Keim der Revolution

Der Sozialroman ist die Paradedisziplin der französischen Romanciers im neunzehnten Jahrhundert. In keiner anderen Sprache wird so hübsch gehungert. Auf die Spitze treibt es Émile Zola im Germinal; vierhundert Seiten Jammer, Leid und Tod. Harter Naturalismus, aber mit scharfem Auge geschildert und viel Wille zur Nuance.


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Das Buch legt man deprimiert aus der Hand. Zwar, drei halbe Jahrhunderte liegen sie zurück, die Zustände, die darin beschrieben sind, und, in Europa, sind sie lange überwunden. Doch auch durch den großen Abstand hindurch wirkt das Elend; in diesem Fall der Bergleute, oben in Flandern, nahe der belgischen Grenze. Harte Arbeit unter Tage, in stickiger Enge, hier schwitzend, dort frierend, Kohlenstaub atmend, stets gefährdet durch Einbrüche, eindringendes Wasser, Grubengas. Arbeit, für die sie gar zu kärglich entlohnt werden. Es gilt strenger Akkord. Das Lohnniveau pendelt stets am Rand des Hungers, im „Gleichgewicht der leeren Bäuche“.

Um leidlich zu überleben, müssen die Familien auch die Kinder im Bergwerk schuften lassen, oft vom achten Jahr an, auch die Mädel, bis sie verheiratet sind. Lahmt die Wirtschaft, sinkt die Nachfrage, sucht man durch neuen Tarif und Falschrechnerei die Löhne weiter zu drücken. Wehren sie sich, leiden die Grubenarbeiter umso mehr, denn im Streik bleibt der Lohn aus, und gegen Streikende sendet die Regierung Militär. Die Fabrikanten sitzen am längeren Hebel; zur Not holt man Fremdarbeiter. Hauptmotiv über die ganze Lesestrecke ist der Hunger, über Tage und Wochen. „Man hat nicht alle Tage sein Bissen Fleisch.“ – „Wenn man nur alle Tage Brot hätte!“

 

Die Klassen

Émile Zola (1840-1902)

Eine Anklageschrift von Zola also, „J’accuse“ schon hier? Ja; aber differenziert. Jedenfalls wird viel in Grautönen gemalt. Die Arbeiter sind keine Engel und die Kapitalisten keine Teufel. Schuld sind, eher allgemein, „die Verhältnisse“, die beide zu dem machen, was sie sind, und die Stufen dazwischen, die Aufseher, Maschinisten, die kleinen Händler. Einige Szenen zwar sind nachgerade obszön. Als die Arbeiter sich doch zum Streik entschließen und man im Haus des Direktors speisend die Ankunft ihrer Abgesandten erwartet, nacheinander allerlei Köstlichkeiten auffahrend, getrüffelte Eier, Forellen, gebratene Rebhühner, Krebse … „Diese Schnitte Wurst werden sie nicht bekommen“, scherzt einer; wo draußen den Kindern es am Brot fehlt.

Im allgemeinen aber wird die besitzende Klasse eher harmlos gezeichnet, nicht böse, eher unwissend, hilflos im Augenblick der Konfrontation, herablassend ignorant, eben lange daran gewöhnt, von Kapitalerträgen zu leben, auf die der Vater oder Großvater einst mit riskanter Investition eine Anwartschaft erwarb; „von dem Erbe, das andere für uns erworben, wird man am sichersten fett“. Recht tüchtig einige der höheren Angestellten, namentlich die Ingenieure. Sympathisch die Töchter. Verzeichnet sind allenfalls die Pastoren, mal indifferent der Not gegenüber, mal die Menge zum Aufruhr treibend, um für die Kirche daraus Gewinn zu ziehen. Ohne Antiklerikalismus geht es bei Zola nie; hier aber steht er im Hintergrund.

