Logistik 1.0

Das wenigste auf der Welt ist wirklich neu. Trägt man das vorhandene Wissen übersichtlich zusammen, hat man schon viel gewonnen. Dachte sich der oströmische Kaiser Leo VI. und versuchte sich als Archivforscher und Militärschriftsteller. Eine nachhaltige Begriffsneuschöpfung gelang ihm aber doch.


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Ideologie und Gefühlssache ist der Krieg meist nur von ferne. Pazifismus mag man pflegen im Kloster oder Soziologenseminar, Kriegsromantik bei Buchautoren und Filmschreibern. Für jene, die ihn aktiv betreiben, ist Krieg vor allem blutiges Handwerk, vom einen ungern ausführt, vom anderen mit Stolz, zuvorderst aber mit tiefem Ernst und einem hohen Anspruch von Professionalität. Auch die Kriegskunst kommt von Können.

Militärlehrbücher, die es ernst meinen, sind darum trockener Stoff, ohne Schnörkel und abstrakte Betrachtungen von Gut und Böse, die im Pfeilhagel oder Artilleriefeuer wenig helfen. So auch dieses besonders klassische Exemplar, das Kaiser Leo seinen Befehlshabern als Weisung in die Hand gab. Wie man ein Heer organisiert und aufbaut, die richtige Schlachtaufstellung und Marschordnung wählt, Feldlager errichtet, den Nachschub sicherstellt, Städte belagert, Wachen postiert und den Feind auskundschaftet, die Truppe drillt und bei Laune hält. Nicht ganz auf Handgriffebene, aber doch nahe dran. Samt Vorschriften, mit welchen Kniffen der General Gefangene zu verhören und wann er sich Ruhezeiten zu gönnen hat.

 

Fromm und weise

Leo VI. (866-912)

In der Person des Generals liegt bei Leo noch am ehesten ein ideologisches Element. Seinen Befehlshabern wird ein hohes Idealbild hingezeichnet, an dem sie sich zu orientieren haben. Tugendhaft und gottesfürchtig soll er sein, der General, von starkem Charakter und untadeligem Ruf, beherrscht, entschlossen, tatkräftig, arbeitsam und bescheiden im Lebenswandel, nicht zu reich, nicht zu arm, nicht zu alt, nicht zu jung, und möglichst mit Familie. Wir wissen nicht, ob Leo hier seine eigenen Generale nachskizzierte oder im Gegenteil aufsummierte, was er an Schwächen vorfand und nicht mehr gestatten wollte. Wenn man es im einzelnen zerlegt, findet man freilich die meisten Eigenschaften auch nach pragmatischen Nützlichkeitserwägungen sinnvoll. Gerade auch, was human erscheint; Überläufer, Gefangene schonend zu behandeln macht dem Feind das Aufgeben leichter, und die gute Versorgung der Verwundeten, ehrenvolle Bestattung der Gefallenen hebt die Kampfmoral der eigenen Truppe.

Überhaupt ist das Bild des Generals in manchem recht modern. Adelsvorrechte zählen bei der Auswahl wenig; noble Abkunft kann helfen und motivieren, ist aber nicht Voraussetzung. Das altrömische, meritokratische Elitenverständnis scheint hier noch durch. Der General soll Vorbild sein, für die Truppe immer ein offenes Ohr haben, auch selbst tatkräftig anpacken und sich unter seine Soldaten mischen. Aber vom eigentlichen Gefecht soll er sich fernhalten, seine Gesundheit nicht gefährden; denn wenn er ausfiele, käme Chaos in das Heer. Noch nicht, wie bei Brecht satirisch, der Krieger mit dem Telefonhörer; aber mit Standarten, Trompeten und Flaggensignalen fern vom Feldherrnhügel.

Ein Selbstporträt zeichnet Leo übrigens sichtbar nicht. Er gilt als weiser Philosophenkaiser, schriftgelehrt, nicht als Feldherr in eigener Person; was er für das Buch hat sammeln lassen, stammt überwiegend aus älteren Strategieschriften und nur zum kleineren Teil aus der eigenen „begrenzten Erfahrung im aktiven Dienst“; was noch viel gesagt ist, ob Leo jemals selbst im Felde stand, bleibt unbekannt. Kriege lässt er seine Generale führen wie den Nikephoros Phokas. Für die er im wesentlichen die gesammelten Erfahrungen der antiken Militärgeschichte kompiliert; der Blick geht hauptsächlich zurück, auf alte Heerführer, Alexander, Scipio, auf ältere Militärschriftsteller, Aelian, Onasander. Ein spätrömisches Sammelwerk im Kern; auf militärischem Gebiet ungefähr das, was der Codex Iustinianus auf dem rechtlichen gewesen war.

Allerdings dreieinhalb Jahrhunderte später und von römischer Siegesherrlichkeit noch ein gutes Stück weiter entfernt. Leo nennt sich Basileus Romeon, römischer Kaiser, adressiert Volk und Soldaten als Römer. Aber um die Wende vom neunten zum zehnten Jahrhundert regiert er nurmehr ein Rumpfreich, die nach dem Arabersturm noch einmal halbierte Osthälfte dessen, worüber Augustus, Trajan, Konstantin einst geboten; im Kern, was wir heute Kleinasien, Griechenland und den Balkan nennen, plus einige Exklaven. Immer noch eine bedeutende Macht zwar, mit der Weltstadt Konstantinopel im Zentrum. Aber von allen Seiten bedrängt, mit vielen Nachbarn, Feinden, Halbfeinden, Halbverbündeten. Daher das ausführliche Kapitel über die Kriegstaktiken der anderen Völker, mit denen man es damals zu tun hatte: Sarazenen, Magyaren, Bulgaren, Skythen, Franken und anderen mehr. Daher auch die vielen Kriege, die in Leos Regierungszeit, 886 bis 912, geführt werden mussten. Mit durchaus wechselndem Erfolg übrigens; Verluste und ungünstige Friedensbedingungen auf dem Balkan, Niederlagen gegen die Araber auf Sizilien und Kreta; die Kiewer Rus stand zweimal vor Konstantinopel und rang dem Kaiser ein Handelsabkommen ab.

