Kalkuliertes Risiko
Wenn Kriege ausbrechen, die eigentlich niemand will, liegt die Ursache meistens in unvollständiger Information. Überschätzung der Gefahr, die vom Gegner ausgeht, Mutmaßen böser Absichten und Aggression, Unterschätzen der Eigendynamik des Waffengangs. Der drohende iranisch-israelische Konflikt ist ein Musterbeispiel.
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Verbal ist ein Stück weit abgerüstet worden, das Kriegsgeschrei ist nicht mehr so wild wie noch vor einigen Wochen; vieles deutet darauf hin, dass man in Tel Aviv Rücksicht nimmt auf die Sorgen des amerikanischen Hauptverbündeten, Finanziers und Waffenlieferanten, dem mitten im Wahlkampf ein Krieg mit dem Iran höchst ungelegen käme – friedensstiftende Demokratie. Aber der Wahlkampf wird vorbeigehen, die militärischen Vorbereitungen laufen im Stillen weiter, innenpolitisch ist Israel durch die neue Regierungskoalition gefestigt. Am iranischen Atomprogramm und der sicherheitspolitischen Bewertung desselben hat sich nichts geändert, und des ewigen Spiels der Halbwahrheiten und Halbkompromisse, die nur von Verhandlungsgipfel zu Verhandlungsgipfel führen, aber die Gefahr seit vielen Jahren schon nicht bannen können, ist man längst müde. Nicht wenig spricht dafür, dass der Krieg im nächsten Jahr kommen wird. Welche Ergebnisse er bringen wird, ist weit weniger klar, hängt von vielen Variablen ab, die keine Seite allein bestimmen kann. Eigentlich müsste das die Akteure in Teheran und Tel Aviv vorsichtiger und kompromissbereiter machen; leicht kann ihnen das Spiel aus der Hand gleiten, mit unübersehbaren Folgen. Tatsächlich aber macht die Unsicherheit den Krieg wahrscheinlicher, denn sie erlaubt gleichzeitig übertriebene Hoffnungen und übertriebene Bedrohungsszenarien.
Die israelische Sicht
Es gibt zwei Dinge, welche die politische Chemie in Israel in diesem Konflikt besonders machen und vom klassischen Abschreckungs- und Präventionsdenken, das die Kriegsgeschichte kennt, solange es Staaten gibt, unterscheidet: der spezielle Charakter von Atomwaffen und die eigene Geschichte des Judenstaates.
Was letztere angeht, so muss man bedenken, dass Israel seit seiner Staatsgründung eine belagerte Festung ist, umgegeben von Feindesland, in dem nicht wenige Regierungen und nicht wenige Völker es immer noch lieber sähen, wenn das „zionistische Gebilde“ verschwände. Dass es zu dieser feindseligen Haltung selbst manches beigetragen hat, ist richtig, ändert aber nichts. Was das kleine Land, mit sieben Millionen Einwohnern, eingekreist von zweihundert Millionen Arabern, über sechzig Jahre am Leben erhalten hat, ist nicht in erster Linie Diplomatie gewesen, auch wenn es mit ihr gelungen ist, die Beziehungen zu manchen Nachbarstaaten erträglich zu gestalten, Ägypten und Jordanien etwa; sondern zuallererst die Überlegenheit seiner Waffen und die Bereitschaft, sie einzusetzen, die der Diplomatie gegenüber den mehrfach geschlagenen und erst danach verhandlungsbereiten Feinden überhaupt erst eine Chance gab. Wie bedroht Israel tatsächlich ist, ist gar nicht entscheidend; gefühlt, aus der historischen Erfahrung heraus, ist es immer bedroht. Und das jüdische Volk hat eben erleben müssen, dass so mancher Diktator, der andeutet, es austilgen zu wollen, gelegentlich auch darangeht, seine Drohung in die Tat umzusetzen. So schief die historischen Vergleiche sein mögen, sie prägen natürlicherweise das Denken, machen alle mindestens vorsichtig, und wo genau die Grenze zwischen berechtigter Vorsicht und neurotischem Verfolgswahn liegt, erkennt man oft erst im Nachhinein.
