Schwäbischer Schöngeist

Der unglückliche Rücktritt Horst Köhlers, der tiefe Fall des Bundespräsidenten Christian Wulff und die präsidiale Kanzlerschaft Angela Merkels sind Gegenstand andauernder Kontroversen um das Bundespräsidentenamt. Trotz aller Debatten scheint es einen Grundkonsens darüber zu geben, wie dieses höchste deutsche Staatsamt auszufüllen ist. Maßgeblich geprägt wurde es vom ersten Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Theodor Heuss, dessen 50. Todestag wir am 12. Dezember 2013 begehen.


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Peter Merseburger zeigt uns in seiner Biographie nicht nur den bürgerlich-schwäbischen Landesvater, er dokumentiert auch ein Stück Zeitgeschichte vom Kaiserreich zur BRD.

Es ist die Differenziertheit der Betrachtung, die der Ambivalenz des Charakters Heuss’ Rechnung trägt. Es ist das Gespür Merseburgers für die Einordnung von Taten und Worten in den historischen Kontext, die einer Verklärung Heuss’ zum bürgerlichen Landesvater mit schwäbischem Humor und idyllischem Politikverständnis entgegenwirkt. Es sind die weiten Teile der Biographie, die der Autor der Zeit vor der Präsidentschaft widmet, die die Amtsführung Heuss’ und dessen Wirken im Amt als logische Konsequenz seines Werdegangs erscheinen lassen. Nur so versteht der Leser, weshalb Heuss trotz seines „Ja“ zum Ermächtigungsgesetz Hitlers zum Erzieher der Deutschen zur Demokratie und einem der Väter des Grundgesetzes werden konnte.

Theodor Heuss als junger Mann

Theodor Heuss kam 1884 im württembergischen Brackenheim als Sohn eines Regierungsbaumeisters zur Welt. Als gediegen und gutbürgerlich wird das Milieu geschildert, in dem er aufwächst. Sein Werdegang führt ihn zum Studium der Nationalökonomie, Literatur, Geschichte, Philosophie, Kunstgeschichte und Staatswissenschaften nach München und Berlin. Merseburger schafft gleich zu Anfang des Buches die Anknüpfungspunkte zu den Personen, die Heuss prägen und im späteren Werdegang immer wieder begegnen und begleiten werden. Sein „politischer Ziehvater“ Friedrich Naumann eröffnet Heuss zahlreiche Kontakte im Netzwerk der Nationalsozialen und Linksliberalen, die er noch als Bundespräsident pflegen wird und die ihm insbesondere in der Zeit des Nationalsozialismus mehrfach zur Seite stehen werden. Der wichtigste Beistand im Leben des Theodor Heuss war seine Frau, die Elsässerin „Elly“ Heuss-Knapp. Den Doppelnamen interpretiert der Autor als Symbol für eine moderne, gutbürgerliche Ehe, eine Ehe auf intellektueller Augenhöhe, dem Zeitgeist weit voraus.

Merseburger zeichnet einen jungen Heuss, dessen Charakterzüge früh gefestigt sind, wie sich an dessen Einstellung zum wilhelminischen Kaiserreich zeigt: Auch wenn Heuss den bürgerlichen Militarismus der damaligen Zeit kritisiert, sieht er nicht nur den Untertan, sondern auch den preußischen Rechtsstaat, der ein hohes Maß an persönlicher Freiheit garantiert. Den Ersten Weltkrieg erlebt Heuss als Chefredakteur der Neckar-Zeitung. Der Biograph zeigt uns die verschiedenen Gesichter des Theodor Heuss: Einerseits der durch und durch nationale, „vaterländische“ Staatsbürger, andererseits der liberale Humanist, der sich gegen religiöse und rassische Diskriminierungen und gegen nationalistische Tendenzen in der Kunst wendet.

