Mögliches und Unmögliches
Er wurde geliebt und gehasst wie in der deutschen Nachkriegsgeschichte vielleicht kein Politiker außer dem Bayern Franz Josef Strauß. Als Visionär gefeiert, als Verzichtspolitiker und Vaterlandsverräter gescholten; nach außen als Friedenspolitiker dekoriert, nach innen als Regierungschef gescheitert. Am Ende seines Lebens sah er einen großen Traum erfüllt. Am 18. Dezember wäre Willy Brandt einhundert Jahre alt geworden.
ALLE Artikel im Netz auf aka-bklaetter.de lesen und auch das Archiv?
Jetzt kostenlos
AnmeldenVon Bismarck, Deutschlands großem Realpolitiker, stammt bekanntlich der Satz, dass Politik die Kunst des Möglichen sei. Bescheiden klang das zu Bismarcks Zeiten; aber so bescheiden auch wieder nicht, bedenkt man, was für Bismarck als Lenker einer souveränen Großmacht möglich war und für spätere Generationen deutscher Politiker, zumal nach 1945, nicht mehr. Einer dieser Politiker hat den Bismarck-Satz angesichts der trostlosen Gesamtlage einmal umgedreht: „Politik ist die Kunst, das zunächst unmöglich erscheinende möglich zu machen.“
Der so sprach, man errät es, war der Sozialdemokrat Willy Brandt; damals Regierender Bürgermeister im Westteil der alten Hauptstadt Berlin, später Außenminister und Bundeskanzler und mit einer Realpolitik bekannt geworden, die sehr bescheidene, manche sagen: überbescheidene Ansprüche an das Mögliche stellte, um am Ende einen kleinen Beitrag zu leisten, das Unmögliche möglich zu machen.
Von Jugend an politisiert
Brandt, damals noch unter dem Namen Herbert Frahm, wird im Dezember 1913 in Lübeck geboren. Die Eltern sind unverheiratet; den Vater, der Reißaus nimmt, lernt der Junge nie kennen; die Mutter muss den Lebensunterhalt alleine besorgen und das Kind oft sich selbst überlassen. Eine „nicht ganz einfache Kindheit“, wie Brandt später als reifer Mann urteilt: materiell kärglich, aber wohl zu ertragen; emotional weitgehend leer.
Erste wirkliche Bezugsfigur wird der Großvater Ludwig, welcher aus dem Krieg heimkehrt, als der Junge knapp sechs Jahre alt ist. Früher Landarbeiter, nun Lastwagenfahrer, ist Ludwig Frahm ein überzeugter Sozialdemokrat, aber nicht im revolutionären, umstürzlerischen Sinn, mehr auf schrittweisen sozialen Aufstieg bedacht, zugleich redlich und ordnungsliebend, „stark im Glauben und einfach im Denken“, wie der Ziehsohn sich später erinnert. Dessen politische Denk- und Glaubensrichtung ist damit vorgeprägt.
Zu den sozialdemokratischen Glaubenssätzen jener Zeit gehört, dass Wissen Macht ist und sozialer Aufstieg nur durch Bildung möglich. Als der junge Herbert beweist, dass er das Zeug dazu hat, darf er das Gymnasium besuchen. Parallel engagiert er sich bereits in der sozialistischen Arbeiterjugend und setzt auch seine erwachende Freude am Schreiben als politischer Schriftsteller ein, beginnend beim parteinahen „Volksboten“ unter der Leitung Julius Lebers. Dieser aufrechte Sozialdemokrat, der später im Zuge des 20. Juli umkommt, wird zur zweiten politischen Vaterfigur im Leben des jungen Mannes.