Auch die Grubenarbeiter kennen mehr als den Märtyrermodus. Gerechten Zorn – „Haß der Hungerleider“; verzweifelnde Todessehnsucht – „Wenn man tot ist, hat man keinen Hunger“; das ja, aber auch härtere Seiten. Alkoholismus; Zank- und Rauflust; als mit dem Streik Anarchie und Gewalt einziehen, manchmal mehr. Einer entgegnet, gefragt, warum er einen wachestehenden Soldaten, der doch auch ein armer Kerl gewesen, abstach wie ein Schwein: „ich weiß nicht; ich hatte das Verlangen“. Unter denen, die sich aufschwingen, den Widerstand zu organisieren, nicht nur Sachwaltung der Interessen, selbstloser Opferwille; auch Eitelkeit und Machtphantasien, Visionen der Herrschaft, „Freude, ein Führer zu sein“.

 

Die Lehre

Motor des Wachstums, Motor des Elends: Fabriken und Minen des neunzehnten Jahrhunderts

Allseits ist Verfall, physischer, moralischer. Die Verantwortung bleibt im Ungefähren. Fern die Bergbaugesellschaft, immer nur „la compagnie“, fern der Verwaltungsrat und die Eigentümer, die man unter den Arbeitern kaum mit Namen kennt. Im Ungefähren auch der Weg zur Besserung. Die Führer unter den Arbeitern lesen sich allerlei zusammen, hier ein wenig Marx, Expropriation der Expropriateure: „Die Grube muß dem Bergmann gehören, wie das Meer dem Fischer, die Erde dem Bauern gehört“; wobei die Berufsrevolutionäre der Internationale, die reisenden Redner und Aufwiegler, nach Bildung, Kleidung schon recht bürgerlich geworden, kurzfristig wenig Konstruktives beitragen, oft genug selbst im „innern Kampf eitler ehrgeiziger Streber“ liegen.

Dort ein wenig Bakunin; Anarchismus, Zerstörung aller bestehenden Ordnung, damit auf der verbrannten Erde wieder Fruchtbares wachse, in der Hoffnung, „daß der anbrechende Tag die Ausrottung der Welt beleuchten werde, in der kein Vermögen mehr übrig war, weil das alles gleichmachende Richtscheit wie eine Sense über den Erdboden dahingefahren war“. Schließlich, bei den eher nüchternen, praktischeren, weniger belesenen, der beginnende Syndikalismus, Ringen um kleine, langsame Verbesserungen, Reform, nicht Revolution, was freilich oft genug auch an den Machtverhältnissen scheitert. Daraus backt nun jeder seine Mischung, der eine gründet einen Hilfsverein, der andere legt Bomben. Bunt ist die Wirklichkeit in den 1860er Jahren. Konstant ist nur der Hunger.

Bleibt keine Hoffnung? Das Buch heißt „Germinal“, nach dem Monat im Revolutionskalender, der im gregorianischen dreißig Tagen zwischen Ende März und Ende April entspricht. „Germer“ heißt keimen, sprießen, passend zur Pflanzenwelt im anbrechenden Frühjahr. Ganz zum Ende sieht es so aus, als wären die bedrückten, geschlagenen Grubenleute ausersehen, Keim des großen Aufstands zu werden, der die Ordnung der Ausbeuter hinwegfegt. „Menschen drangen zur Oberfläche, eine schwarze Armee von Rächern, langsam aus den Furchen hervorwachsend (germait lentement dans les sillons). Anschwellen würde dieses Heer im Laufe der Jahrhunderte, und bald würde unter seinem Schritt die Erde beben.“

 

Der Kontext

Aufruhr beantwortet die Staatsmacht mit aller Härte. Ende der Pariser Kommune, 1871

