MITTEL ZUM LEBEN

Ernährung ist eins der wenigen Themen, das jeden Menschen angeht. Und auch wenn alle Menschen von ihren grundsätzlichen physiologischen Bedürfnissen her vergleichbar sind, ist doch erstaunlich, was genutzt und was nicht zu Rate gezogen wird, um uns an Leib und Seele zu sättigen.


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Von Anfängen des Lebens an der Nabelschnur im Mutterleib bis zu einen möglichen Ende an denInfusionsschläuchen unserer modernen Medizinsind wir Menschen darauf angewiesen, vonaußen etwas in uns aufzunehmen, um am Lebenzu bleiben. Natürlich sind wir die meiste Zeitselbst dazu in der Lage, das zu erledigen. Was dieMutter über ihr Blut mitgibt und die Medizinerin die Adern laufen lassen, das können wir nichtbeeinflussen – was wir ansonsten zu unsererErnährung beitragen, sehr wohl.Möchte man zumindest meinen. Der Menschkann nicht nur von Luft und Liebe leben, sagtman, und auch nicht von Kaffee und Zigaretten(auch wenn der Versuch gerade unter Studenten immer wieder neu reproduziert wird). Allevier Dinge haben ohne Zweifel Auswirkungenauf uns und unseren Körper, aber sie enthaltenleider keinen physiologischen Brennwert für uns.Daher wäre die Alimentation mit Luft und Liebeallein ein untauglicher Versuch, wie die Juristenwohl sagen würden, sich am Leben zu halten.Und auch wenn für viele Menschen Kaffee undTabakwaren eindeutig zum Leben dazugehören,gilt hier das gleiche.

GRUNDLAGE(N) SCHAFFEN

Seit der Industriellen Revolution, also ab den1850er Jahren, hat die Wissenschaft große Fortschritte im Verständnis der menschlichen Ernährung gemacht. Gerade auch in deutschen Landen:In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nehmen deutsche Forscher Pionier- und Spitzenpositionen ein und erweitern die Kenntnisse imBereich der Chemie enorm, und im Gefolge kannsich auch die Pharmazeutik entwickeln.Das Verständnis vom Aufbau der Welt und denWechselwirkungen verschiedener „Stoffe“ aufeinander wird jetzt auf ganz andere Grundlagengestellt. „Stoffe“ können chemisch beschriebenund synthetisiert werden; die Wechselwirkungenführen dann (über die Entdeckung der Funktionder Enzyme) zur Erklärung des Stoffwechsels imfrühen 20. Jahrhundert – und der Möglichkeiten,von außen darauf Einfluss zu nehmen.Hier ein erstes Aufeinandertreffen von Unverständlichen im Selbstverständlichen: Schon seitdem Altertum ist eine Krankheit namens Skorbutbekannt, die zu Blutungen, Zahnausfall, Muskelschwund und manchmal sogar zum Tode führenkann. Massives Problem war diese Krankheit fürdie europäischen Seefahrer, die im 16. und 17.Jahrhundert die Welt entdecken (und sich unterwerfen) wollten: Viele Seeleute gingen daranzugrunde. Erst Ende des 18. Jahrhunderts fandendie Engländer heraus, dass es an der Ernährungliegen muss, und dass bestimmte Nahrungsmittel offenbar Skorbut verhindern können.Was jetzt aber Zitronen und Sauerkraut gemeinsam haben könnten, ist erst Anfang des20. Jahrhunderts entdeckt worden, nachdemdie Idee des „Vitamins“ geboren wurde unddie Ascorbinsäure, „Vitamin C“, identifiziertund dann auch im großen Maßstab synthetisiert wurde. In der Zitrone, im Sauerkraut, alsweißes geschmackloses Pulver ohne Brennwert:„Vitamin C“ ist Mittel zum Leben.

