Jedem das Seine

Nach dem Hamburger Volksentscheid gegen die sechsjährige Primarschule kehren die Parteien in die ideologischen Gräben zurück. Die Bürgerlichen erkennen verdutzt, dass es für ihre Positionen noch Mehrheiten gibt; teils, wie eben in Hamburg, sogar ohne oder gegen sie. Das Gymnasium gewinnt seine Anhänger zurück. Eine Chance ist dabei, vertan zu werden.


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Dass die Mehrheitsmeinungen in Volk und Parlament einmal voneinander abweichen, ist weder ungewöhnlich noch skandalös. Im repräsentativen, parlamentarischen System ist es normal. Freilich ist es immer ein Zeichen für Defizite in der Kommunikation, wenn sich in den Parlamenten Viel- oder Allparteienkoalitionen in bestimmten Sachfragen bilden und dann das glatte Gegenteil dessen beschließen, was Volkes Stimme eigentlich sagt. Die Parteien hören dann nicht richtig zu; oder sie vermitteln ihr Vorhaben unzureichend. So war es im Fall der Hartz-Gesetze, so ist es immer noch im Fall des Afghanistankrieges. Aufgelöst werden solche Konflikte meistens in die eine Richtung: dergestalt, dass irgendwann eine politische Kraft genauer hinhört, die Gelegenheit erkennt, in die Lücke stößt und wahltaktisch die Seite wechselt, die Opposition also parlamentarisiert. Umfallen ist leicht, Überzeugen schwer.

Nach dem Hamburger Volksentscheid ging es mit diesem Umschwenken nun besonders schnell. Was vorwiegend daran liegt, dass die eine Seite immer schon nur mit halbem Herzen bei der Sache war. Die Primarschule, überhaupt jede Abkehr vom dreigliedrigen Schulsystem ist keine Herzensangelegenheit der CDU; entsprechend gering war das Erstaunen, als die Bundesbildungsministerin im Widerspruch zu ihren Hamburger Parteifreunden direkt nach dem Volksentscheid von einer guten Entscheidung für das Gymnasium sprach. Die Fronten werden wieder klarer gezogen und die Aufteilung des deutschen Bildungsföderalismus wieder deutlicher: Entschieden dreigliedrig im langfristig CDU/CSU-regierten Süden, entschieden in Richtung Einheitsschule dort, wo dauerhaft die SPD regiert, und mit vielen Reformschritten vor und zurück in den Ländern dazwischen mit häufigen Regierungswechseln.

Eine gute Nachricht ist das nicht. Nicht nur, weil die Mehrheiten zunehmend unklarer werden und die Zahl der Wechselländer damit steigt, das „Reformchaos“ und der bildungspolitische „Flickenteppich“ also tatsächlich Wirklichkeit zu werden drohen. Sondern weil in dieser ideologisch aufgeheizten Atmosphäre ein gründlicher und unvoreingenommener Praxistest für die Primar- oder Gesamt- oder Einheitsschule – oder wie immer man sie nun betiteln möchte – schlechterdings nicht möglich ist. Das ist durchaus ein Verlust; denn als theoretisches Konzept ist sie durchaus vielversprechend.

Warum Chancengerechtigkeit eine Illusion ist

Freilich nicht in der Weise, in der sie von den Initiatoren gemeint war: als Egalisierungsmaschine, welche die Schüler gleicher ins Leben hinausschickt, als sie in die Schule hineingegangen sind; als „Schicksalskorrektorat“, das tatsächliche oder angebliche Benachteiligungen ausgleicht. Als der Freiherr von Beust seine Hamburger Schulreform durchsetzte – gegen Widerstand vor allem in der eigenen Partei –, berief er sich explizit darauf, dass die Schule die divergierenden Ränder einer komplizierten Gesellschaft zusammenführen solle.

Das aber überfordert die Schule und geht an ihrem eigentlichen Zweck vorbei. Nicht nur rein praktisch: Mit Zwang mehr Gleichheit zu produzieren bedeutet letztlich, die starken Schüler zu unterfordern oder absichtlich zu bremsen, was niemals Aufgabe einer Schule sein kann. Sondern schon vom Denkansatz her. Es ist nicht Aufgabe von Staat und Schule, Chancengerechtigkeit zu produzieren, schon weil Staat und Schule sich nicht anmaßen können, zu entscheiden, was denn Chancengerechtigkeit ist. Kinder sind augenscheinlich unterschiedlich begabt. Was sind nun „gute“, was sind „böse“ Unterschiede? Dass Kinder aus vermögenden und bildungsnahen Familien Startvorteile haben, gilt als „böse“. Genau genommen kann ein Kind für seine soziale Herkunft aber genauso wenig wie für seine physiologischen und genetischen Startvoraussetzungen – auch diese sind willkürlich verteilt, ohne durch einen gesellschaftlichen Distributionsmechanismus gegangen zu sein, und in diesem Sinne „ungerecht“. Wenn man schon Chancengleichheit anstrebt, müsste man konsequenterweise direkt mit der Pränataldiagnostik beginnen. Lässt man sich auf diese Debatte ein, gerät man schnell ins Fahrwasser der Eugenik.

