Liberalismus im liberalen Sinn ist nicht nur liberal

Die Zeit der totalitären Gegensysteme ist vorüber, doch ist die Freiheit auch in Europa nicht ohne Bedrohungen. Schützen muss man den Liberalismus heute nicht mehr vor seinen Feinden, sondern vor falschen Freunden.


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westminster

Auch heute noch liegt der Schwerpunkt des Liberalismus in den angelsächsischen Ländern, etwa hier im Parlament von Westminster, wo er im 17. Jahrhundert im Widerstand gegen die Krone seine ersten großen Siege feierte. In Kontinentaleuropa aber ist der Liberalismus bedroht.

Es war eine wunderliche Debatte, die sich in jenen Tagen im Februar entspann, als man in Berlin nach dem Rücktritt des Bundespräsidenten nach Kandidaten spähte und die Rede naturgemäß auch auf Wulffs Gegenkandidaten bei der letzten Wahl kam. Joachim Gauck galt, da er nun ernsthafte Chancen auf das Amt hatte, plötzlich inhaltlich als zu eng, zu eingleisig; sein Lebensthema Freiheit als zu dürftig, um damit alleine eine Präsidentschaft zu bestreiten. „Ein geschickter und verbindlicher Mann, seine Stärke ist das predigerhafte Pathos, das aber thematisch sehr schmalspurig ist“, urteilte damals stellvertretend Heribert Prantl in der Süddeutschen.

Kaum zu hören war dieser Vorwurf bei der Gegenkandidatin, obwohl man Beate Klarsfeld als lebenslange Nazijägerin mit deutlich mehr Recht monothematisch hätte nennen dürfen; zu hören war er auch nicht, als im Vorfeld auf der Unionsseite Klaus Töpfer als Kandidat debattiert wurde, obwohl jedermann diesen Namen seit Jahrzehnten beinahe nur noch mit dem Thema Umweltschutz verband; und zu hören wäre er wahrscheinlich auch nicht gewesen, wenn sich ein anderer Kandidat gefunden hätte, der als alleiniges Lebensmotto, sagen wir, Frieden oder soziale Gerechtigkeit oder die europäische Einigung ausgegeben hätte. Nur die Freiheit aber – das galt als zu wenig. Allenfalls im Kontext der sozialen Verantwortung galt der Begriff als statthaft, was man Gauck selbst, hätte man ihn etwas gründlicher gelesen („Die Freiheit der Erwachsenen heißt Verantwortung“), freilich auch hätte zugestehen können.

Die Furcht vor der Leere

Nun ist es kein neues Phänomen, dass – jedenfalls in den westlichen Staaten Kontinentaleuropas – die Freiheit auf der Rangliste der Werte nicht die führende Stellung einnimmt. Nicht nur weil sie, anders als bei Menschen, die wie Joachim Gauck lange Jahrzehnte in einer Diktatur verlebt haben, für viele und gerade für die Jugend selbstverständlich geworden ist; das sind Friede, Wohlstand und EU-Europa auch. Sondern weil dem Freiheitsgedanken, weil dem Liberalismus, wenn er sich nicht im Belagerungszustand befindet, die innere Energie, die wohlige Wärme fehlt, die andere Ismen haben. Er ist eine rationale, eine kalte Ideologie.

Zugegeben: Man bewegt sich bei solchen psychologisierenden Spekulationen immer auf schwankendem Grund, aber dieses Feld ist einigermaßen abgesichert. Schon Erich Fromm hat, vom sicheren Amerika aus, als in Europa die Totalitarismen auf dem Gipfel ihrer Macht standen, die Sozialpsychologie der „Furcht vor der Freiheit“ untersucht. Er diagnostizierte als Hauptursache die Angst vor dem Alleinsein, die den Menschen nach dem Zerfall der geschlossenen, vormodernen Lebenswelt prägt, weil er in einer arbeitsteiligen Gesellschaft auf andere angewiesen ist, und erklärte damit, zu einem guten Teil jedenfalls, die Hinwendung vieler zu kollektivistischen Ideologien. „Der Mensch ist frei von allen Bindungen an die geistliche Autorität, aber eben diese Freiheit macht ihn einsam und angsterfüllt.“ Und deshalb scheint es für Fromm, dass „für den Durchschnittsmenschen nichts schwerer zu ertragen ist als das Gefühl, keiner größeren Gruppe anzugehören.“

Der Liberalismus als Individualismus kann dieses Gefühl nicht bieten und ist emotional damit im Nachteil – weshalb vermeintliche Liberale immer wieder versuchen, ihn begrifflich auszuweiten, um wenigstens innerlich dem Horror vacui, der Furcht vor der Leere, etwas entgegensetzen zu können.