 

Das Handwerk lernen

Nicht gerade Memoiren eines großen Siegers also. Auch, an Leos übrigen Schriften gemessen, kein bedeutendes intellektuelles Werk; keine Aphorismen-Sammlung wie bei Sun Tzu, kein politisch-philosophisches Traktat wie bei Clausewitz. Ein nüchternes Lehrbuch für höhere Offiziere, pures Handwerk: tue dieses, unterlasse jenes, eine Regel gilt bei Tage, die andere in der Nacht, und im Winter die dritte und in Sumpfgebiet die vierte. Wenig Verwertbares für Kalenderblättchen oder Managementseminare.

Warum noch heute darin lesen? Nun: gerade deswegen. Weil man einen ungetrübten Eindruck gewinnt, welch komplexes Unterfangen schon unter den Bedingungen von Antike und Frühmittelalter die Heerführung gewesen ist; und das Tun und Lassen der Generale so ein wenig besser zu beurteilen lernt. Vor allem lernt man, dass der eigentliche Kampf in der damaligen Kriegführung bei weitem nicht die Haupttätigkeit bildet. Wie man Legion und Kohorte, oder bei Leo auf Griechisch meros und droungos, taktisch optimal in die Schlacht führt, ist ja nur eine Fertigkeit unter vielen; ein, zwei Tage in einem Feldzug, der Monate oder Jahre dauert. Vorher gilt es, das Heer ans gut gewählte Schlachtfeld heranzuführen, den Raum zu erkunden, die Marschrouten zu wählen, die Soldaten mit Waffen, Nahrung, Wasser zu versorgen, sie – was großen Raum einnimmt – motiviert zu halten mit allen Kniffen damaliger Psychologie, einschließlich Geldgeschenken und gelegentlicher Propagandalügen. Und sicherzustellen, dass sie wissen, was zu tun ist; Kommunikation, mit Rufen, Flaggen, Trompeten, ist so wichtig wie die Geschicklichkeit mit Schwert und Speer.

 

Urlogistiker

Fuhrwerke waren bis ins neunzehnte Jahrhundert wichtigstes Landtransportmittel im Militärischen wie im Zivilen

So dass, einer der merkenswerten Leitsätze, es oft einfacher ist, den empfindlichen feindlichen Heereskörper durch Ermüdung, Aushungerung, kleine Störangriffe zu zermürben und zur Aufgabe zu bewegen als im offenen Gefecht. Was noch an manchen neuzeitlichen Heerführer erinnert, von Wallenstein etwa im Dreißigjährigen Krieg gerne, weil ressourcenschonend praktiziert wurde.

Die hohe Wertschätzung für Organisation und Nachschub macht Leo vor allem für die Militärlogistiker interessant; und für die Zivillogistiker jedenfalls, weil er das Wort in seiner heutigen Bedeutung geprägt hat. Ursprünglich bedeutete Logistik auf Griechisch nur so viel wie Rechenkunst; erst mit Kaiser Leo erfuhr es die Umdeutung hin zum militärischen Nachschubwesen, was sich dann, in der Moderne, weiter ausdehnte auf alles, was mit Transport, Lagerung und Warendisposition zu tun hat.

Wobei man den allmählichen Bedeutungswandel bei Leo sehr schön nachverfolgen kann. Zunächst nämlich ist Logistik auch bei ihm alles, was mit Zahlen zu tun hat; die Heeresorganisation, welche die Größe der Einheiten festlegt, und das Finanzwesen, das den Sold der Soldaten verwaltet ebenso wie Beutegut aus Plünderungen. Logistiker sind zu Beginn Rechner und Schreiber. Aus dem reinen Besolden des Heeres wird dann aber rasch die Versorgung auch mit Waffen, Munition, Rohmaterial für das Kriegsgerät, Brot für die Männer, Hafer für die Pferde. So dass die Logistik in der Wahrnehmung aufsteigt zu dritten militärischen Säule neben Strategie und Taktik.

Deren Rolle ändert sich für lange Zeit nicht. Noch Napoleon muss, trotz Kanonen und Musketen, im Kern mit den gleichen logistischen Mitteln auskommen wie die alten Römer und Griechen: das Heer marschiert zu Fuß, für den Transport hat man Pferdefuhrwerke. Erst mit dem Aufkommen der Eisenbahn und des Verbrennungsmotors wird auch die Militärlogistik revolutioniert. Kaiser Leos Betrachtungen decken also, in den konkreten Mitteln, zweitausend Jahre Militärhistorie ab, ungefähr von Caesar bis Moltke. Und gelten, abstrakt gesehen, in einem motorisierten, logistisch anspruchsvollen Heer wie dem heutigen mehr denn je.

 

Das Werk

Leo VI.: Taktika (auch: Summarische Auseinandersetzung der Kriegskunst). Entstanden um 900 n. Chr. Hier verwendet die überarbeitete, griechisch-englische Edition von George T. Dennis, Dumbarton Oaks 2010, 690 S.

 

 


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