haushaltsmaschinen sowie die Erfindungen zur Entlastung von schwerer körperlicher Arbeit.

Misserfolge und Enttäuschungen weist dagegen das ehrgeizige Ziel auf, alle Individuen frei und glücklich (pursuit of happiness) zu machen und grundlegende gesellschaftliche Verbesserungen des Zusammenlebens, der internationalen Beziehungen, der Moral und der Bildung herbeizuführen. Hier ist die Moderne weitgehend gescheitert, gemessen jedenfalls an den ursprünglichen Verheißungen. Der strahlende Mythos der Moderne ist inzwischen verblasst.

Ideale der Französischen Revolution

Ebenfalls hoch geschätzt werden bis heute die Freiheits- und Menschenrechte, die Befreiung von feudaler Unfreiheit und die demokratischen Verfassungen. Wir werden über diese Vorzüge tagtäglich informiert. Die Französische Revolution sprengte damals Jahrhunderte dauernde Herrschaftsverhältnisse und die hiermit zusammenhängenden Welt- und Menschensichten und ersetzte sie durch neue. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass die drei „Konstruktionselemente“ Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in der Praxis ständig miteinander kollidieren und nicht in ein harmonisches, ein stabiles Gleichgewicht gebracht werden können. Ein Artist mag vielleicht mühelos mit drei Bällen jonglieren, im modernen komplizierten gesellschaftlichen Umfeld geht dies nicht. Diese drei Parolen sind, wie wir heute wissen, mit erheblichen Anforderungen verbunden. So kann beglückende Freiheit im Grunde nur auf einem guten kulturellen und ethischen Humus gelingen. Dazu äußerte sich auch der ehemalige Bundesverfassungsrichter  Ernst-Wolfgang Böckenförde. Er wurde berühmt und bekannt durch sein sogenanntes Böckenförde-Diktum, das er wie folgt beschreibt: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er um der Freiheit willen eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt, mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren versuchen, ohne die Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularer Ebene –  in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“

Gretchenfrage: Was geschieht, wenn die „moralische Substanz des einzelnen und die Homogenität der Gesellschaft“ nur unzureichend vorhanden sind? Wenn Freiheit in Zügellosigkeit abdriftet und vielen Bürgern in einer Multi-Kulti-Gesellschaft westliche Vorstellungen von Freiheit und Aufklärung fremd sind?

Was für ein Verfall der aufklärerischen Ideen Kants, der noch das „autonome Individuum“ beschwor und aufforderte, Mut zu haben, „sich seines eigenen Verstandes zu bedienen“. Er verband mit der Aufklärung die Hoffnung und Erwartung, wie er 1784 in unnachahmlicher Weise schrieb, vom „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündig ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Was ich an Kant besonders schätze, ist sein Realismus, den andere Aufklärer vermissen ließen. Er war nämlich realistisch genug, um zu erkennen, dass diese aufklärerischen Aufforderungen von einem, wie er sagte, „so großen Teil der Menschen aus Faulheit oder Feigheit nicht erfüllt werden, weil sie gern zeitlebens unmündig bleiben und es Anderen so leicht (machen) sich als Vormünder aufzuwerfen.“

200 Jahre nach Kant belegen zahlreiche Erfahrungen die Richtigkeit seiner Befürchtung. So vertrat auch der frühere Bundespräsident Roman Herzog  in seinem Buch über die „Herrschaftsformen der Staaten der Frühzeit“, eine ähnliche Auffassung: „Die Neigung des Menschen, sich zum Herrscher über andere aufzuschwingen und übrigens auch unsere Neigung, sich auf die Herrschaft anderer einzulassen, ist offensichtlich tiefer verwurzelt als man in unserer auf Freiheit getrimmten Welt mitunter annehmen möchte – ganz abgesehen davon, dass ja auch bei uns oft sehr schnell der Ruf nach dem Staat ertönt.“

Hinzuzufügen wäre, dass Herrschaft heute längst nicht mehr nur militärischer oder politischer Natur sein kann, sondern vermehrt auch Meinungs-, Wirtschafts- oder kulturelle Herrschaft bedeuten kann.