Radikalisierung und Exil
Wie es im Heranwachsen eben so geht, gibt es auch in dieser Biographie eine Rebellion gegen die Väter. In der Weimarer Zeit ist die SPD, obwohl die eigentliche Staats- und Verfassungspartei, zumeist in der Opposition oder begnügt sich, wie in der Zeit des Reichskanzlers Brüning, mit dem Halb-drin-und-halb-draußen einer parlamentarischen Duldung. Den jungen Wilden genügt das nicht mehr; sie fordern Teilhabe an der Macht, notfalls mit revolutionären Mitteln. Während die Älteren mit dem in Weimar Erreichten schon leidlich zufrieden sind, gehört Herbert Frahm zu denen, die skandieren: „Republik, das ist nicht viel – Sozialismus ist das Ziel.“
1931 erfolgt sein Übertritt zur Sozialistischen Arbeiterpartei, einer kleinen Splittergruppe, angesiedelt zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten. Zwar versammeln sich dort einige kluge Köpfe, bei Wahlen bleibt man aber chronisch erfolglos, bewegt sich im niedrigen Promillebereich. Frahm ist noch sehr jung damals; parallel macht er sein Abitur und sammelt erste Berufserfahrungen.
Dann kommt der Bruch des Jahres 1933. Gott weiß, wie ohne ihn dieser Lebensweg weiter verlaufen wäre. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten zwingt Frahms Partei in den Untergrund. Zwei Monate bleibt er noch im Land, dann flieht er nach Norwegen. Nun taucht erstmals sein Deckname auf: Willy Brandt.
Im Exil bleibt Frahm/Brandt die ganzen zwölf Jahre der NS-Herrschaft; nach der Invasion Norwegens zieht er 1940 weiter nach Schweden. Die ersten beiden seiner drei Ehen schließt er dort und wird Vater. Beruflich arbeitet er als Journalist – die Sprache eignet er sich schnell an –, als Korrespondent und Mittelsmann für seine Partei, die ihn auch auf gefährliche Auslandsmissionen schickt, so für einige Monate in einer Untergrundmission in Berlin oder als Beobachter in den spanischen Bürgerkrieg. Zugleich zeigt sich Brandt als guter Netzwerker, knüpft Kontakte zur norwegischen Arbeiterpartei. Und er erweitert seinen Horizont; die viel stärker im christlichen Humanismus wurzelnde skandinavische Sozialdemokratie führt ihn Schritt für Schritt fort von der marxistischen Doktrin. Seine inhaltlichen Positionen werden mäßiger. Noch im Krieg, im Herbst 1944, findet er zurück zur SPD, das heißt: zu deren Exilorganisation.
In der Frontstadt Berlin
Als norwegischer Staatsbürger, norwegisch verheirat und als Kriegsberichterstatter in norwegischer Uniform kehrt Brandt 1945 in das besetzte Deutschland zurück. Er zögert dennoch nicht lange, in seiner Heimat wieder politisch aktiv zu werden. Nach einigen Zwischenstationen schickt ihn Kurt Schumacher, der neue starke Mann der Sozialdemokraten, in den SPD-Parteivorstand in der damals noch von den vier Siegermächten gemeinsam verwalteten alten Reichshauptstadt Berlin. Dort wird Brandt – der sich mittlerweile entschieden hat, seinen nom de guerre in Deutschland weiterzuführen – zum Vertrauten des Oberbürgermeisters Ernst Reuter und nach dessen Tod zum Führer des rechten Parteiflügels. In heftigen innerparteilichen Machtkämpfen setzt er sich durch, wird zunächst Präsident des Abgeordnetenhauses und 1957 schließlich Regierender Bürgermeister des Westteils der Stadt. Das bleibt er fast zehn Jahre.
In der Berliner Zeit schließt sich Brandts Wandlung zum Realpolitiker ab. Die geteilte Stadt, abhängig von der Gnade der Siegermächte, von sowjetisch besetztem Gebiet umgeben und ständig von der Abriegelung bedroht, bietet wenig Raum für politische Träume. Der Handlungsrahmen der Stadtoberen ist eng; als Reaktion auf neue Zumutungen Moskaus bleibt oft nur ohnmächtiger Zorn. Während Chruschtschows Berlin-Ultimatum und des Mauerbaus beweist Brandt Statur; an der Gesamtlage aber kann er nichts ändern, nur in kleinen Schritten Verbesserungen für die Bürger erzielen und, auch mithilfe von Subventionen der Bonner Regierung, einen Exodus aus seiner Teilstadt zu verhindern suchen, die ihres Hinterlandes und ihrer Industrie beraubt ist. Damals schon setzt sich die Maxime durch, die Brandts Vertrauter Egon Bahr formuliert: Um den Status quo zu verändern, muss man ihn zunächst anerkennen.
