Staat und Partei

Wie um jede Landtagswahl herum rätseln die politischen Interpreten über das Phänomen der bayerischen CSU, jenes Kuriosums des deutschen Parteienwesens. Dabei ist die Antwort simpel: Bayern ist einfach kein Land wie jedes andere.


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Zu Edmund Stoibers besten Zeiten hatte die Partei einen Leitspruch: Bayern, seine Menschen und die CSU. Drei Dinge, die Grunde zusammengehören, die im Bewusstsein der Menschen nebeneinander wohnen sollten. Das naheliegende Gleichnis von der heiligen Dreifaltigkeit, drei Körper, aber ein Geist, gebrauchte Stoiber nicht, es hätte wohl blasphemisch geklungen, aber wer wollte, konnte es mitdenken. Dass die CSU enger mit Bayern verbunden sei als die Landesverbände anderer Parteien mit deren Land, dass Staat und Partei hier gleichsam eins seien, positiv gedeutet: dass die Partei sich mehr mit dem Staat identifiziere als andere, negativ gedeutet: dass sie glaube, den Staat zu besitzen, das schien allen offenkundig, Anhängern wie Gegnern, und empirische Beispiele für beides schien es hinreichend zu geben.

Davon spürt man mittlerweile weniger. 60%-Ergebnisse sind lange Geschichte, die Partei ist bescheidener geworden, verweist nur noch auf Bayern als Musterbeispiel, „Das Land“, und wirbt mehr mit Wirtschaftskennzahlen als mit dem Appell an mystisch angehauchte Einheitsgefühle. Heribert Prantl würdigte den mittlerweile emeritierten Landesvater Stoiber zum siebzigsten Geburtstag sehr hintersinnig durch einen Vergleich mit dem Prinzregenten Luitpold, keinem großen Gestalter, wie der Journalist schrieb, aber einem großen Verwalter zum Ausklang der bayerischen Monarchie, die bekanntlich nur sechs Jahre nach dem Tode des Regenten unterging. Steht die Götterdämmerung also bevor?

Man liest gelegentlich in den Journalen, die CSU verdanke ihre Sonderrolle nur der Tatsache ihrer scheinbar ewig währenden, nun schon über fünfzig Jahre dauernden Herrschaft, die meiste Zeit mit absoluten Mehrheiten. Und verliere sie diese Herrschaft und müsse sie einmal in die Opposition, sei ihr Nimbus verloren und sie de facto nurmehr ein sechzehnter Landesverband der CDU unter anderen Namen.

Das gehört zu der Art Thesen, die der eine vom anderen abschreibt, ohne sie zu prüfen. In Wirklichkeit ist sie Unsinn. Nicht wegen ständiger Wahlerfolge hat die CSU eine Sonderrolle im deutschen Parteiengefüge, sondern weil sie, im Gegensatz zu allen anderen großen Parteien, eine rein bayerische Partei ist und Bayern wert darauf legt, sich im bundesdeutschen Föderalismus seine Autonomie zu bewahren. Schlechte Wahlergebnisse und sozialdemokratische Landesregierungen hat die CSU in den ersten zwei Jahrzehnten ihres Bestehens überlebt. Ein Verschwinden des bayerischen Sonderbewusstseins würde sie nicht überleben.

Bayern ist kein Land wie jedes andere. Die meisten deutschen Bundesländer sind Kunststaaten, nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Siegermächte gegründet, Bindestrich-Länder mit wenig Tradition. Bayern dagegen besteht territorial nur wenig verändert seit der napoleonischen Zeit, und die staatliche Tradition des vorherigen Kern-Bayern reicht noch viele Jahrhunderte weiter zurück. Bayerische Herzöge ritten schon mit dem Kaiser Barbarossa in den Krieg. „Eingedenk seiner mehr als tausendjährigen Geschichte“, diesen historischen Anspruch formuliert das bayerische Volk in der Präambel seiner Verfassung. Die den Anspruch hat, mehr zu sein als nur das Organisationsstatut der Provinz eines Einheitsstaates. Ausgearbeitet wurde sie 1946 übrigens unter Federführung des bayerischen Sozialdemokraten Wilhelm Hoegner.

