Tapferster der Tapferen

Vor zweihundert Jahren erschossen sie Napoleons gerühmten Marschall, beim Luxemburg-Palais, Paris. Anders als sein Herr galt er nicht als Genie mit großem politisch-strategischem Weitblick; dafür als Krieger mit Mut für Hundert. Ein Heerführer wie aus alter Zeit, der nicht von der Ferne des Feldherrnhügels aus befehligte, sondern selbst sich ins Schlachtgetümmel warf. Über Leben und Sterben des Michel Ney.


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Michel Ney, Marshall of the French Empire

 

Die Szene ist gespenstisch. Einst waren um den Heilig-Johann-Berg blühende Wiesen. Nun ein Gemisch von Schlamm, Blut und Tod. Der Boden ist zerwühlt von Granateinschlägen, Stiefeltritten, Pferdehufen. Gefallene liegen überall und Verwundete, Mensch wie Tier. Ihr Klagen mischt sich mit dem Schlachtenlärm, der von der Ebene hinter der Höhe herüberdringt. Ihr Blut mit der Feuchte, die vom Vortag noch in der Erde steht.

Verlassene Geschütze stehen da. Die englischen Kanoniere haben sich zurückgezogen in die Karrees, von den Schützenbataillonen gebildet. Gegen sie, das Zentrum der zähen britischen Abwehr, stürmt die französische Reiterei, Kürassiere, Dragoner, Ulanen. Wieder und wieder mit Trompetenschall und Vive-l’Empereur-Rufen, und wieder und wieder. Welle um Welle, wie Wasser auf Fels.

Einsam stürmt ihr Befehlshaber. Zu Fuß, mit gezogenem Säbel. Das vierte Pferd hat man ihm gerade unter dem Leib erschossen. Eine Gestalt, nur noch halb von dieser Erde. Braunrot das Haar, vom Feuer versengt. Blutrot die Augen. Schwarz vom Pulverdampf das Gesicht. Zerrissen die adrette Marschallsuniform. Sein Mund gibt keine Befehle mehr von sich, nur noch wildes Kriegsgeschrei. Wo kein Feind greifbar ist, an dem er seine Wut auslassen kann, stürzt er sich auf eine der verwaisten Kanonen. Schlägt auf sie ein, Eisen auf Eisen, schlägt und schreit, und schlägt und schreit.

Keine ordnende Vernunft ist da mehr in diesem Mann und kein taktisches Kalkül. Nur noch Blutrausch. Nur noch Vernichtungswille. Brechen muss man den Feind. Brechen mit aller Gewalt. Ehe die Preußen herankommen, die in der Ferne schon gesichtet wurden. Ehe die Schlacht verloren ist, und mit ihr der Kaiser, und mit ihr Frankreich. – Dann, schließlich, hat er sich verausgabt am Kanonenrohr. Der Blick hebt sich, nach vorn auf die feindlichen, zurück auf die eigenen Stellungen. Durchatmen. Übersicht gewinnen. Ordnung wiederherstellen. Linie bilden. Marschall Ney befiehlt den nächsten Sturm.

Der grösste Waghals der Armee

Michel_Ney_(1792)Ein so gewalttätiges Leben war dem jungen Michel des schicksalhaften Jahrgangs 1769 nicht unbedingt in die Wiege gelegt. Zwar, auch der Vater hatte seine Portion abbekommen und als Unteroffizier gedient im Siebenjährigen Krieg. Aber dann alsbald die Uniform gegen den Arbeitskittel eingetauscht und sein Handwerk wieder aufgenommen, als Böttcher in der Festungsstadt Saarlouis, damals Französisch-Lothringen. Und fröhliche Heldengeschichten waren es gewiss nicht, die er den Söhnen an dunklen Winterabenden vom Krieg erzählte.

Für sie hat er ein besseres Leben im Sinn. Sie sollen es einmal weiter bringen als er, der durchaus schon angesehene Küfermeister und Zunftvorsteher. Ambitioniert in der Ständegesellschaft des Ancien Régime. Bildung ist der Weg, wenn überhaupt einer. Michel wird auf das angesehene Augustiner-Kolleg geschickt und beginnt als Kanzleigehilfe in einem Notariat. Weiteres mochte sich finden, vielleicht ein Studium der Rechte, vielleicht eine Laufbahn bei Gericht oder in der Verwaltung. Mit mehr Perspektive jedenfalls als beim Militär, wo man ohne noble Abkunft schwerlich über den Korporal hinauskommen konnte.

