Katholik und Patriot

Vor neunzig Jahren wurde der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger von Rechtsradikalen erschossen. Unter den Gründungsprotagonisten der Weimarer Republik wurde der Unterzeichner des Waffenstillstands von Compiègne lange Zeit unterschätzt.


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Es ist ein düsterer Herbstabend, der 7. November um kurz nach neun Uhr, als ein Autokonvoi von Osten her die deutsch-französische Front überquert. Mit dabei: Matthias Erzberger, Staatssekretär der kaiserlichen Regierung. Neugierige Soldaten umringen sogleich seinen Wagen. Ob der Krieg nun zu Ende sei, wollen die Franzosen wissen. Ja, wird geantwortet, nun werde ein Waffenstillstand abgeschlossen. Jubel bricht aus. Für die Verlierer aber geht die Fahrt nach Westen weiter. Eine Fahrt, die nach Erzbergers späterem Zeugnis für ihn erschütternder war als die drei Wochen zuvor ausgeführte an das Sterbebett seines einzigen Sohnes.

Zunächst ist es eine Fahrt ohne klares Ziel; man weiß nur, dass man zum Marschall Foch geladen ist, dem alliierten Oberbefehlshaber. Wohin genau die Deutschen nun im Dunklen kutschiert werden, wissen sie nicht – die erste in einer langen Kette von Demütigungen. Schließlich kommt man an im Wald von Compiègne und besteigt jenen berühmt gewordenen Eisenbahnwagon, Nr. 2419 D, wo die Delegation der Entente wartet. Marschall Foch ist erstaunt, als ihm kein preußischer General in Hochglanzuniform gegenübersteht, sondern ein unscheinbarer, mondgesichtiger Zivilist ohne Adelstitel, in einem langen Mantel, mit Brille und Hut. Milde stimmt es ihn nicht. Der Franzose schlägt einen herrischen Ton an. Zu verhandeln gibt es eigentlich wenig. Deutschland hat öffentlich um Waffenstillstand gebeten und seine Niederlage damit faktisch eingestanden. Seit Monaten ist das deutsche Heer in stetem Rückzug; jeder Tag, hat die Heeresleitung eindringlich gewarnt, könne den Zusammenbruch der Front bringen.

Der Forderungskatalog, den Erzberger erhält, vermittelt den Eindruck einer kompletten Kapitulation. Rückzug des deutschen Heeres hinter den Rhein, Übergabe riesiger Mengen kriegswichtigen Materials, Auslieferung der Kriegsflotte; Fortsetzung der englischen Seeblockade. Die Alliierten wollen das Reich nachhaltig kampfunfähig machen, um eine Wiederaufnahme des Krieges zu verhindern. Erzberger weiß, dass er letztlich annehmen muss; eine Fortsetzung des Krieges brächte weit schlimmere Folgen.

Dennoch kämpft er wie ein Löwe; freilich gehindert durch das Chaos jener Tage. Während er noch verhandelt, flieht der Kaiser ins Exil, bricht in Berlin die Revolution aus, stürzt die Regierung, der er angehört. Seine Legitimation steht in Zweifel. Erst als Friedrich Ebert, der neue Reichskanzler, sein Mandat ebenso bestätigt wie der Feldmarschall Hindenburg als Chef der Obersten Heeresleitung, kann er abschließen. Hindenburgs Mitteilung freilich wird als offene Depesche versandt, mit dem für jedermann sichtbaren Hinweis, dass der Waffenstillstand unbedingt sofort abzuschließen sei, auch ohne jede Erleichterung.

Es kommt zu einer hektischen Nachtsitzung. Insgesamt bleiben die Bedingungen hart; Erzberger hat nur einige Verbesserungen im Detail erwirken können. Um 5 Uhr 12 in der Früh wird unterschrieben. Erzberger gibt noch eine Erklärung ab, signalisiert das ehrliche Bemühen, die auferlegten Bedingungen zu erfüllen. Und er schließt: „Ein Volk von siebzig Millionen leidet, aber es stirbt nicht.”

