Kein Staat ohne Grenze

Nationalstaaten sind nicht veraltet, sondern vorerst immer noch die einzige politische Ebene, die im Ernstfall handeln kann. Bis man besseren Ersatz hat, bleibt sinnvoll, sie zu schützen, körperlich und geistig. Dafür plädierte in Halle Ansgar Graw, Reporter bei der WELT.


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Ein gewisser Mut gehört dazu, am 9. November, dreißig Jahre nach dem Mauerfall, in Genschers Heimatstadt, ein Loblied auf die Grenze zu singen. Nicht jede natürlich; nicht diese, die alte, historische. Aber auf bestimmte doch. Dass es einen moralischen und faktischen Unterschied gibt zwischen einem Schutzwall und einer Gefängnismauer, zwischen einer Regierung, welche die eigene Bevölkerung einsperrt, und anderen, die lediglich auswählen können möchten, wer von draußen hereinkommt ins Land, das festzustellen bedarf eigentlich geringen Scharfsinns. Dass auch die Natur und die Geschichte der Hochkulturen voller Mauern und Grenzen sind, ebenso wenig. Ansgar Graw schien es trotzdem erwähnenswert. Weil in Berlin, wo er, nach seiner Zeit als Auslandsreporter, nun die deutsche Innenpolitik beobachtet, es noch viele Lobredner der Grenzenlosigkeit gibt und einen Hang zu schiefen historischen Vergleichen.

Ohne Grenzen, sagt Graw, geht es nicht. Staatsvolk, Staatsgewalt, Staatsgebiet gibt es nur im Zusammenhang. „Ein Staat, der seine Grenzen nicht erst nimmt, nimmt sich selbst nicht ernst.“ Nach Lage der Dinge müssen es heute durchlässige sein; das demographisch schrumpfende Deutschland braucht die Zuwanderung von Arbeitskräften. Übrigens auch aus, kulturell wie geographisch, ferneren Ländern, weil die meisten anderen Staaten in der Europäischen Union unser demographisches Problem teilen. Mauern mit weiten Toren also. Allerdings nicht für jeden, der kommen will. Allein die erwartete Bevölkerungsentwicklung in Afrika von plus einer Milliarde Menschen in fünfzig Jahren würde ein Europa ohne Grenzen überfordern und existentiell bedrohen. Was Gesellschaft, Arbeitsmarkt, Sozialkassen an Zuwanderung ertragen können, bleibt endlich. Deshalb Grenzen; echte, gesicherte, ihre Filterfunktion erfüllende, nicht bloße Papiergrenzen. Vielleicht nicht für ewig. Aber für die überschaubare Zukunft.

Ansgar Graw: geboren 1961, Historiker und Politikwissenschaftler, Journalist und Buchautor, ist Chefreporter im Ressort Innenpolitik bei DIE WELT und WELT AM SONNTAG.

Patriotismus, unverkrampft

In dieser überschaubaren Zukunft, auf die Graw in Halle seine Vorhersagen beschränken wollte, gilt noch anderes. Zum Beispiel, dass wir weiter in Nationalstaaten leben. Weil die meisten europäischen Völker unsere deutsche Freude am Aufgehen im Größeren nicht teilen, wir uns insofern, das Wort bewusst mit dem historischen Unterton gebrauchend, auf einem Sonderweg befinden. Weil übrigens auch ein allmählich durch Zuwanderung bunter werdender Nationalstaat noch eine ganze Zeit ein Nationalstaat bleibt, nicht mehr mit Herkunft, Ethnie als einzig entscheidenden Kategorien, aber doch solchen, die bleiben und nachwirken. Nation wird noch für lange Zeit um ein Kernvolk herum definiert sein. Wahl, tägliches Plebiszit nach dem Modell Renans ist sie für jene, die schon länger da sind, nicht. Sondern selbstverständliche Konstante oder, pathetisch gesprochen, Schicksal.

Weshalb eine darum gebaute Erzählung im Sinne eines unverkrampften Patriotismus nicht nur erlaubt bleibt, sondern sogar geboten. Worein Graw in Berlin die Einsicht langsam wachsen sieht. Zu seinen redaktionellen Aufgaben zählt unter anderem die publizistische Begleitung der bündnisgrünen Partei. Deren Vorsitzender Robert Habeck wird am anderen Ende des politischen Spektrums gern mit dem Satz zitiert, mit Deutschland habe er noch nie etwas anfangen können. Der Satz entstammt einem Buch und ist schon einige Jahre alt. Heute, sagt Graw, würde Habeck ihn nicht mehr schreiben. Heute machen die Grünen Wahlkampf mit Begriffen wie Heimat und versuchen sie in ihrem Sinn, vorwiegend ökologisch, zu belegen. Ob das vorerst mehr ist als bloß ein Slogan, ließ die Diskussion offen. Aber womöglich ein interessanter Anfang.


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