Paul Kirchhof hat diese Problematik mit seinem „Diogenes-Paradoxon“ ebenfalls aufgegriffen: „Der Staat weiß, dass er darauf angewiesen ist, auch in Zukunft junge demokratiefähige Bürger zu haben … Würde die Mehrzahl der Menschen in Deutschland sich entscheiden, wie Diogenes in der Tonne zu leben, sich also um Ökonomie nicht zu kümmern, hätte niemand das Recht verletzt, weil auch diese Entscheidung Inhalt der Freiheit ist. Die soziale Marktwirtschaft, der Steuer- und Finanzstaat, wären aber an ihrer eigenen Freiheitlichkeit zugrunde gegangen … Diese Angewiesenheit des freiheitlichen Staates auf die Annahme eines Freiheitsangebotes durch den Einzelnen gilt auch für die Freiheit von Ehe und Familie. Der Staat baut darauf, dass wir auch in Zukunft Kinder haben, die diesen Kulturstaat, dieses Wirtschaftssystem am Leben halten, diese Demokratie mit Inhalt und Gedanken füllen.“ – Kein Wunder, dass Kirchhof von bestimmten Kreisen angefeindet wird! Was also passiert, wenn die Bürger das Eigeninteresse über das des Gemeinwesens stellen, zeigt die demografische Entwicklung in ganz eklatanter Weise. Nachdem es ab der zweiten Hälfte der 60er Jahre chic war, die Berufstätigkeit der Frauen und auch die damit oft verbundene Kinderlosigkeit mit einem viel höheren Stellenwert zu versehen als Haushalt und Kindererziehung, halbierte sich seither fast schlagartig die Zahl der Neugeborenen in Ost- und Westdeutschland. Diese Entscheidungen von Frauen und Männern sind in jedem Einzelfall zwar legitim und oft auch nachvollziehbar, ihre Auswirkungen untergraben aber in der Summe die Existenzgrundlagen von Staat und Gesellschaft.

Der Begriff der Gleichheit steht immer in der Gefahr, von jenen Ideologen wörtlich genommen zu werden, denen die unvermeidbare Ungleichheit der Menschen moralisch unerträglich erscheint. Für sie bedeutet Gleichheit mehr als nur Gleichheit vor dem Gesetz. In extenso hat dies zu den berühmt-berüchtigten kommunistischen Experimenten geführt. Aber selbst das Mutterland der Égalité sah es erst nach 1945 für erforderlich, auch den Frauen das Wahlrecht zu gewähren. (In Deutschland 1918.)

Der Konflikt über den jeweiligen Stellenwert von Freiheit und Gleichheit, wie übrigens auch der zwischen Individualismus und Gemeinsinn, ist mit rationalen Mitteln nicht lösbar. Fast zwangsläufig verlieren aber Freiheit und Gemeinwohl in Massengesellschaften diesen Konflikt. Bereits in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts kritisierte Alexis de Tocqueville in seinen Büchern „Über die Demokratie in Amerika“ das dortige Problem der massiven Gleichheitsbestrebungen.

Die natürliche Solidarität innerhalb homogener Gemeinschaften kann sich schließlich in individualistisch orientierten, anonymen Gesellschaften nicht mehr auf freiwillige Leistungen verlassen. Sie wird zur Staatsaufgabe. Die Prinzipien der Moderne waren deshalb auch Ursache dafür, dass der Staat glaubt, riesige Beträge umverteilen zu müssen, um denjenigen psychisch und materiell zu helfen, die nicht fähig oder in der Lage sind, ihr Leben eigenverantwortlich zu führen. Die Moderne benötigt offenbar einen gewaltigen Reparaturbetrieb, um die Schäden zu lindern, die in vielen Fällen ohne die Moderne so gar nicht entstanden wären. So nehmen beispielsweise Bildungsfragen in der aktuellen Diskussion breiten Raum ein. In vielen Fällen handelt es sich aber eher um Erziehungsfragen. Da der heutige Zeitgeist viele Eltern offenbar unfähig gemacht hat, ihre Kinder angemessen zu erziehen, sollen Kitas und Ganztagesschulen diese Aufgabe übernehmen. Erneut soll also „die Gesellschaft“ an die Stelle individueller Verpflichtungen treten.