Bei der Integration in den deutschen Nationalstaat legten die Bayern immer schon eine gewisse Bockigkeit an den Tag. 1871 erbat sich König Ludwig bei Bismarcks Reichsgründung erhebliche Sonderrechte aus; im deutschen Kaiserreich verfügte Bayern über eine eigene Post, eigene diplomatische Vertretungen im Ausland, in Friedenszeiten ein eigenes Militär. Bei der nächsten Staatsgründung, 1949, lehnte Bayern das Grundgesetz demonstrativ ab, weil der Verfassungsentwurf seinen Volksvertretern zu zentralistisch erschien. Nun, bekanntlich brüllt der bayerische Löwe viel mehr, als er beißt. Von seinen Reservatrechten im Kaiserreich machte Bayern einst wenig wirksamen Gebrauch, die Gültigkeit des Grundgesetzes auch für Bayern wurde 1949 eilends anerkannt. Aber auf seine Eigenständigkeit, sei es auch eine mehr gefühlte als reale, legt der Bayer wert; weil und so lange sie diese Eigenständigkeit repräsentiert, ist die CSU erfolgreich.

Ihre reale Politik spielt eine viel geringere Rolle, und eine durchaus zwiespältige. Nicht wegen einiger Skandälchen, die sie immer mal wieder hervorbringt, sondern weil die Modernisierung Bayerns ihre strukturellen Voraussetzungen verschlechtert. Unter der Herrschaft der CSU ist Bayern viel wohlhabender, wirtschaftlich erfolgreicher geworden, als es vorher war, mit moderner Infrastruktur, erstklassigen Schulen und Hochschulen, aber je weiter dieser Prozess fortschreitet, desto mehr erodiert auch die gesellschaftliche Basis der Partei. Das Land wird städtischer, individueller, bunter; die Säkularisierung schreitet voran, die Kirchen verlieren ihre Bindekraft; Milieus, soziale Strukturen, Vereine werden schwächer, mit ihnen die Heimatverbundenheit, mit ihnen auch, schleichend, der bayerische Patriotismus; Werte und Normen der Gesellschaft verschieben sich, schneller als die programmatisch durchaus flexible, im Geist aber ländlich-konservative oder bürgerlich-konservative Partei folgen kann.

In ihren politisch großen Zeiten, unter Goppel und Strauß, regierte die CSU ein Land, das absolut und verglichen mit dem Rest Deutschlands deutlich schlechter dastand als heute, aber ihre Zustimmungsraten waren höher; bezieht man die Wahlbeteiligung mit ein, rechnet also die absolute Zahl der Stimmen, verhalten sich wirtschaftliche Prosperität und CSU-Wahlanteil beinahe umgekehrt proportional; auch 2003 war, wenn man so rechnet, nur eine letzte Scheinblüte durch Stoiber-Effekt und daheim gebliebene Oppositionsanhänger.

Immerhin schreitet dieser gesellschaftliche Erosionsprozess in Bayern aber vergleichsweise langsam voran, und noch gelingt es der CSU, Tradition und Fortschritt leidlich zu verbinden und einem genügend großen Teil der Bayern alternativlos zu erscheinen, um ihre Regierungsmacht zu verteidigen. Es ist nicht mehr so stark wie früher, aber mancherorts ist es eben noch stark, das Gefühl, dass Berge, Wiesen, Flüsse und Seen Bayerns irgendwo eins sind mit der regierenden Partei. Wie Gerhard Polt, Bayerns institutionalisierte geistige Opposition, in Persiflage einmal einen von der Landespolitik enttäuschten Almbauern sagen lässt: „Das geht doch nicht mehr so weiter. Da muss sich doch etwas ändern, und zwar revolutionär. Da muss direkt eine Revolution her. Und das ist der Grund, und darum wähle ich auch diesmal CSU.“


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