Voraussetzungen der Freiheit

Die klassischen, vor allem die angelsächsisch geprägten Liberalen wehren sich gegen solche begriffliche Überdehnung und Verwässerung. „Freiheit ist Freiheit“, hat Isaiah Berlin einmal gesagt, „nicht Gleichheit oder Fairness oder Gerechtigkeit oder Kultur, oder menschliches Glück oder ruhiges Gewissen.“ Und es gibt, ergänzte Lord Dahrendorf dazu, „nur eine unteilbare Freiheit, und diese braucht keine schmückenden oder abträglichen Beiwörter.“ Um freilich die Schwäche dieses reinen – oder auch negativen – Freiheitsbegriffs dann sogleich zuzugeben: „In aller Regel hat die Gerechtigkeitspartei die stärkeren Bataillone.“ Das Bekenntnis zur unbedingten Freiheit erfordert einen spezifischen Mut, den zu allen Zeiten nur eine Minderheit hat.

Es sind aber nicht nur sozialpsychologische und taktische Erwägungen, die nahelegen, den Liberalismus mit anderen Ideologien zu paaren und ihn etwa zu einem National-Liberalismus oder Sozial-Liberalismus zu machen. Ebenso wichtig ist ein einfacher Kniff, von dem aber große intellektuelle Verführungskraft ausgeht: nämlich der simple Satz, dass die Freiheit Voraussetzungen hat. Dass etwa politische Freiheit nur in einem intakten Gemeinwesen funktionieren kann mit gemeinsamen Werten und einer gemeinsamen politischen Sprache, in der klassischen Weise in Form von Nationalstaaten; dass individuelle Freiheit nur gelebt werden kann mit einem Mindestmaß an materieller Absicherung gegen Krankheit und Not, getragen von einer Solidargemeinschaft, so wie wir es heute kennen in Form des Sozialstaates; dass das freie Spiel der Kräfte in der Marktwirtschaft nur funktionieren kann, wenn dabei die natürlichen Ressourcen geschont werden, mindestens durch staatlich gesetzte Anreize in Form von Umweltpolitik; und dass ein freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat von sittlichen Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht schaffen kann, in unserem Fall: von tradierten (christlichen) Werten, und also ein Interesse hat am Fortbestehen wertstiftender, nichtstaatlicher Institutionen.

Halbe Feinde, halbe Verbündete

Diese Argumente, das ist das Verzwickte daran, sind alle richtig; aber sie sind nicht beliebig dehnbar. Überdehnt man sie, werden die Vorsilben zum Wieselwort, und der sogenannte Liberalismus sinkt zum bloßen Zierwerk für eine eigentlich nationalistische, sozialistische, ökopaternalistische oder klerikalautokratische Ideologie herab. Es besteht ein komplexes Freund-Feind-Verhältnis zwischen dem klassischen Liberalismus und anderen Ideen, mit denen er sich paart. Gewiss, die Nation ist die übliche Form, in der sich politische Freiheit – Demokratie – organisiert; übernationalen Gebilden fehlt zumeist die innere Festigkeit zum Überstehen politischer Krisen und fehlt vor allem die durch die gemeinsame Sprache bedingte demokratische Öffentlichkeit. Aber der Loyalitätsanspruch der Nation ist in der Tendenz absolut, nationalistischer Feuereifer verschlingt im Zweifel immer den kühlen, rationalen Anspruch der Vernunft. Das Schicksal der deutschen Liberalen des 19. Jahrhunderts, die sich auf das Bündnis mit dem Nationalismus einließen, mahnt hier zur Vorsicht.

Ebenso richtig ist: Freiheit gibt es nur mit einem Mindestmaß an materieller Sicherheit, und es ist eine – wenn auch nicht die einzige – sinnvoll mögliche Option, diese Sicherheit durch ein staatlich organisiertes System von Sozialversicherungen zu gewährleisten. Aber in den falschen Händen wird ein solches System sehr leicht von der Risikovorsorge zum Umverteilungsapparat, in dem das mächtige Pathos der Gerechtigkeit über den bescheidenen Anspruch auf Sicherheit obsiegt. Die massive Expansion des öffentlichen Sektors einschließlich der damit verbundenen Überschuldung der Haushalte hat in Deutschland ihren Ursprung bezeichnenderweise in den 1970er Jahren – der Zeit der sozialliberalen Koalition.

Ja, es gilt – drittens –, dass die freie Marktwirtschaft dazu neigt, ihre eigenen ökologischen Grundlagen zu zerstören, weil die Umwelt ein externer Faktor ist, der in den Wirtschaftsbilanzen keine Rolle spielt und immer nur auf lange Sicht das Geschehen beeinflusst. Intelligente staatliche Steuerungsmechanismen sind hier sinnvoll und notwendig. Aber auch der Umweltschutz hat das Potential zu einer quasi-religiösen Ideologie mit Neigung zur Diktatur: Klima-Hysterie, schädlicher Biosprit, Tempolimits sind typische Beispiele und wahrscheinlich erst der Anfang. Ein freiheitlicher Staat kann aber nicht beliebig ins Private hineinregieren, um ein sozial erwünschtes Verhalten zu erzwingen. Freiheit bedingt auch ein Recht auf individuelle Unvernunft.