Aufklärung

Die Umsetzung der großen aufklärerischen Ideen hat die in sie gesetzten Erwartungen bei weitem nicht erfüllt. Den eigentlichen Grund dafür finden wir vor allem in der Tatsache, dass diese Ideale im Grunde genommen weitgehend von Intellektuellen für Gleichgesinnte ersonnen worden sind. Die heutige politische Diskussion verschleiert in aller Regel die tiefe Kluft zwischen philosophischer Aufklärung und ihrer Profanierung durch die Französische Revolution und den heutigen politischen Alltag. Das entscheidende Ziel, autonome, das heißt nicht fremdgesteuerte Individuen zu erschaffen, die rational und tolerant handeln und bei allem Egoismus auch noch das Gemeinwohl im Auge haben, blieb daher vielfach ein intellektueller Wunschtraum. Diese Erkenntnis war für den Soziologen Arnold Gehlen Anlass, lakonisch festzustellen: „Die Prämissen der Aufklärung sind tot, nur ihre Konsequenzen laufen weiter.“ Kant wäre vielleicht nicht unbedingt überrascht, aber dennoch bestürzt.

Die Verteidigung der Moderne gegen die vorgebrachten Kritikpunkte besteht häufig darin, dass sie auf ihre politischen Ideale verweist. Ideale könnten entsprechend dem allgemeinen Sprachverständnis stets nur angestrebt, aber niemals vollumfänglich erfüllt werden. Ist dieses Argument im Fall der Moderne stichhaltig? Haben wir im 20. Jahrhundert nicht genügend Erfahrungen sammeln können mit angeblichen Idealen, die zur Erklärung und Begründung zahlloser Missetaten herhalten mussten? Auch wenn die Moderne selbstverständlich nicht zu diesem Kreis gehört, muss sie sich nicht doch auch, wie jede andere politische Idee, vom praktischen Ergebnis und nicht nur von den Zielen her messen lassen?

Wie geht es weiter?

Die einzig sinnvolle Herangehensweise kann meines Erachtens allenfalls nur darin bestehen, zu versuchen, die heute bereits erkennbaren Trends ausfindig zu machen. So sind heute zum Beispiel die demografischen Schwerpunktverlagerungen von Europa und Nordamerika nach anderen Kontinenten ebenso bekannt wie die zunehmende wirtschaftliche Bedeutung von China und Indien.

Noch unbekannt sind die daraus sich ergebenden Konsequenzen: politische, ideologische, militärische und kulturelle Entwicklungen. Noch zeigen weder China noch andere neue Mächte diesbezügliche globale Ambitionen. Sie konzentrieren sich auf ihren wirtschaftlichen Aufschwung. In einer immer stärker materiell orientierten Welt kann es aber auf Dauer nicht ausbleiben, dass wirtschaftliche Stärke schon aus ökonomischen Gründen eines Tages auch politischen Einfluss nimmt.

Die USA werden ihre weltbeherrschende Position und ihre ideologischen Ansprüche nicht kampflos preisgeben. Die offene Frage besteht darin, welche Ausmaße dieser Abwehrkampf einnehmen wird. Große Teile der Welt fragen sich ohnehin seit längerem, ob die USA überhaupt (schon) die Reife, das Verantwortungsbewusstsein und das kulturelle Niveau besitzen, die Welt zu lenken und zu beherrschen. Die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise hat diesen Zweifeln noch einmal kräftige Nahrung gegeben. Hat derjenige, der so fahrlässig und riskant operiert, nicht seinen Kredit im doppelten Wortsinn verspielt? Jedenfalls vorerst.

