Lob der Freundschaft – Freude, schöner Götterfunken.

  Immer wieder ist es vorgekommen, dass die Vertonung eines Kunstgegenstandes derart raumgreifend wurde, dass sie ihren Gegenstand in den Hintergrund zu drängen scheint. Wer denkt bei der Winterreise zuerst an Ludwig Müller und nicht an Franz Schubert? Wer denkt bei der Toteninsel nicht zuerst an Rachmaninow oder Reger und nicht dann erst vielleicht an Arnold Böcklin? Und wie

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Immer wieder ist es vorgekommen, dass die Vertonung eines Kunstgegenstandes derart raumgreifend wurde, dass sie ihren Gegenstand in den Hintergrund zu drängen scheint. Wer denkt bei der Winterreise zuerst an Ludwig Müller und nicht an Franz Schubert? Wer denkt bei der Toteninsel nicht zuerst an Rachmaninow oder Reger und nicht dann erst vielleicht an Arnold Böcklin? Und wie verhält es sich mit Alban Bergs Wozzeck, über den zumeist nur im Nebensatz erwähnt wird, dass es die Vertonung eines Woyzeck übertitelten Schauspiels von Georg Büchner ist? Es drängt sich beinahe der Gedanke auf, dass Musik imstande ist, den ihr zugrundeliegenden Gegenstand zu vereinnahmen. Nicht selten fällt in diesem Kontext das Argument, erst die Musik hätte den Gegenstand in den Rang eines Kunstwerks erhoben.

Wird man sogleich bei Müller, Böcklin und Büchner einwenden wollen, dass es sich keineswegs um kulturgeschichtliche Zwerge handele, so wird im Falle des Duos Schiller-Beethoven dieses Argument nicht mehr als notwendig erachtet werden. Und so wundert es umso mehr, dass der Schiller’sche Text An die Freude mehr als Textgrundlage eines Beethoven’schen Finales assoziiert denn der Lyrik zugerechnet wird. Betrachtet man jedoch sowohl Gedicht wie auch Komposition bar ihrer Urheber, mag sich erschließen, warum das Lied Eingang in den Kanon der meistgesungenen Studentenlieder gefunden und dort seinen Platz nicht aufgrund kulturellen Sich-Gerierens eingenommen hat.

Im November 1785, Schiller wohnt inzwischen in Loschwitz, einem heutigen Dresdener Stadtteil, wird der Text des Gedichts abgeschlossen. Schiller, der sich unter anderem durch die Herausgabe der Thalia, einer Theaterzeitschrift, seinen Lebensunterhalt aufstocken wollte, schickte das Gedicht zur Veröffentlichung an seinen Verleger. 1786 wird es im zweiten Hefte des Jahrgangs abgedruckt.1 Bestimmt war es jedoch nicht für ein Zeitschriftenpublikum. Sein Loschwitzer Freund Christian Körner hatte ihn für eine Tafel der Freimaurerloge „Zu den drei Schwertern“ um dieses Gedicht gebeten. Körner hatte den Dichter in einer finanziell äußerst prekären Lage bei sich aufgenommen und ihm damit die Möglichkeit finanzieller Sanierung gegeben. Der Wunsch, ein Lob auf die Freundschaft zu dichten und es dem großzügigen Freund zu widmen, ließ sich somit nicht nur schwer ausschlagen, sondern lag geradezu auf der Hand.

Es mag ein wertschätzender Dank sein, dass der Freund das Gedicht noch im gleichen Jahr vertont und damit den Beginn etlicher noch folgender Vertonungen setzt. Von Johann Reichardt und Johann von Dalberg sind Vertonungen aus den Jahren 1796 und 1799 bekannt, Rudolf Zumsteeg hat das Gedicht 1803 vertont. Es gilt auch als nicht unwahrscheinlich, dass der Text des Liedes weitere Verbreitung von Loge zu Loge gefunden hat. Anderthalb Jahrzehnte hatte es nur gebraucht, bis das Gedicht unzählige Male vertont war und überregionale Verbreitung erfahren hatte.

I.

Schillers neun Strophen des Gedichts schäumen geradezu über vor Euphorie. Es werden mehrere Faktoren gewesen sein, die auf den Dichter eingewirkt haben. Nach finanziell wie auch persönlich äußerst turbulenten Jahren konnte Schiller in Losch­witz erstmals wieder durchatmen. Zwei Jahre zuvor war Schiller an Malaria erkrankt gewesen, ein Jahr zuvor war seine Stelle als Theaterdichter in Mannheim nicht verlängert worden. Seine finanzielle Lage verschlechterte sich daraufhin derart, dass ihm sogar eine Gefängnishaft drohte. Durch die Hilfe seines Mäzens konnte er sich aus dieser Situation befreien.