BIERCHEN

Nicht nur das Vitamin C wurde als lebensnotwendig erkannt, im Laufe der Zeit gewann dieWissenschaft immer mehr Aufschluss über andere „Stoffe“, die wir unseren Körpern zuführenmüssen, um einen Zustand zu erreichen, der unsnicht als krank erscheint. Das ist bewusst vageformuliert, denn was „krank“ und was „gesund“genannt wird, ist sehr unterschiedlich und hängtstark von den Erwartungen des Jeweiligen (undseines Arztes) ab. Solche Festlegungen habensich im Verlauf der Geschichte schon mehrfachgeändert, und kann nicht allein vom Standpunktder Ernährung aus gesehen werden. Die individuellen Lebensumstände müssen hier genausoin den Blick genommen werden wie die gesamteBezugsgruppe, in welcher der Einzelne lebt.Eine zweite Unverständlichkeit im Selbstverständlichen: Bier als Grundnahrungsmittel. Fraglos istBier für uns Menschen als Energiequelle verwertbar, und es kann auch einige der Stoffe liefern,die wir darüber hinaus zum Leben brauchen.Auf der anderen Seite enthält selbst das bestgebraute Bier von Natur aus das giftige Ethanol –abgesehen von allerlei anderen giftigen Stoffen,die jahrhundertelang aus den Braukesseln in dieMünder der Bevölkerung gelangten.Nun ist Bier nicht das einzige Nahrungsmittel,mit dem sich der Mensch Gift zuführt, aberhier ist die Intoxikation in ihrer Wirkung schonschnell sichtbar und kann problematisch fürden Einzelnen und für die Umgebung werden.Jedes Jahr veröffentlichen verschiedene Stellenzudem Schätzungen, wie viel der Alkoholabusus an Todesfällen und wirtschaftlichen Kosten(Aufwendungen zur Behandlung, Ausfall anzu erwartender Leistung etc.) zur Folge hat.Nicht alles hängt vom Bier ab, auch anderealkoholhaltige Stoffe tragen dazu bei.Dennoch darf das Bier hier eine Sonderrollebeanspruchen. Seit Jahrhunderten ist Bier einfester Bestandteil der Ernährung der Bevölkerung, lange auch bei Kindern. Das Wasser ausvielen Flüssen und Brunnen war – und ist – fürden Menschen nicht geeignet, verschmutzt undmit Krankheitserregern bevölkert. Davon wussteman im Mittelalter nicht viel, die Erkenntnis war nur, dass es sicherer war, Bier oder Wein zu trinken, idealerweise aus Silberbechern. Wein undSilberbecher hatten viele Leute in deutschenLanden nicht – aber Bier brauen konnte man injedem Haus. Bis hier langsam die ObrigkeitenBeschränkungen und Regeln einführten, war dasauch oft der Fall. Und Bier hielt sich als selbstverständliches Nahrungsmittel lange, Biersuppe etwaals Frühstück war Anfang des 19. Jahrhunderts inArbeiterkreisen üblich. Bis heute muss man nichterklären, was man sich unter einem Feierabendbier vorstellen soll. Jedenfalls in unseren Kreisen.