Für Tabus und Denkverbote bleibt in der Enge Berlins kein Raum. Um 1963 das Passierscheinabkommen abzuschließen, das Hunderttausenden den Besuch ihrer Verwandten im Ostsektor ermöglicht, muss Brandt direkt mit der DDR-Regierung verhandeln, was zu dieser Zeit für Bonn, das die DDR als Staat nicht anerkennt, noch diplomatisch unmöglich ist.
Bundespolitiker
Diese Vorgeschichte muss man kennen, um Brandts Politik auf der Bundesebene zu verstehen. Dass er dorthin gelangte, ergab sich aus seiner Berliner Position; zwar wird er schon 1949 als Berliner Vertreter in den Bundestag gewählt, zu einer bundesweit bekannten Persönlichkeit und schließlich zum Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten seiner Partei wird er aber erst aufgrund seines Berliner Renommees. Auch mithilfe des Parteistrategen Herbert Wehners übrigens, der in dem jungen, dynamischen Charismatiker ein starkes Zugpferd für die anstehenden Wahlkämpfe sieht.
Tatsächlich erzielt Brandt bei den Bundestagswahlen 1961 und 1965 als Spitzenkandidat beachtliche Ergebnisse für die Sozialdemokraten; um Konrad Adenauer und dann Ludwig Erhard aus dem Amt zu drängen, reicht es jedoch nicht, da die FDP unter Erich Mende sich jeweils für die Koalition mit der Union entscheidet. Nach der zweiten Wahlniederlage zeigt Brandt erste Zeichen von Verbitterung und will auf eine erneute Kandidatur verzichten; auch zermürbt durch den aggressiven Wahlkampf von CDU und CSU, die heftige persönliche Attacken unter anderem seiner uneheliche Geburt und seiner Exilzeit wegen führen.
Derweil arbeitet Wehner weiter emsig daran, die Sozialdemokraten regierungsfähig zu machen. Das Godesberger Programm und die Anerkennung der unter Adenauer erreichten Westbindung haben wichtige Hindernisse für eine Zusammenarbeit mit der Union aus dem Weg geräumt. Als Erhards Regierung zerbricht, steht die SPD als neuer Koalitionspartner bereit.
Die große Koalition ist nicht Brandts Wunschkoalition; er hätte es lieber damals schon mit der FDP versucht. Nur widerwillig wird er Außenminister im Kabinett Kiesinger, überlässt die Zusammenarbeit mit dem Kanzler bevorzugt Wehner und Fraktionschef Helmut Schmidt. Wertvoll ist die Zeit für ihn vor allem als Lernphase: Er führt ein großes Ministerium, reist in der Welt herum, knüpft Kontakte, macht sich weiter einen Namen; und gewinnt über seinen Apparat Erkenntnisse und Einsichten und bereitet seine Außenpolitik vor, die Egon Bahr mit „Wandel durch Annäherung“ überschreibt. Noch plant er nur; die Außenpolitik gestalten kann er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Kiesinger, selbst von seiner eigenen Partei gebremst, lässt nur erste vorsichtige Schritte in Richtung Osten zu, etwa die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Rumänien entgegen der Hallstein-Doktrin der Bonner Außenpolitik, die bislang Beziehungen zu Staaten, welche die DDR anerkennen, untersagt.
Ostpolitik
Aber zum großen Wurf reicht es nicht. Derart eingeengt, entschließt sich Brandt, die große Koalition nicht fortzusetzen. Als die Bundestagswahl 1969 eine knappe Mehrheit für eine SPD/FDP-Koalition ergibt und letztere unter dem neuen Vorsitzenden Walter Scheel sich kooperationswillig zeigt, verkündet Brandt noch in der Wahlnacht die sozialliberale Koalition. Es ist ein einsamer Entschluss; Wehner und Schmidt hätten lieber die Zusammenarbeit mit der Union fortgesetzt.