Erzberger hat recht. Das deutsche Volk überlebt diese dunkle Stunde. Für ihn aber bringt die Fahrt nach Compiègne letztlich sein Todesurteil.

Herkommen

Wer war dieser Matthias Erzberger, der so plötzlich und unerwartet in den Fokus der deutschen und der Weltgeschichte rückte? In die Wiege gelegt war ihm diese Rolle nicht. 1875 geboren, war er in der preußisch-aristokratisch dominierten Elite des Kaiserreichs ein dreifacher Außenseiter: ein Bürgerlicher, ein Süddeutscher und obendrein ein Katholik.

Er stammt aus dem schwäbischen Buttenhausen, einem Städtchen von nicht einmal tausend Einwohnern, aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Der Vater ist Schneidermeister, streng katholisch, und damit Angehöriger einer kleinen Minderheit in dem Ort, in dem jeweils rund die Hälfte der Einwohner Protestanten oder Juden sind und nur wenige Familien katholisch. Erzberger verinnerlicht sehr früh die Situation der inneren Diaspora, in der sich das katholische Bevölkerungsdrittel im preußisch-deutschen Staat der protestantischen Hohenzollernkaiser und des Bismarckschen Kulturkampfs befindet. Auch im Königreich Württemberg, in dem seine Heimat liegt, sind die Katholiken in der Minderheit.

Im sehr stark nach außen abgeschotteten Milieu der katholischen Kirche und ihrer zahlreichen Vorfeldorganisationen bewegt Erzberger sich die meiste Zeit seiner Jugend. Er absolviert eine Ausbildung zum Volksschullehrer – am katholischen Lehrerseminar in Saulgau – und schließt das Examen als Primus ab. Seine politischen Interessen verfolgt er zunächst als Journalist, schon mit zwanzig Jahren in der Redaktion des „Deutschen Volksblatts” aus Stuttgart, einer der vielen Zeitungen, die damals im Umfeld der Zentrumspartei und der Kirche herausgegeben werden. Die Medienlandschaft im Kaiserreich ist vielfältig mit einer riesigen Zahl kleiner Blätter, von denen freilich ein großer Teil von der einen oder anderen Interessenorganisation herausgegeben wird. Erzberger ficht begeistert für die katholische Sache. Die Tätigkeit als Journalist gibt er auch in seiner Zeit als aktiver Politiker nicht auf. Es gibt damals keine strikte Trennung von Politik und Journalismus, mancher Politiker kommentiert abends für Zeitungen die Reden, die er morgens im Parlament gehalten hat; die Sphären von Bericht und Kommentar verschwimmen. Übrigens eine Erscheinung, der wir heute in der Zeit der Internetblogs wieder begegnen.

Parallel zu seiner journalistischen Tätigkeit beginnt Erzberger auch sein Engagement als Arbeitersekretär, als Anwalt der kleinen Leute in diversen katholisch geprägten Vereinen. Zentrumspartei und Kirche konkurrieren damals, in der Zeit der ersten päpstlichen Sozialenzykliken, mit der militant atheistischen Sozialdemokratie um die Zustimmung der katholischen Arbeiterschaft. Erzberger macht Vortragsreisen, informiert die Arbeiter – und auch Handwerker, Bauern und Kleinbürger – über die Gesetzgebung und ihre Rechte, regt die Gründung katholischer Arbeitervereine und christlicher Gewerkschaften an als Gegenorganisation zu den sozialdemokratischen. Er ist kein Theoretiker, sondern hat eine große praktisch-realpolitische Begabung.

