Schere im Kopf

Während Künstler und Journalisten für platte Beleidigungen noch Auszeichnungen erhalten, werden andere Außenseiter für weit weniger provokante Äußerungen politisch gesteinigt. Die Debattenkultur in Deutschland ist hochgradig schizophren.


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Man muss den unverhofft berühmt gewordenen Dänen Kurt Westergaard nicht mögen – Satire ist immer Geschmackssache –, und man mag es weder klug noch hilfreich finden, dass er in einigen seiner vielen Karikaturen die Muslime dieser Welt grob beleidigte. (Übrigens bei anderer Gelegenheit auch das Christentum oder die dänische Königin, nur das fiel nicht auf, weil niemand sich empörte.) Aber spätestens mit dem Anschlag auf sein Leben ist Westergaard zum Symbol geworden in der Auseinandersetzung zwischen den freien Staaten des Westens und fanatischen feindseligen Ideologien. Wer für die Äußerung seiner Meinung mit dem Tode bedroht wird – und sei die Meinung auch noch so abwegig –, der verdient sichtbare Solidarität, und insofern kann man den Mut der deutschen Bundeskanzlerin, als sie entschied, der Auszeichnung Westergaards beizuwohnen und sich mit ihm ablichten zu lassen, loben und sogar ein wenig bewundern. Denn eine Selbstverständlichkeit ist das durchaus nicht, wie etwa das Beispiel Salman Rushdies über Jahrzehnte hin gezeigt hat.

Meinungsfreiheit ist eins der höchsten Güter, das Demokratien anzubieten zu haben, und wenn es die Meinungsfreiheit zu verteidigen gilt, hat das für Demokraten immer einen pathetischen, heroischen Unterton. Verteidigen – das heißt, wenn nötig bis zum Schafott. Ganz nach Voltaires berühmtem Spruch: „Ich teile ihre Meinung nicht, aber ich werde bis zum letzten Atemzug kämpfen, damit sie ihre Meinung frei äußern dürfen.“ Wobei Meinung hier sehr weit gefasst wird und man zum Recht auf freie Meinungsäußerung mit leichter Hand noch ein „Recht zu beleidigen“ – und die Pflicht anderer, sich beleidigen zu lassen – hinzuzählt, das die Satiriker gerne in Anspruch nehmen und das insbesondere für die Religionsgemeinschaften mit ihren besonderen Empfindlichkeiten immer wieder eine harte Prüfung darstellt. Nun schön – darüber kann man sich gelegentlich ärgern als Moslem oder als konservativer Christ, aber man hat es hinzunehmen, denn so ist nun einmal die Werteordnung demokratisch verfasster Gesellschaften. Oder etwa nicht?

Offensichtlich nicht zur Gänze. Wer den Umgang mit Thilo Sarrazin und Erika Steinbach (und anderen vor ihnen) verfolgt hat, muss den Eindruck gewinnen, dass manche doch ein wenig gleicher sind als andere in Sachen Meinungsfreiheit. Eine unsichtbare Trennlinie scheint zu existieren zwischen den Guten, die provozieren und beleidigen, und denen, die nicht einmal vorsichtig Fakten feststellen dürfen. Letzteren wird unverhohlen das Schweigen nahegelegt. Merkwürdige Argumente werden dann ins Feld geführt, vor allem Meinungen danach qualifiziert, ob sie „hilfreich“ sind – für die Integration, für das eigene Ansehen in der Welt, die Beziehungen zu Polen und so weiter. Ginge es immer nach diesen Maßstäben, hätte man einen wie Westergaard am besten gleich nach Teheran ausgeliefert.

Neue Heiligtümer

Aber es ist ja alles anders, Sarrazin und Steinbach (und all die anderen Ausgestoßenen) haben ja „Grenzen verletzt“ und sich „außerhalb des demokratischen Konsenses“ gestellt, haben pauschalisiert und diffamiert und beleidigt oder jedenfalls so gesprochen, dass man sie so verstehen kann, wenn man unbedingt will. Westergaards harmlose Karikaturen haben das doch nicht.

Wirklich nicht? Westergaard hat den Propheten Mohammed gezeichnet, was an sich schon ein Sakrileg ist für eine Religion mit Bilderverbot, und er hat ihn noch dazu als Terroristen dargestellt. Für einen gläubigen Moslem ist das schlechterdings eine der übelsten Beleidigungen, die man sich vorstellen kann; deutlich schärfer, als für einen Berliner Türken die Behauptung sein kann, er habe einen niedrigen IQ geerbt, oder für einen Polen kleinliche Streitereien über Mobilisierungsdaten. Nur wer sehr befangen ist in der eigenen Wahrnehmung, in der die Verspottung religiöser Symbole tägliche Satirenormalität ist, kann das übersehen. Aber diese Wahrnehmung ist wiederum eine sehr folgenreiche Realität. Mohammed oder Jesus oder Buddha darf man jederzeit durch den Kakao ziehen. Diskussionen über erbliche Intelligenz oder Kriegsschuld sind dagegen tabu.

Tabu. Kennen wir das überhaupt noch? Angeblich sind doch alle Tabus abgeschafft. „Sex mit der eigenen Ehefrau“ sei das letzte Thema, über das man öffentlich nicht sprechen dürfe, witzelte Henryk M. Broder einmal. Das ist natürlich Unsinn. Diese Gesellschaft hat ganz viele Tabus, nur eben andere als früher. Was in Sachen Religion, Sexualität und Sitte nicht mehr heilig ist, ist anderen Heiligtümern gewichen. Dass alle Menschen gleich sind und gleiche Startchancen haben (sollten), ist so eine heilige Kuh; und dass Europa mit Ausnahme Nazideutschlands im 20. Jahrhundert nur aus unschuldig überfallenen Opferlämmern bestand, ist eine andere. „Du hast die deutsche Kriegsschuld relativiert“ klingt nicht zufällig ähnlich vernichtend wie das alte „Du hast Gott geleugnet“.