Europa zeigt eindeutige Ermüdungserscheinungen. Die geistigen und kulturellen Kräfte, auf die Europa einst viele Jahrhunderte lang seine Weltgeltung begründen konnte, sind erschlafft. Wer erwartet schon eine Wiederbelebung dieser Kräfte, angesichts der Überalterung, des demografischen Schrumpfungsprozesses und der Transformationen in Multi-Kulti-Gesellschaften?

Und Deutschland? Es ist zu befürchten, dass bei uns die Verwerfungen besonders dramatische Folgen haben könnten. Denn in Deutschland werden in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zusammentreffen: Bevölkerungsschwund, Überalterung, Auswirkungen der versäumten Ausländerintegration. Daraus und aus der verschärften Globalisierung werden soziale Spannungen bisher nicht bekannter Art entstehen, die bis zur Revolte und einem Parteienboykott gehen könnten. Warum? Deutschland hat mutwillig seine Identität und sein Nationalbewusstsein weitgehend zerstören und sich mit materiellem Wohlstand abspeisen lassen. Ein Land, das vorwiegend auf Spaß und Wohlstand gründet, muss mit gravierenden Folgen rechnen, wenn das Wohlleben spürbar beschnitten wird.

Und was wird schließlich mit der Moderne? Auch sie wird nicht das letzte Weltbild in der Menschheitsgeschichte sein. Auch wenn die Postmoderne behauptet, die Zeiten seien vorbei, in denen über politische Ideen grundsätzlich nachgedacht werde.

Schlussfolgerungen und Einsichten

„In einer interdependenten Weltgesellschaft wird der Westen sich mit seinem speziellen Ethos und Eros der individuellen Freiheit auf Dauer nur behaupten können, wenn er den Prozess der Rationalisierung nicht als endlose Steigerung von theoretischen Spezialdiskursen und einer immerwährenden Entzauberung und kulturellen Nivellierung begreift.“ Udo Di Fabio

„Wir gehören einer Zeit an, deren Kultur in Gefahr ist, an den Mitteln der Kultur zugrunde zu gehen.“ Friedrich Nietzsche

Vorab ist zu bedenken, dass die geistige Krise einer ganzen Epoche keine Autopanne ist, bei der jeder ungefähr weiß, was zu tun ist, wenn das Fahrzeug auf der Landstraße stehen bleibt. Unter diesen Umständen kann es weder billige Rezepte geben noch simple Prognosen. Sicher ist nur, dass es einen Zermürbungsprozess geben wird, bis die Einsicht überhand nimmt, dass viele unserer ungelösten Probleme und Fehlentwicklungen letztlich dem einen oder anderen Konstruktionselement der Moderne oder ihrer Praktizierung anzulasten sind.

Neue Ideen  müssen heranwachsen, neue Lösungen  braucht die Zeit und braucht das Land. Mit der Technik werden wir weiter leben, ein Zurück oder eine Beschränkung des Fortschritts ist weder möglich noch auch nur wünschenswert. Dennoch ist es für uns immer offenkundiger geworden, dass wir auf diesem Sektor kaum noch Nachholbedarf am Mehr, dafür aber am Wie haben. Oder findet etwa jemand das Angebot an Autos oder Handys zu dürftig? Um so mehr sind aber die politisch-gesellschaftlichen Defizite der Moderne angewachsen. Die Problemfelder sind erkannt und beschrieben. Weitgehend unklar ist jedoch, wie vorgegangen werden kann und soll.