In der Reduktion der Schule auf eine Produktionsstätte für soziale Gleichheit liegt zugleich eine fast schon primitive Verengung des Bildungsbegriffs. Natürlich ist ein Schulabschluss immer auch ein Eintrittsbillet in die Berufswelt. Aber Bildung, auch Schulbildung ist so viel mehr, umfassende soziale, kulturelle, auch charakterliche Weiterentwicklung junger Menschen. Die kann von ihrer ganzen Natur her aber nur individuell und nicht schematisch sein. Gute Schulen gehen auf die Talente und Interessen ihrer Schüler ein und fördern sie. Das aber produziert am Ende mehr Verschiedenheit, mehr Ungleichheit und nicht weniger.

Bildungserfolg muss deshalb immer mehr sein, als nur zu messen, welche Studierendenquote man unter den Arbeiterkindern erreicht. Jeden nach seinen Fähigkeiten fördern ist die Maßgabe: die Schwachen nicht am Wegrand liegen lassen, die Unterschiede nicht zementieren; aber auch nicht künstlich gleich machen wollen, was nicht gleich ist, nicht möglichst viele Kinder zwanghaft zu Abitur und Studium treiben wollen um den Preis des Niveauverlusts und späterer Frustration.

Warum die Einheitsschule dennoch Vorteile hat

Solche Förderung ist nun aber keine Frage der Schulform und der Schulstrukturen. Individuell fördern und fordern kann man am Gymnasium wie an Real- oder Hauptschule und auch, wenn alles zu einer Einheitsschule zusammenfällt. Voraussetzung ist, dass eine solche Schule Unterschiede, auch harte Leistungsunterschiede zulässt, das heißt: dass eben innerhalb der Schule differenziert wird, nach Leistungsklassen.

Kernargument für die Verlängerung der Grundschule in Hamburg war, dass eine zu frühe Sortierung der Kinder „nach Schubladen“ verhindert werden solle. Nun: Frühes Sortieren ist nicht unbedingt ein Problem, schon in den Grundschulen findet man ja krasse Unterschiede je nachdem, an welchen Ort man geht; das Problem liegt in der relativen Endgültigkeit dieser Sortierung, denn die Hemmschwelle für einen Schulwechsel liegt hoch. Also darin, dass die Trennwände zwischen den Schubladen zu undurchlässig sind.

Hier wäre eine Einheitsschule flexibler, theoretisch jedenfalls. Flexibler wäre sie auch in einem anderen, gleichsam horizontalen Sinn. Sie gestattet starke Leistungsunterschiede nicht nur zwischen den Schülern, sondern auch zwischen den Fächern. Ein Schüler muss nicht in Physik oder Sport in die gleiche Leistungsklasse fallen wie in Musik oder Französisch. Wo er im einen Fach am Gymnasium vielleicht scheitern würde, unnütz eine Extrarunde drehen müsste, wechselt er an der Einheitsschule in einen niedrigeren Kurs.

Auch der Quereinstieg wird so leichter, die Unterschiede zwischen den Bundesländern müssen nicht eingeebnet werden, nur weil die Berufstätigen flexibler und die Fälle der Familienumzüge über Ländergrenzen häufiger werden. Was kein Nachteil ist, zumal Lehrinhalte auch künftig regional verschieden sein können. Mathematik ist universell, aber schon im Deutsch- und Geschichtsunterricht sind lokale Schwerpunkte sinnvoll, und auch die Sprachen haben unterschiedliches Gewicht, Französisch zählt in Baden-Württemberg mehr als in Brandenburg, wo vielleicht eher Polnisch auf den Lehrplan gehört. Die Einheitsschule ist nicht das Ende des deutschen Bildungsföderalismus, eher im Gegenteil.

Insofern ist die differenzierende Einheitsschule substantiell anders und vielleicht auch besser als ein starres dreigliedriges System. Wie groß nun diese Vorteile effektiv sind und ob sie die Mühen und unvermeidlichen Startschwierigkeiten einer Schulreform lohnen, ist mangels Erfahrung nur schwer zu sagen, in Deutschland jedenfalls. Anders denn als fragwürdiges ideologisches Experiment wurde die Einheitsschule hier noch nicht getestet. Und das ist schade.


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