Berufspolitiker

Auch im Zentrum, der katholischen Volkspartei im Kaiserreich, in das Erzberger ganz selbstverständlich eintritt, tritt er schnell in die erste Reihe. 1903 erhält er einen sicheren Wahlkreis und wird Abgeordneter, mit nur 28 Jahren als Benjamin des Reichstages, und stürzt sich mit voller Kraft auf die neue Aufgabe. Erzberger gilt als enorm fleißig. Gustav Stresemann hat das später einmal geschildert: „Im Reichstag ging damals die Sage, daß während der ganzen Ferienzeit, in der die übrigen Abgeordneten sich von der parlamentarischen Arbeit erholten, Herr Erzberger in frühester Morgenstunde erschien, alle Drucksachen läse, alle Etats vergliche und sich so das gewaltige Rüstzeug schüfe, das ihn in den Etatdebatten der künftigen Session zum Führer machen sollte. Er führe, so hieß es, und das war wohl wahr, eine beinahe asketische Lebensweise, besuche keine Gesellschaften, arbeite sechzehn Stunden am Tage und schaffe sich diejenigen körperlichen Nerven an, die ihn geeignet erschienen ließen, in der ‚Drecklinie’ zu stehen, ohne sich durch den aufspritzenden Schmutz aus der Fassung bringen zu lassen …“ Und der preußische Kriegsminister von Einem meinte einmal über den Parlamentsbetrieb, wenn ein neuer Antrag komme, den er nicht gleich verstehe, frage er zuerst Erzberger. „Der kann immer gleich Auskunft geben und weiß viel besser Bescheid als meine Offiziere und Beamten.”

Fleiß und Sachverstand lassen Erzberger nach weniger als einem Jahr in die Budgetkommission des Reichstags aufrücken. Eine Schlüsselstellung; das Budgetrecht ist das schärfste Schwert des Reichstags im halb parlamentarischen, halb autokratischen System des Kaiserreichs. Seit 1906 ist er auch Berichterstatter für die Militärvorlagen – eine herausragende Position in der damaligen Zeit, in der der Heeresetat einen Großteil des Staatshaushaltes ausmacht. Ohne formell in Partei- und Fraktionsspitze mitzuwirken, gilt er alsbald als der kommende Mann des Zentrums. Er pflegt weiter sein journalistisches Netzwerk, baut auch die „Korrespondenz für Zentrumsblätter” auf, eine katholische Presseagentur. Dies freilich auch aus ganz handfestem Interesse –Diäten für Reichstagsabgeordnete gibt es erst spät und spärlich, er benötigt die Einnahmen aus seiner Unternehmertätigkeit.

Innerhalb des Zentrums zählt Erzberger zum eher linken, sozialpolitischen Flügel, was sich im übrigen nicht auf Deutschland beschränkt. 1906 hat er maßgeblichen Anteil an der Aufdeckung der Kolonialskandale in Deutsch-Südwest und der brutalen Behandlung der Eingeborenen durch die dortigen Behörden. In der Folge wird die Kolonialverwaltung reformiert. Der Skandal führt freilich auch zur Auflösung des Reichstags und zu einem Rückschlag für das Zentrum bei den folgenden Wahlen. Das bremst Erzbergers innerparteiliches Fortkommen ein wenig. 1912 wird er, noch nicht vierzigjährig, gleichwohl Mitglied im Fraktionsvorstand.

Propagandist und Annexionist

Nichtsdestoweniger ist Erzberger als Kind seiner Zeit auch Nationalist. Er tritt in Fragen des Militäretats stark für die Aufrüstung ein, weil er das Kaiserreich rüstungsstrategisch im Nachteil sieht. Als sich die zunehmenden Spannungen entladen und der Krieg ausbricht, stimmt er wie alle anderen Abgeordeten (mit Ausnahme des Sozialdemokraten Karl Liebknecht, der sich enthält) im August 1914 für die Kriegskredite. Wie die überwiegende Mehrheit des deutschen Volkes wird er von der Kriegsbegeisterung erfasst und Verfechter offensiver Kriegsziele.

Die Regierung setzt ihn – damals sehr ungewöhnlich für einen Parlamentarier – in der Folge in exekutiven Funktionen ein, so als Leiter der Zentralstelle zur „politischen Aufklärung des Auslandes” (also: Propaganda), in der er sich mäßig erfolgreich bemüht, neutrale Länder wie Italien, Bulgarien oder Rumänien an die Mittelmächte anzubinden oder zumindest aus dem Krieg herauszuhalten.

