Lebewohl

Er wirkte wie aus der Zeit gefallen, hatte der Welt aber immer wieder wichtige Dinge zu sagen. Der Rücktritt von Papst Benedikt XVI. bietet noch einmal Gelegenheit, aufmerksam hinzuhören.


ALLE Artikel im Netz auf aka-bklaetter.de lesen und auch das Archiv?

Jetzt kostenlos

Anmelden


Katholik bin ich nicht, und ein fleißiger Kirchgänger auch nicht. Vor acht Jahren nicht gewesen und, zu meiner Schande, bis heute nicht geworden. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich an Gott glaube, jedenfalls in der im Christentum überlieferten Form. Das schwankt je nach Stimmung und Tageszeit, und mit letztem Ernst habe ich mir die Frage noch nicht stellen müssen. Eine Weile lang habe ich sogar der bescheidwisserischen, pseudoaufgeklärten Generalkritik an Kirchen und Kirchengeschichte gefrönt, wie man das in wilden Jugendtagen eben tut. (Kreuzzüge, Inquisition, Zwangsmissionierung, Bevormundung der Unwissenden und weiter nichts in zweitausend Jahren, besser wäre, man schaffte den Laden ab: Und derlei dumme Sprüche mehr.) Zum Vatikan jedenfalls hatte ich über Jahrzehnte ein Nicht-Verhältnis, trotz einer gewissen Achtung für den großen Johannes Paul II., gerade in seiner schweren Leidenszeit gegen Ende.

Das änderte sich 2005, mit der Wahl des neuen Papstes. Ich wüsste nicht zu beschwören, warum genau; vieles kam da zusammen. Zunächst die Person natürlich. Dass er Deutscher war, und Bayer gleich gar, spielte natürlich eine Rolle. Lokalpatriotismus und Nationalstolz sind mächtige Triebfedern. Sein konservativer Kulturpessimismus schadete ihm bei mir nicht. Die Würde des Alters, das volle, weiße Haar, die hohe, fast seidene Intellektuellenstimme gewiss auch nicht. Aber am wichtigsten, meine ich, war das Gefühl, dass hier jemand, der den Zenit seines Schaffens schon überschritten hatte, gegen seinen Willen auf einen Posten gestellt wurde, dem er sich nicht gewachsen fühlte: Ein bescheidener Gelehrter, dessen Welt die Einsamkeit der Studierstube war und der sich nun zu großen Reden und einem schiefen Lächeln aufraffen musste und dazu, vor einer jubelnden Menge Kleinkinder zu küssen. Der das auf sich nahm, verdiente Sympathie, mindestens wohlwollendes Verständnis.

Ich fing an, seine Bücher zu lesen. Die Einführung in das Christentum, die eine oder andere Aufsatzsammlung. Später den Jesus von Nazareth. Nicht jedes theologische Detail verstand ich. Aber doch erstaunlich viel davon, denn der Autor bemühte sich um seine Leser und versteckte sich nicht hinter Fachtermini. Er machte die Dinge nicht komplizierter, als sie waren. Er schrieb eine einfache, kraftvolle Sprache. Wolle man einen großartigen Stil schreiben, so habe man einen großartigen Charakter, hat Goethe einmal gesagt. Das bleibt ewig wahr. Der Stil überzeugte mich. Und damit auch der Charakter.

In den vielen heißen Debatten, die das siebendreivierteljährige Pontifikat brachte, verteidigte ich ihn. Vor allem dann, wenn ich das Gefühl hatte, dass ihm die typischen Fehler und Ungeschicklichkeiten unterliefen, die immer auftreten, wenn ein Gelehrter nun Politik machen, verwalten und repräsentieren soll. So bei dem ungeschickten Zitat seinerzeit in Regensburg. So bei der Panne mit dem Bischof Williamson. Häufig auch, wenn ich das Gefühl hatte, dass man ihn bewusst missverstehen oder bewusst nur die kritischen Dinge sehen wollte. So etwa in den Fragen der Sexualmoral.

Gewiss, mit allem war auch ich nicht einverstanden. Musste ich auch nicht sein. Dass wiederverheiratete Geschiedene vom Abendmahl ausgeschlossen und damit theologisch schlimmer behandelt werden als Schwerverbrecher, das mochte man merkwürdig finden. Den bisweilen eine Spur zu wohlwollenden Blick des Papstes auf die eigene Kirchengeschichte ebenso.

Aber das ist nicht der Kern. Der liegt woanders. Benedikt XVI. wirkte mit seinem ganzen Habitus wie aus der Zeit gefallen, in dem positiven Sinne, dass er ganz andere Maßstäbe an diese Zeit anlegte als jene, die so hektisch in ihr verloren waren. Gewiss war er zuallererst ein Bewahrer. Aber nicht ein Bewahrer des Gestern, sondern ein Bewahrer dessen, was er für ewig gültig erkannte. Daran spiegelte er die Gegenwart. Und sagte ihr unbequeme Dinge. Manche, die mittlerweile, jedenfalls in Worten, wenn auch noch nicht immer in Taten, Allgemeingut geworden sind: Dass Friede herrschen solle und Armut bekämpft werden müsse und man die Schöpfung zu bewahren habe. Andere aber auch, mit denen er heftig von der Mehrheitsmeinung abwich: So etwa, dass das Leben Gott in jeder Form heilig sei und, vom ersten Anfang bis zum schließlichen Ende, vor der Willkür der Menschen und auch dem übers Ziel hinausschießenden Streben der Wissenschaft geschützt werde müsse. Er sagte, was er dachte, des bösen Echos gewiss, im festen Vertrauen auf die höhere Wahrheit.

Das war und ist gut so. Eine Kirche, die nachbetet, was in den liberalen Feuilletons geschrieben wird, braucht niemand. Eine Kirche, die blind den Mehrheiten nachläuft, auch nicht. Mehrheiten sind nicht Wahrheiten, auf diese einfache Formel kann man das bringen, was der Papst vor eineinhalb Jahren in seiner Rede im Reichstag den deutschen Parlamentariern nahelegen wollte. Und demokratischer Diskurs lebt von der Vielfalt der Meinungen und Erfahrungshorizonte, von denen die traditionsbewusste Kirche, ihre eigene, zweitausendjährige Geschichte im Guten wie im Bösen dabei immer im Blick, ein unverzichtbarer Teil ist: Auf diese Formel kann man bringen, was vor bald zehn Jahren Jürgen Habermas in einer Diskussion mit dem späteren Papst weitsichtig vorbrachte. Beide Formeln bleiben wahr.

Dies ist noch kein Nachruf. Wünschen wir Joseph Ratzinger in den Jahren, die ihm bleiben, einen geruhsamen Lebensabend und, wenn Kraft und Muße genügen, noch den Mut zur einen oder anderen erhellenden Schrift.


...mehr Lesen in den akademischen Blättern oder ganze Ausgaben als PDF?


Jetzt hier kostenlos Anmelden