Der Politiker Heuss

Die Weimarer Republik erlebt Heuss ab 1924 im Reichstag, jedoch wird er in der Weimarer Republik stets Hinterbänkler bleiben. Merseburger führt dies auf seinen Hang zu differenzierter Betrachtung, zu wohlüberlegter Wortwahl und auf seine mangelnde Bereitschaft, den Journalismus zugunsten der Politik aufzugeben, zurück. Wenn Heuss bereits 1919 Volksbegehren und Volksentscheide als „institutionelle Verführung zur brutalen Demagogie“ bezeichnet, interpretiert der Biograph dies als eine Geisteshaltung, die Heuss später die Feder bei der Verfassung des Grundgesetzes leiten wird.

Früh erkennt Heuss die Gefahr des Nationalsozialismus. Sein Buch über „Hitlers Weg“ wird zu einem Standardwerk, das versucht, dem Wahnsinn des Führers mit Vernunft beizukommen. Umso mehr Verwunderung möchte man über sein Ja zum Ermächtigungsgesetz ausdrücken. Während er in den fraktionsinternen Beratungen noch ein klares Nein fordert, stimmt er dennoch „im Interesse von Volk und Vaterland“ für das Ermächtigungsgesetz. Da er keine Fraktionsmehrheit finden kann, unterwirft er sich als loyaler Diener seiner Partei dem Fraktionszwang. Gerade an dieser Stelle wird Merseburgers biographisches Fingerspitzengefühl deutlich. Ganz offensichtlich gibt es eine Kluft zwischen Heuss’ Autobiographie „Erinnerungen“ und dem Urteil der Historiker: Während Heuss sein Ja verharmlost, indem er behauptet, dass die Stimmen der kleinen Deutschen Staatspartei für „den praktischen Weitergang der nationalsozialistischen Politik keinerlei Bedeutung habe“, sehen viele Historiker darin die Legitimierung der Nationalsozialisten durch einen Schein der Rechtmäßigkeit. Aus heutiger Sicht fällt ein hartes Urteil schnell, doch Merseburger arbeitet das entscheidende Motiv der Staatsparteiler heraus, das ihm zufolge den Ausschlag gegeben hat: Sie wollten die Ordnung, die Wirtschaft und den Wiederaufbau nicht gefährden und waren überzeugt, im Sinne der Staatsraison zu handeln: Der ranghöchste Wert war eben die „Nation“. Noch bis zu seinem Tode wird Heuss seine Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz in den Kontext der Zeit stellen und darauf beharren, dass das Ja bedeutungslos für den weiteren Verlauf gewesen sei.

Nach der Machtergreifung verbrachte Heuss zwölf Jahre in der inneren Emigration. Merseburger erklärt Heuss’ Passivität in dieser Zeit damit, dass er für die Aufgabe des Helden mit seiner sachlich-abwägenden Natur nicht gemacht war. Das Ja zum Ermächtigungsgesetz, wie auch die relative Bedeutungslosigkeit seiner Deutschen Staatspartei, die von den Nationalsozialisten nicht als ernstzunehmender Gegner empfunden wurde, ermöglichte es ihm, weiterhin publizistisch tätig zu sein, auch wenn kritischer Journalismus nicht möglich war und er sich darauf beschränkte, „Positives positiv zu bewerten“.

Der Präsident Heuss

Gerade dass Heuss der natürliche Machtinstinkt fehlte, er einen ausgeprägten Sinn für Maß und Besonnenheit hatte, befähigte ihn dem Biographen nach nicht nur dazu, die zersplitterten Liberalen zu einigen, sondern auch als Präsident das Volk mit der Demokratie zu versöhnen. Vor allem die Briefe an seine Freundin Toni Stolper sind es, die Merseburger häufig aufgreift. So geht aus einem dieser privaten Briefwechsel hervor, dass Heuss die Präsidentschaft nur übernahm, da er sich vom Schicksal gezwungen fühlte, „den Namen des deutschen Volkes wieder zu reinigen, da ein anderer fehlt“.