Dass die Welt aber sehr selten schwarz-weiß gefärbt ist, und dass man bei genauem Hinsehen durchaus zwei Meinungen haben kann über, sagen wir, die Zahl kinderloser Akademikerinnen oder die polnische Vorkriegspolitik, geht dabei leicht unter. Hier wird man sehr leicht (absichtlich) missverstanden, wenn man nicht hinter jeden abweichenden Satz zwei Absätze hängt, in denen wiederholt wird, was ohnehin jeder weiß – dass, Intelligenz hin oder her, Menschen nicht wertvoller sind als andere Menschen, dass Hitler den Krieg angefangen hat, und so weiter, sodass die Nuance, die man eigentlich zum Ausdruck bringen möchte, verschwindet. Deshalb, so der Common Sense, spricht man darüber lieber gleich gar nicht.

Wer gegen diese Regel verstößt, ist vogelfrei, dem darf man mit den tödlichsten Worten des Meinungsbetriebs über den Mund fahren – „menschenverachtend“, „Rassist“, „Revisionist“, „Revanchist“ –, den darf man bewusst missverstehen, verkürzend und verdrehend zitieren und dafür noch Applaus erwarten, dem darf man pauschal unterstellen, er mische sich ja nur aus Geltungssucht oder Geldgier in die Diskussion ein. Und trifft er oder sie auf ein wenig Zustimmung, kann man noch das Prädikat „populistisch“ dazusetzen und den Erfolg mit den allgemeinen Ressentiments und Verklemmungen des „Kleinbürgertums“ erklären. (Übrigens die einzige Gesellschaftsschicht, gegen die man ganz ohne Gefahr für den eigenen Ruf polemisieren kann: das ach so einfältige, spießige, xenophobe Kleinbürgertum.)

Selektive Meinungsfreiheit

Nun macht es aber durchaus noch einen Unterschied, wer man ist, wenn man dem Scharfrichter der veröffentlichten Meinung vorgeführt wird. Künstler, Journalisten, Karikaturisten lassen sich ungern mundtot machen und üben, recht weitgehend zumeist, eine mächtige Gruppensolidarität aus. Politiker nicht. Politiker haben ohnehin die anderen Parteien automatisch gegen sich, den Großteil des „kritischen“ Medienapparats mit dazu, und auch die eigenen Leute wenden sich sehr leicht ab, wenn sie ihre Felle davonschwimmen sehen. Deshalb dürfen die Provokateure unter den Journalisten beinahe alles, Politiker wenig; deshalb darf auch ein Henryk M. Broder, wenn er will, ohne öffentlich verdammt zu werden noch viel schärfere Thesen über Muslime von sich geben als ein Sarrazin (und nicht etwa, weil er Jude ist).

Natürlich, „als Bürger“ darf man seine Meinung frei äußern. Als Politiker oder Wirtschaftsvorstand aber nicht; dann verliert man seinen Job, wird öffentlich geächtet, aus Stiftungsräten, Parteigremien oder gar der Partei als ganzes geworfen, und Buchlesungen kann man nur unter Polizeischutz durchführen, wenn überhaupt. Aber sonst – sonst ist ja alles in Ordnung.

Wer etwas zu verlieren hat, schweigt darum besser. „Ich denke, was ich will, und was mich beglücket / doch alles in der Still, und wie es sich schicket“ – das ist nicht Ausdruck von Meinungsfreiheit, sondern reinster Biedermeier, Rückzug ins Private, Kapitulation vor der Repression; nur eben diesmal nicht eines reaktionären Staates mit seinen Zensurbehörden, sondern den selbstregulierenden Kräften des medialen Meinungsmarktes. „Die Gedanken sind frei“ nutzt nur wenig, wenn man die Gedanken nicht aussprechen darf, ohne Repressalien befürchten zu müssen.

Dass Politiker nicht einfach Privatpersonen sind, dass sie auch an die Staatsräson gebunden und damit aufgerufen sind, verantwortlich zu handeln, im Sinne des Ganzen, kann man nur eingeschränkt gelten lassen. Gewiss: Es gibt mehr oder weniger überparteiliche Positionen. Staatsoberhäupter, Parlamentspräsidenten, Außenminister; Verteidigungspolitiker vielleicht noch in Kriegszeiten, aber damit endet die Liste auch beinahe schon. Bundesbankvorstände sind keine Botschafter, wer einem Menschenrechtssausschuss vorsteht, übernimmt keine präsidiale Funktion, in der man nicht auch provozieren darf. Umgekehrt ist auch die Position eines Journalisten, herausgehoben und rechtlich privilegiert, nicht ganz ohne Verantwortung.

Kurzum: Es läuft etwas verkehrt. Und es besteht vorerst wenig Aussicht, dass sich etwas ändert. Auch Sarrazin und Steinbach hat die Meute zur Strecke gebracht; halb zog man sie, halb sanken sie hin. Erst wenn einer aufsteht und den harten, auch juristischen Weg bis zum Ende geht und kämpft für sein Recht, besteht eine Chance, die Schere im Kopf zu überwinden; zwischen angeblich falschen und richtigen Tabus, und zwischen guten und bösen Meinungsträgern. Warten wir also auf die nächste Treibjagd.


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