NEIN, DANKE

Was ein heutiger Arzt über den durchschnittlichendeutschen Bauern im 15. Jahrhundert gesagt hätte,ist natürlich unmöglich zu rekonstruieren. Der Verfasser geht dennoch davon aus, dass aus unsererSicht jede Menge Zeichen von Fehlernährung vorhanden gewesen sein müssen, angefangen vomVitamin- und Jodmangel. Aber Alkohol musste derBauer vertragen können.Ganz anders ist das bekanntlich in östlichen Teilenvon Asien. Die Menschen dort verstoffwechselnAlkohol aufgrund eines Enzymmangels anders, sodass schon geringe Mengen zu deutlichen Vergiftungserscheinungen führen. Eine Dose Bier füreine Gruppe Freunde sorgt in diesen Kreisen füreinen ausgelassenen Abend.Eine dritte Unverständlichkeit im Selbstverständlichen: Nicht alle vertragen alles. Damit ist keineswegs nur gemeint, was wir nicht essen wollen: Ratten etwa wurden in unseren Breiten nur in größterNot gegessen, ansonsten ist schon der Gedankefür viele ekelig und verhindert durch Würgen eineNahrungsaufnahme; in anderen Gegenden sindRatten ein beliebter Snack. Aus verschiedenenGründen sind bestimmte Tiere für einige Menschen keine Nahrung; auch bei Pflanzen gilt füreinige: „Grünzeug ist für Kaninchen!“Es geht auch nicht um das, was wir nicht essenkönnen: In keiner Gesellschaft wird der geneigteGastgeber uns rohe, ergrünte Kartoffeln oder einen Scheit Holz vorsetzen. Beides würden wir wohlirgendwie in den Magen bekommen, aber…Umso erstaunlicher ist es, dass es ein Lebensmittelgibt, das alle Menschen von Natur aus vertragenmüssten, aber nicht vertragen: Milch. In Form derMuttermilch stellt sie die einzige natürliche Nahrungsquelle der Säuglinge dar, die ja ihren Namennach dieser Ernährung haben. Erst seit kurzem gibtes Ersatz für Muttermilch, und diese künstlichenMischungen werden sehr kontrovers diskutiert,während es zu wünschenswerten Auswirkungendes (langen) Stillens eine ganze Reihe von positiven Studien gibt.Dennoch sind etwa drei von vier Erwachsenenweltweit nicht in der Lage, Milchzucker zu zersetzen, und leiden entsprechend an verschiedenenBeschwerden, wenn sie unbehandelte Milch zusich nehmen. Das Selbstverständliche, Normale,ist also, Milchzucker nicht aufspalten zu könnenund entsprechend als Erwachsener zurückhaltendmit Milch und Milchprodukten zu sein – wobei esumgekehrt Landstriche gibt, in denen eine ausgeprägte Milchwirtschaft entstanden ist und die allermeisten keine Probleme haben. Hier hat sich nachherrschender Meinung eine menschliche Population entwickelt, die aufgrund genetischer Disposition Milchzucker verträgt und sich damit den Vorteileiner weiteren Nahrungsquelle gesichert hat.

RAFFINIERT

Die Milch von Säugetieren – Kuh-, Ziegen-, Stutenmilch etc. – wird dabei roh und frisch konsumiert. Selbstverständlich. Aber, um zur vierten Unverständlichkeit zu kommen: Es wird auch erheblicher Aufwand betrieben, um aus dem Rohstoff ein Produkt zu erschaffen, das endlich dem Konsum zugeführt wird. Niemand kann behaupten, dass man zur Lebenserhaltung Käse braucht, der viele Jahre lang in irgendwelchen Höhlen in Okzitanien gelagert wurde und dabei regelmäßig gewendet und mit Salzlake bestrichen wurde, oder dass zur Verwertung von Weintrauben unbedingt nach jahrelanger Gärung in alter Eiche die Destillation zum Weinbrand erforderlich ist. Aber der Mensch ist raffiniert und blieb nicht dabei stehen, sich von zufällig reifen Früchten und Beeren zu ernähren und von Tieren, die er erlegen konnte. Ackerbau und Viehzucht führten über Zucht und Auslese zu immer ergiebigeren, oft auch wohlschmeckenderen Rohstoffen, die man immer ausgefeilter zubereitete. Die vielen „Küchen“ auf der Welt sind ein Zeugnis für den Einfallsreichtum, wenn es um Lebensmittel geht. Nicht einmal das einfache frische Brot ist, so gesehen, einfach, sondern das Ergebnis jahrhundertelanger Bemühungen, was die Auswahl und Verbesserung des Getreides, die Formen der Verarbeitung, die Beschaffenheit der Öfen angeht. Was der Mensch alles als Mittel zum Leben ansieht – und in welcher Form –, ist ein sehr weites Feld, in dem Un- und Selbstverständlichkeiten nebeneinander stehen. Was für ein Reichtum!


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Dominik Matuschek

geb. 1982, Dr. theol., VDSt Bonn, Chefredaktion.

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