Gegenüber einer Bedrohung mit Atomwaffen kann man freilich kaum vorsichtig genug sein. Sie sind anders als alle Waffen, welche die Menschheit zuvor kannte. In kürzester Zeit können mit wenigen Bomben ganze Staaten ausgelöscht werden, für das kleine Israel mag eine einzige genügen; man kann solche Angriffe kaum verhindern, allenfalls vergelten, und ob die Abschreckung gegenüber jedem Feind so gut funktioniert wie sie zwischen Amerika und Sowjetrussland funktioniert hat – und auch da nur gerade so, wenn man etwa an die Kuba-Krise zurückdenkt –, ist fraglich; und wenn ein feindlicher Staat einmal über Atomwaffen verfügt, ist es bei aller konventionellen Überlegenheit nicht möglich, ihn zur Aufgabe derselben zu zwingen, besteht die Bedrohung also einmal, so besteht sie für immer.
Das Atomprogramm der sehr offen israelfeindlichen Islamischen Republik Iran ist deshalb für Israel nicht hinnehmbar. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die gegenwärtige Regierung in Teheran tatsächlich noch nicht nach Atomwaffen strebt: Ist das Wissen einmal im Land, sind die technischen Anlagen ausgereift, steht es einer künftigen Regierung frei, diese Entscheidung umzustoßen binnen relativ kurzer Zeit. Und selbst wenn diese künftige Regierung nur zu Defensivzwecken nach den Waffen greift: Wer garantiert, dass ihre Nachfolgerregierung bei der defensiven Haltung bleibt? Und selbst wenn dies so ist: Wer garantiert, dass nicht ein einzelner General einen dummen Fehler begeht – einer genügt! – oder Atommaterial absichtlich oder unabsichtlich an eine der vielen Terrorgruppen gelangt, mit denen der Iran im Ausland kooperiert?
Viele Wenns und viele unsichere Wahrscheinlichkeiten. Aber es ist eben die Eigenart von Atomwaffen, dass sie nicht nur Niederlagen bringen können, Demütigungen und Verlust von Territorien, sonder die totale, physische Vernichtung ganzer Völker. Deshalb das Denken in Extremszenarien. Deshalb das Vermeiden auch scheinbar kleinster Wahrscheinlichkeiten, dass solche Szenarien eintreten können.
Demgegenüber verblassen, aus israelischer Sicht, die sehr viel wahrscheinlicheren, aber in ihren Auswirkungen geringeren Folgen des Militärschlags gegen die iranischen Atomanlagen. Ein solcher Angriff wird Israel als Aggressor dastehen lassen; was aber ohnehin schon sein Ruf ist, die Popularitätswerte des Landes sind im Keller, seit Dekaden schon. Die Welt mag laut protestieren, wie nach dem Bombardement der irakischen Atomanlagen vor dreißig Jahren, der syrischen vor fünf Jahren, nach den Militäraktionen im Libanon und im Gazastreifen; ändern wird das nichts, solange die euroamerikanischen Finanzhilfen und Waffenlieferungen weiter an Israel gehen, und damit kann es rechnen.
Schwerer wiegt die Komplexität des militärischen Unternehmens selbst. Die Flugstrecke in den Iran ist weit und führt über fremdes Territorium, die Ziele sind im ganzen Land verstreut und gut gesichert. Das macht das Unternehmen nicht unmöglich; die iranische Luftwaffe und Flugabwehr sind, wenn man den Militärexperten folgt, technisch unterlegen und werden die Bombardierung nicht verhindern können, und auch wenn manches unterirdische Ziel aus der Luft nicht zerstört werden kann, so wird der absehbare Schaden das Atomprogramm doch auf Jahre hinaus schwer beeinträchtigen. Es führt aber dazu, dass die Aktion sich über längere Zeit hinziehen kann und damit die Führung in Teheran zu Gegenschlägen nötigen wird. Und weil Israel selbst kaum zu treffen ist, möglicherweise gegen Nachbarstaaten, den Schiffsverkehr entlang der Küste, amerikanische Militärbasen in der Region.
Die Folge wäre ein weitaus größerer Krieg, mit Beteiligung der Amerikaner und, womöglich, einiger Golfstaaten, die freilich die iranische Rüstung und die vermuteten Hegemonialbestrebungen der Teheraner Regierung bereits jetzt schon fürchten. Der Ölpreis würde explodieren, die fragile Weltwirtschaft wahrscheinlich in eine Rezession stürzen. Schlimm; aber, von Tel Aviv aus gesehen, nicht katastrophal. Denn ein eigentlich militärischer Flächenbrand droht nicht. Die überlegene amerikanische Militärpräsenz in der Region lässt den iranischen Streitkräften nur wenige Wirkungsmöglichkeiten. Eine Blockade wichtiger Seestraßen kann gegen die gewaltige Luft- und Seestreitmacht allenfalls einige Tage durchgehalten werden. Auch Operationen am Boden müssten in kurzer Zeit in einem Fiasko enden. Mag sein, dass man in Tel Aviv deshalb spekuliert, die Führung in Teheran werde einen solchen Gegenschlag ganz und gar unterlassen und sich auf einige Nadelstichoperationen der verbündeten Terrorgruppen beschränken. Mag auch sein, dass man sich sogar gewisse Vorteile ausrechnet, falls die Teheraner Führung sich provozieren lässt, weil die folgende militärische Demütigung ihr die innenpolitische Basis unter den Füßen wegziehen könnte; der Gegner wäre dann durch innere Machtkämpfe paralysiert, und die nächste iranische Regierung womöglich kooperativer. Die derzeitige würde mit einer solchen Reaktion jedenfalls ihre Irrationalität und die Unmöglichkeit, mit ihr ein System der gegenseitigen Abschreckung zu etablieren, noch stärker beweisen.