Auch innenpolitisch betreibt Erzberger Propaganda, arbeitet an einer Denkschrift mit, die Reichskanzler Bethmann-Hollweg im September 1914 veröffentlicht und in der massive Annexionen in Belgien, Frankreich und auch im Osten gefordert werden. Heftig geht er die Kriegsgegner publizistisch an, insbesondere England wegen dessen Seeblockade, die die Zivilbevölkerung in Deutschland hungern lässt. Für jedes gekaperte Handelsschiff, fordert er wutbrausend in einem Zeitungsartikel, sollten deutsche Flugzeuge mindestens eine englische Stadt oder ein englisches Dorf vernichten, und er wünscht sich massive Vernichtung durch „deutsche Technik und deutsche Chemie” (heißt: Giftgas). Denn „die größte Rücksichtslosigkeit im Krieg”, so sagt er, „gestaltet sich tatsächlich bei vernünftiger Anwendung zur größten Humanität.”

Friedenspolitiker

Nun steht Erzberger damit in der deutschen Öffentlichkeit nicht alleine und auch in der Riege der deutschen Politiker nicht. Sehr viele derer, die später in der Weimarer Zeit tragende Säulen der Demokratie wurden, haben damals – in verschiedenen Abstufungen – eine aggressive Politik vertreten, etwa auch Gustav Stresemann und Walther Rathenau, um nur die berühmtesten Namen zu nennen. Sie unterscheiden sich freilich darin, wann und wie stark sie umzudenken begannen.

Erzberger lernt vergleichsweise schnell um. 1916/17 führt ihn nüchternes Zahlenwerk zur realpolitischen Einsicht, dass das Völkerringen militärisch auch bei brutalster Gewaltanwendung nicht zu gewinnen und folglich eine Verständigung mit den Feindmächten die einzige Möglichkeit für das Reich ist, heil aus dem Krieg herauszukommen. Den uneingeschränkten U-Boot-Krieg lehnt er bereits ab, und als der Vatikan unter Papst Benedikt XV. eine Vermittlung beginnt, finden wir Erzberger endgültig auf der Seite der Friedenspolitiker. Er initiiert eine Resolution des Deutschen Reichstages „für einen Frieden der Verständigung und der dauernden Versöhnung der Völker“ und organisiert dafür eine Mehrheit aus Zentrum, Sozialdemokraten und Liberalen; er gründet den Friedensbund deutscher Katholiken und wird Vorsitzender der deutschen Liga für den Völkerbund. Freilich, zum Frieden führt das alles nicht; der Kaiser und die Oberste Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff sind noch ebenso wenig friedensbereit wie die Alliierten. Aber in der Öffentlichkeit wird der Gedanke des Verständigungsfriedens nun mit dem Namen Erzberger verbunden.

Insofern liegt es nicht fern, dass, als ein Jahr später die militärische Lage so verzweifelt ist, dass Deutschland um Frieden bitten muss, Erzberger in die neue, bereits halb parlamentarische Regierung des Prinzen Max v. Baden aufrückt und die Waffenstillstandsverhandlungen führen soll.

Es handelt sich um eine durchgeplante Charade: Indem nicht die Militärs, sondern zivile Politiker bis zuletzt die Verhandlungen führen, soll die Illusion erweckt werden, nicht die militärische Lage, sondern der Friedenswille der neuen Regierung sei der Hauptantrieb für das deutsche Angebot – um dem Feind so die schlimme Lage des deutschen Heeres und der deutschen Heimatfront zu verheimlichen und die Waffenstillstandsbedingungen zu mildern. Das außenpolitische Manöver hat freilich eine innenpolitische Kehrseite; den Generalen wird so ermöglicht, sich von der Verantwortung für die Niederlage zu entlasten und sich vom Waffenstillstand, den sie selbst gefordert haben, öffentlich zu distanzieren. Erzberger erkennt das Dilemma sehr wohl: „Die Regierung des Prinzen Max von Baden hat vielleicht einen einzigen Fehler gemacht … Sie hätte den General Ludendorff hinschicken und ihm sagen sollen: ‚Schließe du den Waffenstillstand ab!’ (Aber was) wäre denn eingetreten, wenn … etwa Ludendorff und Hindenburg zu Foch hätten gehen müssen? – Die … glatte Kapitulation! Und davor haben wir unser Volk und unser Heer bewahrt: denn die Armee konnte nun zurückgeführt werden und ist nicht in Kriegsgefangenschaft geraten …”