Es waren dies aber auch die Jahre vor der Französischen Revolution – Jahre des rauschhaft erwarteten politischen Umschwungs. Nicht zuletzt spiegelt sich dies auch in Schillers Don Karlos wider, dessen Entstehung in dieselbe Zeit fällt. Im dritten Akt treten sich in Person des Marquis und des Königs Bürger und Adel gegenüber, und ganz im Sinne des neuen aufklärerischen Denkens sagt ersterer: „Ich bin gefährlich, weil ich über mich gedacht.“ Und einige Sätze später:

„Die lächerliche Wut der Neuerung, die nur der Ketten Last, die sie nicht ganz zerbrechen kann, vergrößert, wird mein Blut nie erhitzen. Das Jahrhundert ist meinem Ideal nicht reif. Ich lebe ein Bürger derer, welche kommen werden.“ Hier kündigt sich eben jenes aufklärerische Denken an, das die Jahre vor der Französischen Revolution geprägt hat. Es ist nicht bezeugt, dass Schiller und Kant sich ausgetauscht haben, aber es nimmt nicht wunder, dass ausgerechnet 1785 Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten erscheint und der kategorische Imperativ erste denkerische Konturen erhält.

Die Perspektive, die Schiller seinem Gedicht gibt, ist eine, die von den Sternen aus auf die Menschen schaut. Sie wird am Ende jeder Strophe vom Chor eingenommen, der jeweils auf die vorausgehenden acht Verse antwortet. Der Blick wird damit über den Menschen hinausgelenkt. Die Beschäftigung mit zeitlich begrenzten Moden thront geradezu als Damoklesschwert über dem anzustrebenden Überzeitlichen. Die zweite Strophe lenkt den Blick auf das „Du“, ohne das die Betrachtung des „Ich“ unmöglich ist. Wem das „Du“ verwehrt bleibt, der „stehle sich weinend aus dem Bund“. In den folgenden Strophen wird geradezu eine Anleitung für ein freudvolles auf ein „Du“ hingeordnetes Leben gegeben: Nicht in der Sphäre der sichtbaren Sterne ist der Schöpfer zu suchen, sondern „überm Sternenzelt“ muss der „Unbekannte“ wohnen. Wer der Freude dauerhaft habhaft werden möchte, der solle in den gleichmäßigen Sphären der Sterne seine Bahnen ziehen. In der sechsten Strophe blitzt ein Funke Schiller’scher Biographie hindurch: Wenn der Freudige mit seiner Freude gegenüber anderen nicht geizt, so sei das Schuldbuch vernichtet und die Welt ausgesöhnt. Der Mensch werde im Jenseits gemessen an seinem diesseitigen Maßstab.

In der siebten Strophe wird auf ausgelassenen Kneipen und Kommersen mitunter zwischen der Strophe und dem Chor ein „SPD“ eingefügt; neuerlich konnte man hie und da auch ein „AfD“ vernehmen. In diesen Zeilen spiegelt sich der prärevolutionäre Zeitgeist am klarsten wider. Die Krone gebühre dem, der sie verdiene; dem Tragen der Krone müsse ein Verdienst vorausgehen. Anders als es die blutigen Jahre der Französischen Revolution schließlich brachten, solle dem Feinde jedoch mit Vergebung begegnet werden, wie es auch in der neunten und letzten Strophe heißt („Großmut auch dem Bösewichte“).

II.

Dass das Gedicht für die konkrete Situation einer Tafelloge bestimmt war, lässt sich unter anderem an der achten Strophe („schwört bei diesem goldnen Wein“) ablesen. So wundert es nicht, dass allzu deutliche Verweise auf die Freimaurerei in späteren Veröffentlichungen ausgespart wurden. So hat Beethoven sich auf die ersten drei Strophen mit einer anschließenden Wiederholung der ersten Strophe beschränkt. Bei Beethoven sind zudem die Teile ausgelassen, die Schiller mit „Chor“ bezeichnet hat. Mit der Schillerschen vierten Strophe ist Beethoven allerdings umgekehrt; hier lässt er die Strophe aus und zitiert den „Chor“.

Nach Beethovens Tod fand man unter seinen Büchern etliche, die zu seiner Zeit der Zensur unterlagen. So unter anderem Schriften Immanuel Kants. Zwar lag die Französische Revolution bereits Jahre zurück, als Beethoven seine Widmung der Eroica an Napoleon zurücknahm und schließlich wieder einige Jahre später – 1824 – seine Neunte endlich zur Aufführung brachte, doch die zwischenzeitliche ideengeschichtliche Entwicklung ließ sich nicht mehr umkehren. In den Beet­hoven’schen Konversationsheften – nachdem Beethoven ertaubt war, unterhielt er sich mittels dieser Hefte schriftlich – findet sich zwischen allerlei Belanglosem die Zeile: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“. Beethoven kürzt nicht grundlos den Text des Schiller’schen Gedichtes, sondern enthebt es der denkerischen Mode, die das Gedicht in der ersten Strophe selber moniert.