Und auch unser letztes Beispiel, die Allianz mit der Religion, ist nicht frei von Problemen; hier gilt ebenso ein Absolutheitsanspruch. John Stuart Mill hat das klassisch beschrieben: „Im Sinne fast aller religiösen Menschen, selbst in den tolerantesten Ländern, gilt die Pflicht der Duldung nur mit stillschweigender Reserve. Einer verträgt Widerspruch zwar in Dingen, die das Kirchenregiment angehen, aber nicht in Bezug auf das Dogma; ein anderer übt Duldung gegen jeden, außer gegen Papisten und Unitarier, wieder ein anderer gegen jeden, der an eine geoffenbarte Religion glaubt. Einige erstrecken ihre Duldung ein wenig weiter, aber sie machen Halt beim Glauben an Gott und an die Unsterblichkeit. Überall, wo das Gefühl der Wahrheit noch echt und stark ist, findet man, dass es seinen Anspruch auf Herrschaft nur wenig gemildert hat.“ Erst in der abgemilderten, gezähmten Form der Religion, wie sie im heutigen Europa existiert, fällt dieser Herrschaftsanspruch fort.

Dieser Zähmungsprozess, der auch bei allen Quasi- und Ersatzreligionen eintreten kann, bildet freilich die andere Seite der Medaille. Denn im Bündnis des Liberalismus mit anderen Ideen gibt es nicht nur die eine – kurzfristige – Tendenz, dass die heiße Religion oder Ideologie den Liberalismus verschlingt; es gibt auch die andere – längerfristige – Neigung dazu, dass die liberale Vernunft das Feuer des Gemüts zum Erlöschen bringt. Denn auch Nationalismus, Gerechtigkeitsdenken, Liebe zur Umwelt und Religiosität sind keine konstanten exogenen Faktoren, sondern Teil einer dynamischen Gesellschaft. Und in einer liberalen Gesellschaft tendieren sie dazu, mehr und mehr an Kraft zu verlieren, weil sie deren rationalen Prinzipien nicht entsprechen.

Kapitalismus ist Freiheit

Hauptfaktor bei diesem Zähmungsprozess ist das kapitalistische Wirtschaftssystem, der Kern einer jeden liberalen Gesellschaftsordnung. Traditionale Kultursysteme schwächt der Kapitalismus, weil er ein großer Gleichmacher ist; die nichtkonstitutionelle Monarchie, der domänengeprägte Adel, die politisch mächtige Kirche, die Zünfte sind klassische Beispiele, sie definierten ein Drinnen und ein Draußen, behinderten letztlich das Marktgeschehen und scheiterten an ihrer wirtschaftlichen Ineffizienz. Moderne Gegenideologien zerstört er, weil er ein großer Freimacher ist; Vertragsfreiheit, Freizügigkeit, freie Berufswahl, Freiheit zum Konsum ohne Vorgaben der Obrigkeit sind Treibsätze, die jede planwirtschaftliche oder ökosozialistische Ordnung notwendig sprengen müssen.

Schumpeter, der große österreichische Ökonom, hat dies immer wieder betont, auch noch in seinem pessimistischen Spätwerk, als er schon den Triumph des Sozialismus heraufziehen sah. Der Kapitalismus war und ist für ihn „die treibende Kraft in der Rationalisierung des menschlichen Verhaltens“, prägend nicht nur für das Handeln, sondern auch für das Denken der Menschen. Und weiter: „Selbstverständlich hat es früher niemals so viel persönliche – geistige und körperliche – Freiheit für alle gegeben, niemals so viel Bereitschaft, die Todfeinde der führenden Klasse zu dulden (ja sie zu finanzieren), niemals so viel tätiges Mitgefühl mit wirklichen und eingebildeten Leiden, niemals so viel Bereitschaft, Lasten auf sich zu nehmen wie in der modernen kapitalistischen Gesellschaft; und was es an Demokratie außerhalb der bäuerlichen Gemeinschaften gab, das hat sich historisch im Kielwasser des modernen und des antiken Kapitalismus entwickelt.“

Wenn man nach der roten Linie sucht, nach dem einen Kompromiss zu viel, den der Liberalismus nicht machen darf, wird man hier fündig. Unbeschadet gewisser staatlicher Eingriffe im Sozial- und Umweltbereich muss der freie Wettbewerb im Kern erhalten bleiben. Es gibt keinen Liberalismus ohne Kapitalismus; auch nicht ohne gewisse Härten des Kapitalismus. „Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“ nennt die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung als unveräußerliche Menschenrechte; das Streben, nicht das Glück selbst. Es gibt keine staatliche Garantie für gelingendes Leben, außer in der Vermeidung der größten Not. Freiheit ist nicht ohne Risiko zu haben, nicht ohne die Möglichkeit des Scheiterns; allenfalls die Freiheit von Kindern, die man im Garten herumtollen lässt, aber stets unter Aufsicht hält und mit Knie- und Armschonern polstert, um auch die kleinsten Schrammen zu vermeiden. Die Trennung in einen freien Staatsbürger und einen unfreien Homo oeconomicus lässt sich nicht durchhalten. Es gibt keine Freiheit der Menschen ohne Freiheit der Märkte.


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