Lasst die Kirche im Dorf

Man soll in Tagen der Trauer und Betroffenheit nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Aber die notorische Selbstbeweihräucherung der Journaille hatte schon vor dem Pariser Attentat Methode. Presse- und Satirefreiheit in Charlie’scher Prägung als „höchstes Gut, das der Westen besitzt“? Zeit für eine Klarstellung.


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An der Biologie kommen wir nicht vorbei: Wertschätzung ist subjektiv. Kein Weg, das zu ändern. Wir schätzen das Besondere, nicht das Alltägliche, an das wir uns gewöhnt haben; das Neue, nicht das Bewährte. So sind unsere Sinne und Hirnbahnen gemacht, so hat uns die Evolutionsgeschichte geformt. Anders können wir nicht leben. Selbstverständlich gewordenes erscheint uns nicht wichtig, ehe es aufhört, selbstverständlich zu sein. Verlorenes vermissen wir, solange wir uns daran erinnern; mal länger, mal kürzer.

Trotzdem empfiehlt es sich von Zeit zu Zeit, den biologischen Schleier abzulegen und wenigstens zu versuchen, die Dinge in unserer Bedürfnispyramide nüchtern abzuwägen. Was ist uns wirklich wichtig, wenn es darauf ankommt. Was können wir womit aufrechnen, kompensieren. Was gilt absolut; unumstößlich.

Die Selbsterhöhung der Schreiber

Meinungsmacher waren in der letzten Woche schnell mit dem Schlachtruf bei der Hand, die Meinungsfreiheit – in einer bestimmten, zugespitzten Form – sei das allerwichtigste; also ihre eigene Geschäftsgrundlage. Politiker, auf das Wohlwollen der Meinungsmacher angewiesen, sprangen bei. Gewiss, man soll nicht hinter allem kühle Interessen vermuten. Viel ehrliches Entsetzen war da wohl ebenso im Spiele. Aber auch im Entsetzen – und dann wohl am wenigsten – ist man nicht frei von den Denkmustern, die der Alltag, und seine Interessen, in den Menschen bildet.

Mit Meinungsfreiheit gemeint war hier die Freiheit zur religiösen, auf Provokation der Gläubigen gebauten Satire – die Pariser Karikaturisten ausgeübt und nun mit Leib und Leben bezahlt haben. Heroisch; für „das wichtigste, das wir haben“. Das war jedenfalls der solidarische Reflex der ersten Tage. Tapfer, ehrenwert; aber wie jeder Reflex besser zu hinterfragen.

Man kann es jedenfalls auch anders sehen. Braucht nur zu betrachten, was es so alles ist, dass wir „haben“, das uns geschenkt ist zumeist durch die Arbeit der Väter. Erkennt es vielleicht am klarsten, wenn man das uns selbstverständlich gewordene an der Zeit misst, aus der jene Meinungsfreiheit angeblich stammt: der Französischen Revolution; jener Blutorgie, deren bleibendste Errungenschaften ihre Hinrichtungsmethoden waren und der zwanzig Jahre noch blutigerer Kriege folgten.

Wichtigeres als Satire

Wir haben eine Regierung, die in aller Regel ihre Bürger schützt, nicht laternisiert oder guillotiniert und die Köpfe der Menge vorführt wie IS-Kämpfer ihrer Fangemeinde im Netz. Wir haben eine Polizei, die das Gesetz vertritt, nicht die in ihren Schutz Befohlenen an Kriminelle verkauft. Man nennt das Rechtsstaat.

Wir haben eine Wirtschaftsordnung, die ihre Bürger ernährt; es gibt keinen Hunger auf unseren Straßen, auch die Armen, Alten, Kranken können auskömmlich leben, besser als neun Zehntel der Menschheit und immer noch zunehmend durch technischen Fortschritt. Man nennt das Wohlstand.

Wir haben inneren und äußeren Frieden, keine marodierenden Räuberbanden ziehen durch unsere Städte, kein feindliches Heer steht an unserer Grenze; die Gefahr, eines gewaltsamen Todes zu sterben, ist gering wie nie in der Menschheitsgeschichte. Man nennt das Sicherheit.

Wir haben noch allerlei mehr, das die Geschlechter vor uns nicht hatten und die meisten unserer heutigen Miterdenbewohner auch nicht. Das muss uns nicht selbstzufrieden und genügsam machen. Aber vielleicht eine Spur demütig.

Erträgliche Kompromisse

Ist sie das wichtigste, das wir haben, die Satirefreiheit? Müssen wir für sie zu sterben bereit sein? Hören wir auf, zu sein, was wir sind, wenn wir sie verlieren? Stirbt unsere Freiheit an einem Tabu mehr?

Wir sollen nicht meinen, wir hätten keine Tabus. Natürlich haben wir sie. Meinungsfreiheit hat ihre Grenzen, sogar gesetzlich definierte; das jenseits davon nennt man Volksverhetzung. Grenzenlose Satirefreiheit kennt das Gesetz übrigens nicht; Herr Tucholsky war kein kundiger Jurist.

Engere Grenzen hat das, was man Geschmack, was man Anstand nennt. Bestimmte Dinge „tut man nicht“, „sagt man nicht“. Beleidigung bestimmter Gruppen etwa, der Herkunft, Hautfarbe, der sozialen Klasse wegen. Natürlich kennt unsere Zeit noch Heiliges, sie nennt es nur anders.

Satiriker ziehen in der Regel zwischen Kirche, Religion, Gläubigen einen scharfen Trennstrich. Die Institution und ihre Träger zu beleidigen ist Akt der öffentlichen Hygiene, jene zu treffen ist angeblich nicht gewollt. Aber das sind nur gelehrte Sophistereien, ungefähr so, als würde man mit Negerwitzen nicht die Schwarzen beleidigen wollen, sondern die Farbe Schwarz; was niemand ernsthaft tut.

Als wir noch in staatlichen Ordnungen lebten, die Gotteslästerungsparagraphen kannten und praktizierten, mögen wir ein klein wenig unfreier gewesen sein; unfrei, undemokratisch zur Gänze waren wir nicht. Vielleicht ist das eben der Preis, den wir zahlen müssen. Integration ist ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Man kann nicht meinen, Millionen Zuwanderer aus fremden Kulturen, die keine Aufklärung, keinen Säkularisationsprozess kennen, ins Land holen zu können, und dann meinen, an der gesamtgesellschaftlichen Werteordnung könne sich gar nichts ändern. Natürlich rebelliert auch von den Zuwanderern nur die Minderheit gegen die überspitzte Satire. Aber Schutzrechte sind für Minderheiten gemacht. Wir erwarten von allen, dass sie die Sprache lernen, die Gesetze, die Gebräuche der Mehrheit achten; ist es ganz undenkbar, als Mehrheit an einer einzigen, für die anderen heiligsten Stelle nachzugeben – auf etwas zu verzichten, das uns wichtig ist, wenn es der Zuwandererkultur radikal widerspricht? Das Verlorene vermisst man; zunächst. Doch wir würden auch diesen Trennungsschmerz überleben.

Wir erhoffen uns heilsame Effekte von der Zuwanderung, demographische, ökonomische, kulturelle. Nun schön. Nichts auf der Welt gibt es umsonst. Vielleicht müssen wir um des inneren Friedens Willen auf die eine oder andere gotteslästerliche Karikatur verzichten. Das mag ein Verlust sein; der Untergang des Abendlandes ganz sicher nicht. Das ist aus mehr gebaut; und auch aus wichtigerem.


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