Mordopfer

Die Waffenstillstandsbedingungen bleiben gleichwohl sehr hart, und da das Kriegsende zeitlich mit der unglücklichen Novemberrevolution zusammenfällt, ist es den alten Eliten vollends möglich, sich von den Kriegsfolgen zu distanzieren und, trotz eigentlich besseren Wissens, zu eifrigen Verfechtern der Dolchstoßlegende zu werden. Die Vertreter der neuen Demokratie, und Erzberger ganz zuvorderst, gelten als Verräter – und bald schon als legitime Ziele für politische Attentate, zumal nach dem Friedensdiktat von Versailles, dessen Annahme Erzberger – unter Verweis auf noch schlimmere Folgen einer Ablehnung, nämlich des Einmarsches der Alliierten und einer möglichen Zerschlagung des Reiches – mit durchsetzt.

Und es gibt noch andere Punkte, die ihn zur Zielscheibe werden lassen. Als Finanzminister, der er nun wird, ist er angesichts der Staatsverschuldung, die sich seit Kriegsbeginn verfünfzigfacht hat, zu radikalen Maßnahmen gezwungen. Er bringt einerseits eine historische Strukturreform auf den Weg, muss aber andererseits ganz schlicht auch das Steueraufkommen erhöhen, um das überschuldete Staatswesen zu stabilisieren; dazu geht er an die Vermögen, was ihm die ehemals herrschenden, vermögenden Schichten noch mehr zum Feind macht, umso mehr, als er sie als Kriegsgewinnler darstellt. „Der Grundfehler der Wirtschaftspolitik im Kriege lässt sich auf die kurze Formel bringen, dass man durch die allgemeine Wehrpflicht die lebendigen Leiber mobil gemacht hat, aber Halt machte vor dem Kapital und dem Besitz. Nur das Blut, nicht auch das Gut verlangte man freiwillig und ohne Zinsen für das Vaterland.“ An das Gut gedenkt er nun heranzugehen, durch Sonderabgaben („Reichsnotopfer”), Verlagerung des Schwerpunktes auf direkte Steuern und eine progressive Einkommenssteuer.

Erzberger wird in der Folge verachtet, wird gehasst von erheblichen Teilen des nichtkatholischen Bürgertums. Dreimal wird er 1919/20 zu Zielen von Mordversuchen, zuletzt eines Pistolenattentats, bei dem ihm nur ein glücklicher Zufall – eine Kugel prallt von einer Uhrenkette ab – das Leben rettet. Der Täter wird von der Justiz, wie häufig damals, sehr milde behandelt und wegen gefährlicher Körperverletzung zu gerade einmal eineinhalb Jahren Haft verurteilt.

Nachdem er aus dem Ministeramt ausscheiden und sich mit Korruptionsvorwürfen auseinandersetzen muss, wird es zeitweise ruhiger um Erzberger. Aber als die Vorwürfe ausgeräumt sind, plant er seine Rückkehr auf die politische Bühne und wird wieder zum Ziel. Und diesmal sind die Attentäter erfolgreich. Als Erzberger sich am 26. August 1921 unbewacht auf einem Waldspaziergang im Schwarzwald befindet, wird er von den ehemaligen Offizieren Heinrich Schulz und Heinrich Tillessen erschossen. Die beiden Täter stammen aus der Organisation Consul, der aus den Freikorps hervorgegangenen Terrorgruppe, einer Art rechter RAF der zwanziger Jahre