Die iranische Sicht
So, in etwa, die Gedanken, die man in der israelischen Regierung und im Generalstab haben mag. Furchtgetrieben und zugleich rational kalkuliert: eine gefährliche Mischung. Und gar nicht so unähnlich den Gedanken, die man in Teheran haben mag, so grundverschieden beide Seiten auch sind.
Natürlich gibt es auch andere Ebenen der Betrachtung als die rein militärstrategische, zum Beispiel die sozialpsychologische. Atomenergie, atomare Bewaffnung sind Symbole nationaler Größe, der Iran ist eine aufstrebende Macht in der Region, mit einer jungen, emotionalisierbaren Bevölkerung. Viele Völker durchlaufen in ihrer mentalen Entwicklung eine nationalistische Phase, in der sie solche merkwürdigen Prestigeprojekte zu brauchen fest glauben. Deutschland, zu Kaisers Zeiten, hatte seine Schlachtflotte; die Amerikaner hatten die Weltraumfahrt. Ebenso kann man natürlich – wie in Israel übrigens auch – einen Interessengegensatz zwischen Regierenden und Bevölkerung postulieren und vermuten, dass bestimmte Fraktionen Interesse an außenpolitischer Unruhe haben, die dem Land objektiv nicht dient. Tatsächlich braucht man diese Vermutung aber gar nicht, um das iranische Festhalten am Atomprogramm zu erklären.
Was den zivilen Teil angeht, gilt zunächst einmal die simple Feststellung: Das Land hat ein Recht darauf; der Atomwaffensperrvertrag gesteht die wirtschaftliche Nutzung der Kernenergie allen Staaten ausdrücklich zu. Was den vermuteten militärischen Teil betrifft, kann man sich zumindest auf den Gleichheitsgrundsatz berufen. Israel ist Atommacht – uneingestandenermaßen, aber alle Welt weiß es. Pakistan, Irans östlicher Nachbar, ist Atommacht, ebenso Indien; ebenso Amerikaner, Briten, Franzosen, die sich ungefragt immer wieder in der islamischen Welt einmischen. Mit welchem Recht sollte ein aufstrebendes Siebzigmillionenvolk, ein altes Kulturvolk zumal, sich diese Waffen da verbieten lassen?
Nun geht im Dschungel der internationalen Politik in aller Regel immer noch Macht vor Recht, insofern sind die juristischen Betrachtungen sekundär. Fragen müssen wir in erster Linie nach dem machtpolitischen Interesse Irans an atomarer Bewaffnung; und dieses Interesse besteht, denn das Land ist bedroht; jedenfalls glaubt seine Regierung, dass es bedroht sei, oder mindestens doch sie selber. Und Atomwaffen können sie unangreifbar machen, auf Jahrzehnte hin.
Wenn man ein Land dreißig Jahre lang zum Paria der internationalen Politik macht, zum Verbrecherstaat erklärt, ist kaum verwunderlich, wenn es sich als solcher zu verhalten beginnt. Amerika betrachtet den Iran seit Chomeinis Revolution von 1979 als Feind; beleidigt und ein wenig rachsüchtig, wie gegenüber Castros Kuba, weil man in beiden Fällen von den Revolutionären überrumpelt wurde. Seither unternimmt man alles zur Isolation des Landes, meidet offizielle Beziehungen bis heute, bewaffnet seine Feinde. Gleichzeitig zeigt Washington, dass es ihm missliebige Regime jederzeit gewaltsam auswechseln kann: in Bagdad, in Tripolis; solange jedenfalls, wie diese Regime nicht nuklear bewaffnet sind. Haben sie die Bombe entwickelt, werden sie aber hofiert oder jedenfalls toleriert: in Islamabad, in Pjöngjang. Realpolitisch mag das amerikanische Vorgehen verständlich und sogar vernünftig sein. Realpolitisch ist das iranische dann aber ebenso verständlich; jedenfalls wenn man davon ausgeht, dass es die lange Wegstrecke, bis die Waffen einsatzbereit sind, überwinden kann, ohne dass es zum Krieg kommt.