Die Welt, in der wir leben, ist nicht so, wie wir sie uns vorstellen und schon gar nicht so, wie wir sie uns wünschen. Leider scheinen aber viele  Zeitgenossen immer noch einer idealisierten Betrachtungsweise anzuhängen. So lieben heute viele Gutmenschen den Übernächsten oft mehr als den Nächsten. Ideale können in der Tat beglückend wirken und viel zur Lebensfreude beitragen. In einer Welt allerdings, in der die Dinge sich immer häufiger und härter im Raum stoßen, ist es gefährlich, auf die nötige Prise Realismus zu verzichten. Noch so gut gemeinte Pläne zeigen ihre Unzulänglichkeiten erst bei der praktischen Durchführung. Der Realismus, die Ernüchterung und Nüchternheit unserer Zeit rühren auch daher, dass wir zuviel von dieser Tragik der Idealisten kennengelernt haben. Wir verwechseln nicht mehr so leicht „gut“ mit „gut gemeint“. Die Moderne bildet da keine Ausnahme. Die Gründe dafür sind: prinzipielle Unwägbarkeiten, die Unverfügbarkeit der Folgen, Einseitigkeiten, Überdehnung, Verschleißerscheinungen, Missbrauch, falsche Annahmen.

So kommen wir beispielsweise nicht umhin, uns sachlich mit der Tatsache auseinander zu setzen, dass es bereits heute rund 1,6 Milliarden Moslems weltweit gibt, die sich, im Gegensatz zum Westen, keine Sorgen über Kindermangel zu machen brauchen. Was aber bedeutet es für die Zukunft der Moderne, wenn allein dieses Viertel der Weltbevölkerung  bekanntlich keinerlei Neigungen verspürt, im Sinne westlicher Vorstellungen zu leben? Dies ist jedoch nur die Ausgangssituation. Wenn auch die schiere Bevölkerungszahl allein nicht ausschlaggebend ist, so ist es dennoch kaum vorstellbar, dass die westliche Moderne davon unberührt bleiben könnte, wenn nach UN-Schätzungen im Jahr 2050 fast 80 % der Weltbevölkerung in Asien (57,5 %) und Afrika (21,3 %) leben werden. Dagegen in Nordamerika nur noch 4,8 % und in Europa 7,2 %.

Wir erleben jedenfalls eine spannende Phase der Moderne, in der sie mit früher unbekannten Grenzen und Barrieren zu kämpfen hat. Grenzen der Expansion, weil inzwischen fast die ganze Welt eine einzige globalisierte geworden ist und weil Ressourcenverknappung und Umweltbelastung eine Fortsetzung wie gehabt einengen bzw. verhindern. Und weil schließlich der Mensch selbst zum Engpass geworden ist, da die evolutionäre Entwicklung seines Gehirns, trotz großer Leistungsfähigkeit, nicht darauf gerichtet war und ist, äußerst komplexe menschliche, politische und technische Probleme im Weltmaßstab zu lösen. Dies zu erkennen ist für den Geist der Moderne neu und außerordentlich beunruhigend. Menschliche Lösungskompetenz scheint jedenfalls auf vielen Gebieten den Sachproblemen hinterher zu hinken.

Wie könnte dessenungeachtet die Zukunft der Moderne aussehen? Entweder schreitet die Moderne im Westen unverändert weiter, dann wird sie von ihren eigenen Problemen und Grenzen ausgebremst. Oder sie erhält sozusagen eine Runderneuerung und eine zeitgemäße Anpassung. Oder es ereignen sich im 21. Jahrhundert Machtverschiebungen, die dann auch neue Grundsätze für das individuelle und kollektive Leben nach sich ziehen, über die wir heute nur spekulieren können. Die Wissenschaft spricht bei diesen Vorgängen heute gern von Kontingenz. Das heißt schlicht und einfach, es kann so oder auch anders kommen.