Bald nach der Wahl folgte der Paradigmenwechsel in der bundesdeutschen Außenpolitik, der unter dem Schlagwort Ostpolitik Eingang in viele andere Sprachen fand. Er beinhaltete die Abkehr von vielen Illusionen und die Anerkennung des Status quo. Der sah so aus: Die Rote Armee hielt den Osten Deutschlands besetzt und würde so bald nicht gehen; so lange dies so war, würden in Ost-Berlin die Kommunisten herrschen und in den anderen Ostblockstaaten ebensolche Vasallenregime; Machtmittel, daran etwas zu ändern, standen Bonn nicht zu Gebote; Hilfe der Verbündeten war für offensive Ziele nicht zu erwarten und auch gar nicht zu wünschen, da bei einer gewaltsamen Auseinandersetzung Deutschland das Schlachtfeld eines Krieges geworden wäre, in dem beide Seiten atomar bewaffnet waren. Wenn man nun durch eine Politik der Stärke nichts bewirken konnte – und das schienen die ersten zwanzig Jahre bundesdeutscher Außenpolitik deutlich zu zeigen –, wenn man Mauer und Stacheldraht nicht einreißen konnte, so blieb nur, zu versuchen, sie langsam durchlässig und das Leben für die Menschen beiderseits des Eisernen Vorhangs währenddessen so erträglich wie möglich zu machen.
Damit ist die Geschichte der Ostpolitik im wesentlichen erzählt. Die einzelnen Stationen – Moskauer Vertrag mit der Sowjetunion 1970, Warschauer Vertrag mit Polen im gleichen Jahr, Viermächteabkommen über Berlin, Transitabkommen und Grundlagenvertrag mit der DDR, De-facto-Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Ost-Berlin, UNO-Beitritt beider deutscher Staaten – wollen wir hier nicht im Detail schildern. Neben den Vertragswerken als solchen operiert Brandt mit starken Symbolen; der Besuch in Erfurt ist ein solches, ebenso der Besuch in Polen mit dem weltberühmten Kniefall am Mahnmal für die Opfer des Warschauer Ghettos. Marcel Reich-Ranicki, einer der Überlebenden des Ghettos, erinnert sich noch zwanzig Jahre später in einem Nachruf auf Brandt mit Dankbarkeit daran. „Der kniende Bundeskanzler Willy Brandt erinnerte mich nicht nur an das, was sich damals ereignet hatte. Denn als ich dieses Foto sah, dachte ich mir auch, daß meine Entscheidung, 1958 trotz allem nach Deutschland zurückzukehren und sich in der Bundesrepublik niederzulassen, doch nicht falsch war.“
Die Reaktion in der Heimat allerdings ist gespalten. Überhaupt erfreut sich die Ostpolitik bei den Intellektuellen und im Ausland größere Zustimmung als in der Mehrheit des Wahlvolks. 1971 erhält Brandt den Friedensnobelpreis, mit dem es freilich auch so eine Sache ist. Die naturwissenschaftlichen Nobelpreise gibt es meist erst Jahrzehnte später, wenn sich der durchschlagende Erfolg einer Forschungsleistung erwiesen hat; den Friedensnobelpreis oft als Ansporn und Vorschusslorbeer für gute Absichten und erste Ansätze. Auch wenn man den Fall Brandt 1971 mit dem Fall Obama 2009 gewiss nicht gleichsetzen sollte, gibt es Parallelen. Jedenfalls: Es mehren sich, auch damals schon, die kritischen Fragen nach den Resultaten. Denn die Ostpolitik bedeutet ja auch Verzichtleistungen der Bundesrepublik: Den Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag, der das Land für immer auf den Status einer Macht zweiten Ranges reduziert, ebenso wie die faktische Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als deutsche Ostgrenze, womit Millionen Heimatvertriebene alle Hoffnung auf Heimkehr endgültig begraben müssen. Wo sind die Leistungen der Gegenseite, die über Reiseerleichterungen für einige wenige und Friedensbeteuerungen hinausgehen?