Und gerade da er im Volke stand, den Alltag des Dritten Reiches erlebte, konnte er dies ohne den „Gestus des moralisch Überlegenen“ tun, so der Autor. Wenn Heuss das Amtsverständnis entsprechend seinen Fähigkeiten und Talenten prägte, legt der Biograph großen Wert darauf, dies im Kontrast zum Kanzler Adenauer darzustellen. Während Adenauer als Mann der Tat die „potestas“ besaß, verschaffte sich Heuss durch die Macht des Wortes die „auctoritas“. Diese von Heuss geprägte Vater-Imago sei die Grundlage für die Erwartungshaltung, die noch heute an jeden Präsidenten gestellt werde. So ist das Amtsverständnis aus dem Dualismus zwischen dem konservativen Liberalen Heuss und dem liberalen Konservativen Adenauer hervorgegangen, den Merseburger lebhaft wiedergibt. Dabei verfällt der Biograph nicht der unreflektierten Schwärmerei, sondern porträtiert den Präsidenten mit all seinen Ambivalenzen: So setzt sich der geschichtsbedachte Heuss gegen Umbenennungen von Straßen und Plätzen ein, die an Bismarck, Moltke, Radetzky oder andere Deutsche vor der NS-Zeit erinnern, um die Anknüpfung an die Kulturnation Deutschland nach der kulturellen Barbarei der Nationalsozialisten wiederherzustellen. Andererseits versucht er – aus Ablehnung des Lieds der Deutschen als Nationalhymne – dem Volk eine neue Hymne zu dichten. Gerade sein Sinn für historische Kontinuität hätte ihm das Scheitern eigentlich vor Augen führen müssen, so das Fazit des Biographen. Als Heuss’ wohl größtes Verdienst versteht Merseburger den Kampf gegen das Vergessen, der in dem Begriff der „Kollektivscham“ seinen Ausdruck fand, als Kontrast zum Begriff der Kollektivschuld.

Heuss schied schließlich auf der Höhe seiner Popularität mit Würde aus dem Amt. Heuss hat dies seinerzeit mit den Worten kommentiert: „Jetzt ganget no hoim zu eure Kender ond lasset mir mei Ruh!“

Die Lektüre des Buches verschafft dem Leser nicht nur einen Einblick in ein bedeutsames Stück Zeitgeschichte. Der Biograph Peter Merseburger adaptiert selbst fast Heuss’sche Züge, wenn er dessen Entscheidungen und Überlegungen stets in eine logische Kontinuität der Ereignisse einzuordnen weiß. Die Vielzahl an schriftlichen Überlieferungen und Zitaten aus privater Post von und über Heuss zeichnen ein authentisches Bild, das die Schlussfolgerungen und Interpretationen Merseburgers bekräftigen. Vor allem in der Herausarbeitung der kleinen Widersprüche und Details zeigt sich die biographische Kunst Merseburgers, der dem Portrait Heuss’ eine lebendige Authentizität verleiht: So wird aus Heuss’ Erinnerungen zitiert, wie Naumann einst bei Stellenbesetzungen „besonderen Wert auf die persönliche Integrität“ der Bewerber gelegt habe. Merseburger dechiffriert diese euphemistische Beschreibung in Heuss’ Autobiographie süffisant als schonungslose Vergabe von Pöstchen nach Parteibuch.

„Politischer Alkoholismus“ – ohne ihn

Diese Biographie ist mehr als eine Nacherzählung eines Lebensweges, es ist vielmehr ein zeitgeschichtliches Dokument, das für den geschichtsinteressierten (und korporierten) Leser zahlreiche Anknüpfungspunkte bietet. Da wäre der VDSter Friedrich Naumann zu nennen, der Heuss als Ziehvater diente, wie auch der VDSter und Bischof von Berlin-Brandenburg, Otto Dibelius. Heuss nahm eine distanziert-kritische Haltung gegenüber den Alldeutschen ein, in deren Reihen sich zahlreiche VDSter befanden und denen Heuss „politischen Alkoholismus“ unterstellte. Und vor allem der spezifische Heuss’sche Patriotismus ist hier zu nennen; dieser freiheitsliebende Patriotismus, gepaart mit umfangreicher historischer Kenntnis, und einer Liebe zur Kulturnation Deutschland: Alkoholgeschwängerte Reden über ein vage definiertes Deutschtum waren ihm fremd. Er lebte es.

 

Zum Buch

Peter Merseburger: Theodor Heuss – Der Bürger als Präsident, Deutsche Verlagsanstalt, München 2012, 671 S., 19,99 Euro, ISBN 9783421044815.


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