Die Liste der guten Absichten und mangelhaften Realisierung ist jedenfalls lang. Freiheit wird immer mehr missbraucht und falsch verstanden, Gleichheit fehlinterpretiert, Solidarität zu sehr als Machtinstrument des Staates verstanden, Toleranz  nicht selten erzwungen, Bürgerwillen oft missachtet, ethisch-moralische Bindekräfte vernachlässigt.

Die spannendste Frage unserer Zeit lautet daher: Besitzt die westliche Moderne noch so viel Kreativität und Energie, soviel Überzeugungskraft und Zustimmung, und schließlich auch noch Geschick und ideologische Flexibilität, um ihre bisherige Rolle auch in der Welt des 21. Jahrhunderts fortsetzen zu können?

Daher hat es unsere Zeit in der Hand, die Tragik der Moderne zu vermeiden, die möglicherweise eines Tages darin bestehen könnte, dass der Mensch, der großartige Macher und Superman, der sich erdreistet hat, alles selber in die Hand zu nehmen, am Ende womöglich als der kleine Wicht dasteht, der den Kampf mit der Natur und ihrem langen Atem und das friedliche Zusammenleben der Menschen im vernünftigen Einklang von Freiheit und Gemeinsinn mit seinen Mitteln doch nicht gewinnen konnte. Dennoch wird jeder, der Sinn für Größe hat, diesem grandiosen menschlichen Ehrgeiz seine Achtung nicht verweigern.

Über die Moderne kann niemand leichtfertig urteilen. Dafür hat sie zu viel erreicht und die Welt nicht nur verändert, sondern gleichzeitig zerstört und verbessert. Die Moderne birgt daher Größe und Gefahr in einem. Die Frage ist nur, wieviel Gefahren und Zerstörungen unvermeidbar waren und sind und wie viele gute Traditionen im leidenschaftlichen Überschwang unnötigerweise mit vernichtet wurden.

Das heutige Leben in der Moderne unterliegt einem ständigen Wandel. Da alte Traditionen abgeschafft wurden, neue nur von kurzer Dauer und einstige innere Ressourcen verschüttet sind, kann ein solches Leben für viele kaum Halt bieten. Unsere Zeit fokussiert sich auf das Jetzt und Heute, auf das Materielle, das Äußere, das Schrille und das Diesseitige. Vergangenheit und Zukunft, innere Werte, das Edle, Schöne, Gute oder Solide, sowie Fragen nach dem Sinn des Ganzen bleiben weitgehend unberührt und unbeachtet. Jedenfalls in der Öffentlichkeit. Wer also Fragen nach dem Sinn des Lebens stellt und mehr als Show-Business sucht, wird schmerzhaft auf sich selbst zurückgeworfen.

Freiheit aus ideologischen Gründen blindlings über alles zu stellen und die ethisch-moralischen Leitplanken verlottern zu lassen, muss bei einem durch die Geschichte bereits innerlich angeschlagenen Volk wie dem der Deutschen zu den negativen Auswirkungen führen, von denen wir täglich erfahren. Ideologische Festlegungen haben bisher wichtige Elemente des Menschseins verschüttet oder brach liegen lassen. So denkt der Mensch nicht nur rational, er ist nicht nur Individualist, sondern auch Gemeinschaftswesen, er ist nicht nur egoistisch, sondern auch kooperativ veranlagt, er braucht mehr als nur materiellen Wohlstand.

Vielen Menschen fällt es also leicht, eine düstere Zukunft auszumalen, und es gibt dafür leider auch Gründe. Andere, zu denen auch ich mich zähle, quälen sich mit den Fragen, wie eine Wende, eine erneute kulturelle Renaissance in Europa doch noch herbeigeführt werden könnte. Die logische Begründung für diesen bedingten Optimismus liegt in der Tatsache, dass Moderne und Zeitgeist Menschenwerk waren und sind, und daher grundsätzlich veränderbar sind. Nichts zu unternehmen bedeutet, den Untergang des großartigen europäischen Geistes von Jahrtausenden ohne Widerstand billigend in Kauf zu nehmen. Ich setze jedoch auf junge, tüchtige und helle Menschen, die man heute wieder vermehrt antrifft. Diese Erfahrung zählt zu den erfreulichsten in heutiger Zeit.