Diese Fragen stellt man sich draußen im Lande und auch im Bundestag. Dort schmilzt die ohnehin knappe Mehrheit der Regierungskoalition durch Fraktionswechsel mehrerer Abgeordneter langsam dahin. Im April 1972 ist es schließlich so weit, dass der Unionsfraktionschef Rainer Barzel genügend Stimmen für einen Regierungswechsel beisammen zu haben glaubt. Mit einem konstruktiven Misstrauensvotum versucht er, Brandt zu stürzen und sich selbst zum Bundeskanzler wählen zu lassen. Rechnerisch spricht alles für Barzel. Aber es kommt zur Sensation. Der Antrag verfehlt die nötige Mehrheit um zwei Stimmen. Brandt bleibt an der Macht, wie durch ein Wunder. – Heute weiß man: Ein Wunder war es nicht; durchaus unsaubere Methoden, Bestechung darunter, leisteten ihren Beitrag; auch die DDR-Staatssicherheit hatte ihre Finger im Spiel. Sehr wahrscheinlich aber ohne Brandts Wissen.
Der hat derweil trotz des Erfolgs keine regierungsfähige Mehrheit mehr. Daher einigt man sich auf die vorzeitige Auflösung des Bundestags und auf Neuwahlen. Zum Zeitpunkt der Entscheidung ein durchaus mutiger Schritt. In den Umfragen liegt die Union klar vorne; der Gang zurück auf die Oppositionsbänke droht. Aber gegen alle Vorzeichen wird der Wahlkampf 1972 zu Brandts erfolgreichster Kampagne. Bürgervereine und Intellektuelle engagieren sich öffentlich für ihn; die Herabsetzung des Wahlalters auf achtzehn Jahre macht seine Popularität bei der Jugend politisch wirksam. Am Ende erringt er nicht nur erneut die Regierungsmehrheit, sondern überholt mit knapp 46 % der Stimmen erstmals die Unionsparteien.
Der lange Weg zum Rücktritt
Der Wahlsieg von 1972 ist der Scheitelpunkt in der Laufbahn des Politikers Willy Brandt. Von da an führt der Weg bergab; muss es schon deshalb, weil die außenpolitische Agenda großteils abgearbeitet ist und der Fokus nun auf die Innen- und Wirtschaftspolitik fällt. Dort hat die Regierung Brandt nur wenige Erfolge vorzuweisen, ja eine Reihe von Fehlern zu verantworten. Zu ihnen gehört der Marsch in den Schuldenstaat mit einer vulgärkeynesianisch unterlegten nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik, der damals beginnt, ebenso das „Mehr Demokratie wagen“, das in Wahrheit nur die Aufblähung des demokratisch, also staatlich kontrollierten öffentlichen Sektors bedeutet; zu hohen Kosten, die Gewerkschaften erkämpfen zweistellige Tarifzuwächse für die öffentlichen Angestellten. Brandt zeigt sich nachgiebig, wie er überhaupt gegen den linken Parteiflügel und die Jungsozialisten mit ihren Wortradikalismen wenig Durchsetzungsvermögen an den Tag legt. Es mag dies mit seiner eigenen Vergangenheit zusammenhängen, mit Angst vor einer Spaltung der politischen Linken, dem Urtrauma aus der Weimarer Zeit, auch mit der Erinnerung an die radikalen Träumereien, denen er selbst eine Weile anhing und die ihn der Jugend gegenüber nachsichtig machen. Zu einer Politik der harten Hand, wie sie in Zeiten der Ölkrisen nötig wäre, kann er sich nur mit Mühe durchringen. In den Managementaufgaben, die nun an der Tagesordnung sind, ist Helmut Schmidt, nach dem Abgang Karl Schillers der starke Mann der Regierung im Bereich von Wirtschaft und Finanzen, Brandt turmhoch überlegen.
Hinzu kommen persönliche Probleme. Brandt hatte sich immer schon als empfindlicher und verletzlicher gezeigt als andere Spitzenpolitiker, und hin und wieder zu depressiven Phasen geneigt, in denen er sich auf sich selbst zurückzog und für politische Arbeit nicht zu gebrauchen war; teilweise kompensierte er seinen Trübsinn mit Alkohol, was ihm den bösen Spitznamen Willy Weinbrand eintrug. Kombiniert mit den Folgen einer Halsoperation, nach der er sich das Rauchen abgewöhnen muss und unter Nikotinentzug leidet, fällt er für die Zeit der Koalitionsverhandlungen nach der Wahl 1972 fast komplett aus; Wehner und Schmidt bestimmen die Agenda weitgehend alleine.