In den Liederbüchern der Verbände wird mit den Strophen und der Melodie unterschiedlich umgegangen. Im Allgemeinen Kommersbuch hat man sieben Strophen aufgeführt; die letzten beiden Strophen, die zum einen auf die Tafelloge verweisen und zum anderen die Vergänglichkeit des Lebens zum Gegenstand haben, schienen wohl der Kneipseligkeit nicht zuträglich zu sein. Da es aber mehr Strophen sind als bei Beethoven, wird man sich des Schiller’schen Gedichtes vergewissert haben. Dies wird schon alleine deswegen eine Notwendigkeit gewesen sein, weil man nicht den Text zu der Beethoven’schen Melodie aufführt, sondern zu einer, die mit Volksweise 1801 übertitelt ist. Da Beethoven die Chöre am Ende der Strophen gekürzt hat, passt auch auf diese Melodie nicht der vollständige Text. In den Liederbüchern der konfessionellen Verbindungen werden Text und Melodie nach der Volksweise von 1801 gesungen. Woher dieser Melodie stammt, ist nicht geklärt.

III.

Wie sehr der Text des Schiller’schen Gedichts inzwischen mit Beethovens Neunter verbunden wird, zeigte sich auch 1985, als Karajan aufgefordert wurde, eine instrumentale Bearbeitung als Europahymne zu schaffen. Des Textes bedurfte es inzwischen nicht mehr; die Melodie stand inzwischen für Verbrüderung und Völkerverbundenheit.

Dass die Paradigmen, die sich mit der Melodie verbinden, jedoch keineswegs aufgehört haben, sich weiterzuentwickeln, zeigt sich auch an Beet­hoven-Zitaten in der Fernsehserie Die Simpsons.

Fünfmal wurde auf die Neunte rekurriert, wobei in zwei Folgen das Zitat nicht um des Zitats willens gebracht wird. In Staffel 15 Episode 11 passt Marge Simpson auf die beiden Kinder des religiösen Nachbarn Ned Flanders auf. Während unter der Obhut von Flanders die Wippe nur unbewegt, weil durch zwei Klötze blockiert, verwendet werden darf, löst Marge Simpson mit dem Entfernen der Klötze bei den kleinen Nachbarn das reinste Damaskuserlebnis aus. In dem Moment, in dem die Klötze entfernt sind und die Kinder das erste Mal das vermeintlich risikobehaftete Wippen erleben dürfen, ertönt extradiegetisch Beethovens Neunte.

Ähnlich verhält es sich in Staffel 29, in der Grandpa zum ersten Mal ein Hörgerät einsetzt, was als ein ebensolches Damaskuserlebnis für ihn dargestellt wird. Es wird wieder Beethovens Neunte gespielt.

IV.

Auch wenn die historischen Hintergründe des Liedes eine derartige Verbreitung nicht hätten erwarten lassen, scheint dem Gedicht doch etwas anzuhaften, dass bis in die heutige Popularkultur hineinreicht. Der Appell an Brüderlichkeit beziehungsweise Menschenverbundenheit, das Hingeordnetsein des „Ichs“ auf das „Du“ wird als Weg in Richtung einer kommenden Erlösung verstanden und hat offenbar bis heute nicht an Aktualität eingebüßt.

Erst war es das Gedicht von Schiller, das an ebenjene Tugenden erinnerte, bis schließlich Beethoven mit seiner Neunten eine scheinbar untrennbare Symbiose einging, die aber schließlich darin endete, dass das Beethoven’sche Finale heute auch ohne das Gedicht als „Erlösungsmusik“ verstanden wird. So gesehen, kann das eine Kunstwerk auch ein Katalysator des anderen werden, ohne das das eine das andere verdrängt.

Christoph Weyer

geb. 1985, ist historischer Musikwissenschaftler an der Universität Hamburg. Er beschäftigt sich hauptsächlich mit der Musik des Mittelalters, dem Gregorianischen Choral, Kirchenmusikgeschichte und Musik im Nationalsozialismus. Er ist AH im W. K. St. V. Unitas Ruhrania zu Essen-Bochum-Duisburg-Dortmund im UV und dem K. St. V. Abraxas-Rheinpreußen zu Dresden im KV.


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