So jedenfalls hofft Zolas Hauptfigur, Étienne Lantier, früher Maschinist und Grubenarbeiter, zwischenzeitlich Streikführer, nun auf dem Weg nach Paris zum professionellen Agitator und Weltrevolutionär. Die Figur hat eine Vor- und Nachgeschichte; „Germinal“ fügt sich ein in einen zwanzigbändigen Romanzyklus, „Les Rougon-Macquart“, eine epische Familiengeschichte im Frankreichs Napoleons III. Étiennes Mutter Gervaise Macquart, während „Germinal“ noch Wäscherin in Paris, ist ein eigener Roman im Zyklus gewidmet; sie stirbt am Ende durch Alkohol und Hunger. Étienne selbst trägt „das Erbe einer vom Alkohol verdorbenen Familie“ in sich und neigt im Suff zur Mordlust. Sein Bruder Claude wird, auch darüber ein Roman in der Reihe, ein gescheiterter Maler; Paul Cézanne fand sich in der Figur übel porträtiert und kündigte daraufhin Zola die Freundschaft. Im letzten Roman schließlich erfährt man am Rande Étiennes weiteres Schicksal; nach dem Scheitern der Pariser Kommune wird er ins Exil gezwungen.

Zola kannte, als er den Germinal entwarf, das Schicksal des zweiten Kaiserreiches, gegen das er als republikanisch gesinnter Journalist angeschrieben, ebenso wie der Kommune, deren gewaltsame Niederschlagung er bedauert hatte. Nachträgliche literarische Abrechnung mit fünfzehn Jahren Verspätung treibt er aber nicht oder kaum. Die Bezüge sind aktueller; Grubenunglücke, Streiks und die Reaktion darauf mit Militärgewalt finden sich als Referenz zu Beginn der 1880er Jahre auch im republikanischen Frankreich. Armut kannte Zola aus früher Jugend, das Leben der Bergleute hatte er gründlich studiert; man spürt es in den Schilderungen. Das Elend, das er darstellt, das Ringen um Lösungen ist für seine Leserschaft Tagespolitik. Ebenso das offene Ende.

 

Der Rückblick

Germinal ist der Monat des Keimens und Sprießens im Revolutionskalender

Wir heute kennen das Ende; wissen, wie sich der Raubtierkapitalismus der frühen Industriegesellschaft nach und nach zivilisierte, wohl unter der Drohung der Revolution, in den westlichen Ländern aber ohne, dass es zu ihr kam. Wir lesen die kleinen, noch unzureichenden Fortschritte, die Zola ebenfalls schildert, als Stationen eines Weges. Die ersten Sozialmaßnahmen der Compagnie, günstig vermietete Arbeiterwohnhäuser, gestellte Kohlenvorräte, bescheidene Altersrenten und auch solche für verunfallte Arbeiter und ihre Witwen; wenn sie auch, zum guten Teil, der Außendarstellung dienten. Ebenso die Bildungsfortschritte, die Étienne einmal schildert: „die Großväter hätten ihren Namen nicht zu kritzeln gewusst; die Väter könnten ihn schon schreiben, die Söhne aber schrieben und läsen wie Professoren“.

Wir sehen auch, mit historischem Abstand, dass die Theorie der zunehmenden Verelendung allenfalls zeitweise zutraf. Auch die vorindustrielle Gesellschaft hatte Kinderarbeit gekannt, auch Hungersnöte, nur eben durch die Schwankung der Ernten, nicht der Konjunktur, verteilt über grüne Landschaften und nicht konzentriert in Industriewüsten. Nicht ohne Grund strömten die Landkinder in die neuen Industriezentren und suchten dort Arbeit, so elend die Zustände auch anfänglich waren. Neu war, dass es wortmächtige Kritiker dieser Zustände gab, die Armut nicht mehr als gott- und naturgegeben hingenommen wurde, und die wachsende Kritik es erscheinen ließ, als werde das Elend immer größer. In Wahrheit ging es Ende des neunzehnten Jahrhunderts bergauf; langsam, mit Rückschlägen, aber bergauf. Ganz ohne die Weltrevolution, die, als sie kam, oder zu kommen schien, wenig brachte als Unglück und Verwirrung.

Wer aber ernstlich verstehen will, wie die Idee dieser Weltrevolution entstehen und Anhänger finden konnte, die Opfer am Wegesrand sehen will auf der Strecke zur modernen Industriegesellschaft: der muss Zolas Germinal wieder lesen.

 

Das Buch

Émile Zola: Germinal. Erstdruck Paris 1885. Hier verwendet: Berliner Ausgabe 2015, Holzinger, 382s.


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