Fraktionschef Herbert Wehner, der Brandt einst für die Bundespolitik entdeckte, rückt allmählich vom mehr und mehr führungsschwachen Bundeskanzler ab, bis hin zu öffentlichen Illoyalitäten. („Der Herr badet gern lau, so im einem Schaumbad“, äußert er despektierlich auf Auslandsreise in Moskau.) Brandt wehrt sich nur halbherzig und lässt seinen Machtverfall geschehen.
Die Affäre um den Agenten Guillaume, vom DDR-Geheimdienst in Brandts engstem Umfeld platziert, gibt schließlich nur den letzten Anstoß. Müde, verbraucht, in Furcht vor einer Treibjagd, gibt der Bundeskanzler auf, bevor ernstlich jemand von ihm den Rücktritt verlangt. Zum Machtkampf mit Wehner, zum Kampf überhaupt, hat er nicht mehr die Kraft.
Es ist nicht so, dass Brandt allgemein für die Politik ein zu weicher Charakter gewesen wäre; man übersteht nicht die Weimarer Kampfzeit und die Exilzeit, kämpft sich nicht in der Partei nach oben gegen zahlreiche Intrigen, überlebt nicht als Regierungschef in Berlin die harte Zeit vor und nach dem Mauerbau und bleibt nicht zweieinhalb Jahrzehnte Parteivorsitzender, wenn man nicht die nötige innere Härte besitzt.
Aber im Mai 1974 ist augenscheinlich die Last, die der Mensch Willy Brandt zu tragen hat, größer geworden als das, was er tragen kann.
Auf dem Weg zur deutschen Einheit
Sein Abgang ist freilich nur ein halber, denn Parteichef bleibt er, auf expliziten Wunsch des neuen Bundeskanzlers Schmidt. Als solchem kommt ihm nun die Aufgabe zu, der Regierung den Rücken freizuhalten, zum Teil, wie in der Nachrüstungsfrage, mit wenig innerer Überzeugung, aber loyal, solange es geht. Parallel treibt er ein wenig Privat-Außenpolitik, wird Präsident der Sozialistischen Internationale und Vorsitzender der Nord-Süd-Kommission, die sich mit der Frage der Entwicklungspolitik und des Ausgleichs zwischen den reichen und den armen Ländern befasst. Sein Renommee in der Welt ist nach wie vor enorm; er bleibt ein Staatsmann von Weltrang.
Daheim werden die Zeiten nach dem Verlust der Regierungsmacht unruhiger. Die Partei ist nach dem Seitenwechsel der Liberalen, wie schon während Brandts ersten beiden Kanzlerkandidaturen in den 1960ern, wieder ohne realistische Machtperspektive. Wie immer um die Einbindung der linken Splittergruppen bemüht, setzt sich Brandt recht früh für eine Entkrampfung des Verhältnisses zur neuen Gruppierung am Rand des Parteiensystems, den damals noch wilden, umwelt- und friedensbewegten Grünen ein. Freilich schwindet allmählich sein Einfluss. Als er sich 1987 in einer zweitrangigen Personalie nicht durchsetzen kann, gibt er den Parteivorsitz auf. Er bleibt aber bis zu seinem Tode der geistige Übervater der Sozialdemokraten.
Diese Stellung nutzt er, als im Herbst 1989 die Bürger in Ostdeutschland aufbegehren, die Mauer fällt, die Ostblockregierungen kollabieren und sich die Frage stellt, wie die Sozialdemokraten sich dazu positionieren sollen. Deren junge Generation, die im geteilten Deutschland aufgewachsen ist und zu ihrem Vaterland keine echte emotionale Bindung mehr hat, zeigt sich, wie auch der im Alter nicht weise gewordene Günter Grass und andere Intellektuelle, eher skeptisch und bedenkenträgerisch, unwillig, den Mantel der Geschichte zu ergreifen. Wie Brandt-Biograph Hans-Joachim Noack schreibt: „Dem Gros der sozialdemokratischen Spitzenfunktionäre und zumal den ‚Enkeln’ um den inzwischen zum Kanzlerkandidaten gekürten Oskar Lafontaine ist alles suspekt, was nach Einheit klingt, und sie geben das auch öffentlich klar zu verstehen.“
Brandt dagegen besucht früh die noch existierende DDR, wirbt später für die Annahme des Einigungsvertrages. Und er kämpft erfolgreich mit dafür, dass sein Berlin wieder Hauptstadt und Regierungssitz des vereinigten Deutschlands wird.