Gründe zugunsten dieser Spekulation lassen sich finden. Konnte man Atombehörde und westliche Politik nicht über das Atomprogramm täuschen? Das gelang erstaunlich lange. Konnte man nicht in Verhandlungen eintreten, unter Hinzuziehung der konfliktscheuen Europäer, hier ein halbes Zugeständnis, dort ein halbes Zugeständnis, dort wieder eine kleine Lüge, und noch mehr Zeit gewinnen? Das gelingt bis heute. Konnte man nicht darauf hoffen, dass im fernen Amerika mit seinen häufigen Regierungswechseln, seinen weltweiten Interessen, seiner wirtschaftlichen und militärischen Überdehnung auch eine Phase eintrat, in der zum Konflikt Wille und Ressourcen fehlten? Und konnte man nicht ferner darauf vertrauen, dass Russland und China, die enge Wirtschaftsbeziehungen zum Iran unterhalten, die Kriegspartei in Washington zügeln würden, wenn es hart auf hart käme?
Umgekehrt hat man im Fall eines Militärschlags zwar einiges zu verlieren. Viele Menschenleben natürlich, milliardenschwere Investitionen, militärisches Prestige. Aber eine Besetzung mit Bodentruppen, einen Versuch zum Regime change braucht man nicht zu fürchten; das Land ist viel zu groß, für eine Invasion fehlen die Mittel, und die Amerikaner wüssten mit dieser Beute noch weniger anzufangen, als sie mit Irak und Afghanistan anzufangen wussten. Die Folgen wären also kontrollierbar, für das System vielleicht sogar förderlich, weil das Volk angesichts der äußeren Bedrohung allen Grund hätte, sich hinter ihrer Führung zu versammeln; das Volk, bei dem das Atomprogramm durchaus populär, Israel und Amerika aber bereits bewährte Feindbilder sind…
Entscheidungsfaktoren
Die Frage, ob der Krieg, wenn er denn kommt, begrenzbar bleiben wird oder nicht, dürfte sich aller Voraussicht nach an zwei Punkten entscheiden. Erstens einem militärischen: Gelingt es der israelischen Luftwaffe, die anvisierten Ziele „schnell und sauber“ zu zerstören? Schnell müsste heißen: innerhalb weniger Tage; sauber würde heißen: nur mit konventionellen Waffen. Daran bestehen, trotz aller Waffenlieferungen, einschließlich modernster bunkerbrechender Bomben aus Amerika, noch gewisse Zweifel, auch in Israel selbst. Der zweite Punkt ist ein politischer, hängt mit dem ersten aber eng zusammen: Wie sehr kann die Teheraner Regierung dem Verlangen der eigenen Bevölkerung nach einem Vergeltungsschlag gegen andere als israelische Ziele standhalten? Bei einem Bombardement von zwei Wochen Dauer, gar dem Einsatz taktischer Atomsprengköpfe gegen unterirdische Anlagen, unter offensichtlicher Duldung der Amerikaner, ist das nur schwer vorstellbar. Und amerikanische Schiffe und Militärbasen liegen, anders als Israel selbst, für das iranische Militär in Schlagdistanz, ebenso wie die wichtigsten Öl-Schifffahrtsrouten.
Wenn es freilich wirklich so ist, dass für beide Seiten Sorgen um die eigene Sicherheit entscheidend sind, kein aktives Kriegsinteresse besteht, sondern nur die Unsicherheit über die Absichten des Gegenübers beide Parteien immer weiter in Richtung Konflikt treibt, gäbe es wohl noch eine theoretische Chance für einen Kompromiss, der beiden Seiten diese Sicherheit verbürgt. Keine Atomwaffen für den Iran; was bedeutet, dass ein wirksames Kontrollsystem in den Atomanlagen eingerichtet, das technische Material derart unter internationaler, auch israelischer Aufsicht reduziert und überwacht wird, dass eine militärische Nutzung völlig ausgeschlossen ist. Und gleichzeitig: Sicherheitsgarantien für den Iran durch offizielle Beziehungen und einen Nichtangriffspakt mit den Vereinigten Staaten. Nur eben: Unter Gewichtswahrung aller Beteiligten müsste das geschehen. Dort liegen die Grenzen der Theorie.
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