Zwei Hauptbedingungen müssen nach meiner Auffassung allerdings erfüllt sein: die Wiederbesinnung auf europäische Kultur und Europas Beiträge für die ganze Menschheit, von der Antike bis zur Neuzeit. Nur daraus kann der Wille entstehen, eigenständig zu überleben und nicht als Satellit fremder Mächte und Opfer fremder Welt- und Lebensanschauungen. Die zweite Voraussetzung sehe ich in der Notwendigkeit einer neuen Aufklärung, die im Lichte heutigen Wissens und heutiger Erfahrungen die Vorzüge und die Fehlentwicklungen der letzten 200 Jahre kritisch verarbeitet und überarbeitet. Diese beiden Voraussetzungen für ein Überleben Europas, also eine zweite zeitgemäße Renaissance und eine Neujustierung der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, erfordern gewaltige Anstrengungen. Ob das geschundene Europa noch einmal die Kraft aufbringt, sie zu bewältigen, weiß ich nicht. Solange sich die öffentliche Aufmerksamkeit wie jetzt an kurzfristigen Problemen und an der Aufnahmefähigkeit der Masse orientiert, wird sich, fürchte ich, nicht viel ändern. Der erste Schritt muss darin bestehen, dass, angefangen bei der Politik, die Bedeutung der (wahren) Eliten endlich nicht nur verbal anerkannt wird. Die Zahl der Wählerstimmen darf nicht das einzige Kriterium sein.

Sogenannte Intellektuelle jedoch, die heute vor allem zur beklagten Politik-, Parteien- und Staatsverdrossenheit beitragen, sind in dieser Zeit nicht hilfreich. Sie schüren ständig nur Neid, Missgunst und Unzufriedenheit, indem sie sich lautstark und mit starkem moralischen Pathos nur auf Fehlentwicklungen ohne positive Zukunftsperspektiven konzentrieren: Fehlverhalten in der Politik und der Wirtschaft, die „Gerechtigkeitslücke“, die sozialen Verhältnisse, die Armutsfalle und die Schicksale der Schlechtweggekommenen.

Wir erinnern uns an Hölderlins Ausspruch: „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Viele warten darauf. Die Besten. Ist die Gefahr aber etwa doch noch nicht groß genug oder sind wir zu betäubt, um ihr Ausmaß zu erkennen? Oder ist Europa tatsächlich zu ausgeblutet und zu erschlafft, um der genussvollen Dekadenz noch einmal Paroli bieten zu können? Große Kultur (nicht „culture“!) liegt wie ein edler, aber leicht zu zerstörender Firnis mit der Kraft eines Magnetpols über Land und Leuten. Ihre Wiedergeburt ist mühselig und langwierig.

Vielleicht ein Traum, gewiss aber ein Wunsch, den ich sicherlich nicht allein hege, wäre: Überall dort, wo nüchterne Rationalität nicht unabdingbar ist, ersehnen viele wieder eine gesellschaftliche Atmosphäre, in der den vernachlässigten menschlichen Bedürfnissen wieder mehr Raum geboten wird. Eine Lebenswelt also, in der Egoismus, Materialismus und Oberflächlichkeit weniger vorherrschen und stattdessen auch Gefühle und Emotionen, Geborgenheit und Harmonie, Fröhlichkeit und echte Freude, uneigennützige Liebe und große Kultur wiederentdeckt werden und wo für gute Leidenschaften und Ideale wieder Platz geschaffen wird.


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Werner Kunze

geb. 1927, VDSt München, Autor zahlreicher philosophischer Bücher, u. a. „Philosophie für Neugierige“ (Grabert, 2006) und „Die Moderne. Ideologie, Nihilismus, Dekadenz.“ (Bublies, 2011).

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