In seinen letzten Lebensjahren – er stirbt 1992 – zeigt er sich erneut als der aufgeklärte, realistische Patriot, der im Rahmen der gesteckten Möglichkeiten operiert. In den 1960er Jahren schon hatte er das Motto angenommen, dass heutzutage nur Realist sein könne, wer an Wunder glaube. Er hatte selbst den Glauben an das Wunder der Wiedervereinigung zeitweise fast aufgegeben. Da nun die Tür der Geschichte einen Spalt weit aufging und möglich wurde, was zuvor unmöglich erschien, griff er zu. Darin war er dem CDU-Bundeskanzler Kohl, mit dem er sich gut verstand, deutlich näher als den neuen Männern seiner eigenen Partei.
Schluss
Wie groß der Beitrag der Brandtschen Ostpolitik zum Wunder der Wiedervereinigung tatsächlich war, lässt sich nicht in Prozentwerten ausdrücken. Die Wiedervereinigung lag nicht allein in deutscher Hand, sie hing vom Einverständnis der alten Siegermächte ab. England und Frankreich bemühten sich eifrig, die Wiedervereinigung zu hintertreiben; trotz der Adenauerschen Westbindung. Die Sowjetunion ließ ihren DDR-Vasallen erst fallen, als sie selbst kurz vor dem Kollaps stand; trotz der Brandtschen Ostpolitik. So ist es in der Außenpolitik; Staaten haben keine Freunde, nur Interessen. Aber es kam eben auch auf das Maß des Widerstandes an, und keine Macht im Westen wie im Osten sah mehr eine deutsche Wiedervereinigung als so große Bedrohung an, dass man sie nicht gegen erhebliche Konzessionen hinzunehmen bereit war. Dies deshalb, weil man trotz allem ein gewisses Vertrauen in die bundesdeutsche Politik seit 1949 gewonnen hatte. Dieses Vertrauen erworben zu haben, bleibt ein Verdient, Adenauers für den Westen, Brandts für den Osten.
Gewiss: Dass die Einheit den Zusammenbruch des kommunistischen Systeme im Osten zur Voraussetzung hatte und dieser Zusammenbruch, soweit er von außen beeinflusst war, nicht nur durch Wandel durch Annäherung zustandekam, sondern auch durch die Politik der Stärke; und dass diese Gelegenheit ohne das beherzte Zupacken in den Jahren 1989/90 vielleicht verstrichen wäre: das gehört beides ebenso zur Wahrheit. Streiten wir uns nicht, wer sich mehr Lorbeeren erworben hat. Willy Brandt jedenfalls hat seinen Anteil an dieser Geschichte. In der besten Tradition der großen deutschen Außenpolitiker, der Bismarck, Rathenau, Stresemann, hat er in seiner Zeit das Mögliche getan; wie sie wissend, dass Deutschland als Macht der Mitte nur in der Verständigung mit seinen Nachbarn in Frieden und Sicherheit, in Freiheit und Einheit bestehen kann.
Natürlich, das ist nicht der ganze Brandt. Seine innenpolitische Bilanz ist durchwachsen; das war Bismarcks auch. Persönlich war er gelegentlich labil, nervös, kränklich; das war Bismarck auch. Ein genialer politischer Taktiker und Intrigant, ein Magier der Macht, wie der alte aus dem Sachsenwald, das war er nicht. Ein Gewaltmensch mit der oft nötigen politischen Brutalität auch nicht. Ein Charismatiker, ein visionärer Realist, das ja; kein Verwalter, kein souveräner Beherrscher des Apparats. Vielleicht war er kein großer Regierungschef, in der Gesamtschau.
Aber ein großer Patriot.
Zum Weiterlesen
Hans-Joachim Noack: Willy Brandt. Ein Leben, ein Jahrhundert. Rowohlt 2013, 352 S.
Egon Bahr: Das musst du erzählen. Erinnerungen an Willy Brandt. Propyläen 2013, 238 S.
...mehr Lesen in den akademischen Blättern oder ganze Ausgaben als PDF?
Jetzt hier kostenlos Anmelden