Die Terroristen können, auch das ist damals nicht selten, ins Ausland entkommen und werden nicht belangt. (1933 kehren sie unter dem Schutz des Naziregimes nach Deutschland zurück, werden erst nach dem Krieg zu Haftstrafen verurteilt und ungewöhnlich schnell begnadigt.) Teile von Polizei und Justiz stehen sehr offensichtlich eher auf der Seite der Terroristen als des Staates. Das löst Empörung aus; von Tucholsky stammen diese Verse:

Es kostet nichts. In Blutkapiteln
erlebten wirs – was kriegt solch Vieh?
Den Auslandspaß – „Nichts zu ermitteln“ –
so kämpft der Geist der Monarchie.

Hier verschwimmen indes ehrendes Andenken und Kampfparolen im politischen Gefecht, dessen Teil die Autoren solcher Worte auch waren. Der Geist der Monarchie? Die Monarchie hatte politische Morde nicht nötig gehabt und auch nur vergleichsweise wenig Gefälligkeitsjustiz. Das Kaiserreich war einer der verlässlichsten Rechtsstaaten Europas gewesen und, trotz zunehmender Verrohung, im Großen und Ganzen auch im Kriege noch geblieben. Erst die Novemberrevolution stürzte die Verhältnisse um, brachte die Beamten des alten Staates in den Loyalitätskonflikt und rief die Konterrevolution mit all ihren brutalen Zügen hervor. Diese „konservative Revolution” der frühen 20er Jahre war zwar in der Tat ein merkwürdiges Bündnis aus verspäteten Monarchisten und verfrühten Nazis. Aber das ideologische Schmiermittel in ihrem terroristischen Räderwerk war ein biologistisch aufgeladener Nationalismus, nicht die sentimentale Anhänglichkeit an versunkene mehrhundertjährige Dynastien; die Treue der Mörder galt nicht dem vertriebenen Kaiser, sondern Ludendorff oder dem nächstbesten anderen „Führer”, der sich finden ließ.

Man darf die Deutungshoheit über Matthias Erzberger nicht den Tucholskys, der linksliberalen Geisteswelt des mondänen Berlins der zwanziger Jahre überlassen, denn die verstehen ihn nicht und definieren ihn in erster Linie über die Feindschaft zu dem großen Sammelsurium, das sie simplifizierend als Reaktion zusammenfassen. Als reaktionär musste ihnen aber, bei genauer Betrachtung, auch Erzberger selbst erscheinen, der zuallererst Patriot war, auch heimatverbundener Lokalpatriot, und sozial engagierter Katholik; alles Welten, die dem Berliner Intellektuellenmilieu gänzlich fremd waren (und sind).

Vermächtnis

Erzberger steht für die demokratische Traditionslinie der gemäßigten west- und süddeutschen Konservativen, die sich fortsetzt mit Adenauer und Kohl, von ganzem Herzen patriotisch, aber doch eingebunden in die von ihrer ganzen Natur und Geschichte her übernationale römische Weltkirche. Insofern steht er als Opfer neuheidnischer Frühnazis auch in der langen Liste der katholischen Märtyrer. Gegen den sozialistischen Atheismus kämpfte er zeitlebens so heftig wie am Ende gegen den verblendeten, selbstvergottenden Nationalismus. Die Religion sei, schrieb er einmal, „Leitstern, Wärmequelle, Kraftstrom und Ziel in gleicher Weise. Eine religionsfeindliche Politik führt die Völker in Elend und Zerrüttung, religionsfreundliche Politik gibt den Staaten Stärke, Gedeihen und Wachstum in den sonnigen Tagen des Friedens und den schmerzensreichen Nächten nationalen Unglücks. Die Religion veredelt und adelt die Politik, die ohne Religion nur zu einem Streit um die besseren Futterplätze herabsinkt.”


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