Lob der E-Mail

Viele nervt sie nur noch: Übervolle Postfächer, ständig fehladressierte Informationen, die man nicht braucht, vom grausigen Schreibstil des- oder derjenigen am anderen Ende der Datenleitung zu schweigen: die E-Mail, der elektronische Brief, hat nicht das beste Image. Aber man soll nicht meinen, mit anderer Technik würde es besser. Jedes Medium ist nur so gut wie sein Gebrauch.


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Waren das noch schöne Zeiten, als es nur das Telefon gab! Keine vierzig neuen Nachrichten, als man morgens ins Büro kam, viel persönlicherer Kontakt mit demjenigen, mit dem man kommunizierte, weniger Aufwand für schnelle Absprachen, weniger Missverständnisse, weniger Irrläufer. Und wären es nicht viel schönere Zeiten, wenn man mit modernerer Technik wieder dorthin zurückkäme, nur schneller und schöner, mit internen Netzwerken mit Forenfunktion und Chat-System?

Wäre das so? Für mich nicht. Das Telefon war eine kulturelle Katastrophe, die E-Mail ist ein epochemachender Menschheitsfortschritt, und ihre Ablösung durch von Facebook abgeschaute Web-2.0-Schnörkel klingt nur dann besser, wenn man die miese Realität mit einem schönen Idealzustand vergleicht – der so nie kommen wird.

Um auf das altmodische Gerät mit dem Hörer zurückzukommen: Sicher ist es schöner, wenn man die Stimme des Gegenübers hören und direkt auf ihn eingehen kann. Das vermeidet Überinformation und Missverständnisse. Aber der Preis ist hoch, nämlich ständige Erreichbarkeit. Um telefonieren zu können, muss an beiden Enden der Leitung jemand sprechbereit sein. Und derjenige, der mich anruft und meint, ich sei sprechbereit, fragt mich vorher nicht einmal.

Eigentlich ist das eine Unverschämtheit. Da ruft mich jemand an, unterbricht mich bei der Arbeit oder vielleicht im Gespräch mit Kollegen und meint, ich müsse nun gerade für ihn Zeit haben und alles andere in der Welt sei nachrangig. Sitzt man in Besprechung zusammen und würde keiner, der an der Türe klopft, vorgelassen: Wenn das Telefon klingelt, hat es Priorität. Im besten Fall kann ich den ungebetenen Anrufer schnell abwimmeln und weiterarbeiten und brauche nur eine Minute, um mich wieder konzentrieren zu können. Nach dem Lesen oder Schreiben einer E-Mail zurück in den Takt zu finden dauert auch nicht länger.

Die E-Mail ist asynchron, sie erlaubt den Zeitversatz: Ich muss nicht gleich lesen, was mir geschrieben wird, sondern kann mir meinen Tag einteilen und in der Zwischenzeit ungestört und weitgehend ununterbrochen arbeiten. Wenn es wirklich dringend ist, mag man mich anrufen: dann allein ist es gerechtfertigt. Ich kann den Tag also entschleunigen. Ich kann: Viele tun es nicht. Sobald das Signal leuchtet und eine neue Nachricht eintrifft, wird das Mail-System aufgerufen und gelesen. Insofern ist das Potential oft ein theoretisches, das nicht gehoben wird.

Nur soll man sich nicht der Illusion hingeben, das würde mit anderer Technik besser. Wer nicht in der Lage ist, für zwei Stunden die Finger vom Mailpostfach zu lassen, der wird sich auch nicht aus dem sozialen Netzwerk ausklinken und riskieren, sich so für ein paar Stunden vom Informationsfluss auszuschließen oder für dringende Nachrichten nicht erreichbar zu sein. Und wer sich nicht zurückhalten kann und ohne Nachdenken immer gleich zum Telefonhörer greift oder die E-Mail schreibt, wird auch in Foren und Chatrooms die Kollegen hemmungslos in viel zu großen Verteilern mit Informationen überfluten, die niemand oder fast niemand braucht. Foren und Nachrichtensysteme in Netzwerken erfüllen im Prinzip die gleiche Funktion wie die E-Mail oder der alte Papierbrief – Nachrichtenübermittlung mit Zeitversatz in beliebiger Menge–, Chats die gleiche Funktion wie das Telefon oder das Gespräch im Flur – unmittelbare Erreichbarkeit für Kurzinformationen und -fragen. Aller technischer Schnörkel drumherum ändert an diesen Grundfunktionen nichts.

Alle Kommunikation funktioniert nur mit entsprechender Disziplin: des Senders und des Empfängers. Erziehung des Menschen, nicht Optimierung der Technik führt am Ende zum Ziel. Gewiss ist das viel mühsamer, als eine neue Software einzuführen; aber der folgt nach ein paar Monaten automatisch die Enttäuschung. Und man soll nicht vergessen, dass alle Erfahrung zeigt, dass ein Medium eine ganze Weile braucht, bis es komplett verschwindet – schon weil man auch mit der Außenwelt kommunizieren muss. Noch heute stehen allüberall Fax-Geräte herum. Wer die E-Mail also ablösen will, wird sie nicht abschaffen, jedenfalls auf lange Zeit nicht; er wird nur noch ein weiteres Medium einführen, das man dann im Auge behalten muss.


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