Dennoch legt der junge Mann bald den Waffenrock an. Schwer ins letzte zu ergründen, warum. Abenteuerlust mag dabei gewesen sein, Gefallen an der Ästhetik der Uniformen und Paraden. Die drückende Langeweile vielleicht der Verwaltungstätigkeiten in wechselnden Bergwerken und Gewerben; obwohl er am Schreiben durchaus Vergnügen fand, wie später seine Briefe und Berichte aus dem Feld beweisen. Vielleicht zuletzt auch die Ahnung, dass sich bald etwas ändern könnte. So macht er sich auf den langen Fußmarsch zur Kaserne in Metz. Dezember 1788.

Die Revolution kehrt an vielen Stellen das unterste zuoberst, aber nirgends wie im Militär. Das alte, adelige Offizierskorps emigriert zum großen Teil; Leistung und Wahl durch die Mannschaften werden zu Kriterien der Offizierskarriere statt Herkunft und Beziehungen. Und die Republik, bald ständig im Krieg mit den alten Monarchien Europas, hat großen Bedarf an tüchtigen Offizieren. Ney bewährt sich und steigt in jungen Jahren sehr schnell auf; wird zum Kapitän gewählt, zum Stabsoffizier ernannt, später Brigadegeneral.

In den Anfangsjahren erwirbt er sich bereits den Ruf, der ihn sein weiteres Leben begleiten wird. Den großen Wagemutes vor allem, militärisch-taktisch wie persönlich. Oft greift er mit schwachen Einheiten überlegene Gegner an und überwindet sie durch Überraschung und List. In den Kämpfen am Rhein macht er als Städteeroberer von sich reden, stürmt mit kleinen Vorauskommandos los, findet Lücken in der Befestigung oder täuscht schlicht den Verteidigern vor, er habe ein großes Heer mit Belagerungsgeschützen hinter sich, und überredet sie zur eiligen Kapitulation. Immer wieder stürzt er sich selbst ins Kampfgetümmel. Und ist, so weit die Umstände es zulassen, fürsorglich zu seinen Soldaten, deren Anliegen er aus eigener Anschauung versteht. Das macht ihn populär in der Truppe.

Bei den Offizierskollegen und Vorgesetzten ist er nicht immer so beliebt. Schon als junger Rekrut ist er ein Heißsporn gewesen und hat sich gerne duelliert. Das aufbrausende Wesen hat sich erhalten, Streitlust und oft mangelnde Bereitschaft, sich unterzuordnen. Viele seiner riskanten Streifzüge unternimmt Ney eigenmächtig; später, in Spanien, wird man ihn gar einmal wegen grober Befehlsverweigerung als Korpsgeneral absetzen.

Freilich relativiert die Revolution ohnehin viele Loyalitäten. Keiner in Frankreich, außer den Exilanten, dient in diesen Jahren nicht wechselnden Herren. König, Nationalversammlung, Wohlfahrtsausschuss, Direktorium, Konsulat, Kaiser. Nichts mehr von alter Lehnstreue; ohne mehrfachen Verrat überlebt man nicht. Das Heer ist weniger loyal zu den wechselnden Regierungen als zur Nation an sich und zur Sache der Republik. So dient auch Ney im eigenen Bewusstsein vor allem Frankreich. Nicht dem Kaiser-General. Das wird noch eine Rolle spielen.

Marschall von Frankreich

Meynier_-_Le_Maréchal_Ney_remet_aux_soldats_du_76e_régiment_de_ligne,_leurs_drapeaux_retrouvésMit dem Kaiser, vielmehr damals noch Erstem Konsul, kommt Ney relativ spät in Kontakt. Das hat rein geographische Gründe. Ney kämpft am Rhein, nahe der Heimat, wo sich seine Zweisprachigkeit als Saarländer schnell nützlich zeigt; Bonaparte in Italien, später in Ägypten. Erst 1801 lernt man sich kennen. Napoleon, auf dem Weg zum Alleinherrscher, hat Interesse, den beliebten General an sich zu binden. Ney ist vom strategischen Genie des Korsen beeindruckt und sieht Macht und Ruhm Frankreichs mit ihm wachsen.

Joséphine Bonaparte, ihrem Mann durch geschickte Ehestiftungen oft machtpolitisch dienlich, widmet Ney ebenfalls ihre Aufmerksamkeit. Der ist noch unverheiratet, aber als wohldotierter General mittlerweile gut in der Lage, eine Familie zu ernähren und auch in höhere Schichten einzuheiraten. Über Joséphine lernt er Eglé Auguié kennen, Tochter eines früheren königlichen Steuereintreibers und Schlossbesitzers. Sie zählt zwanzig Jahre, er nun dreiunddreißig; aber der Altersunterschied ist damals nicht ungewöhnlich. Nach kurzem Werben findet man zueinander. Die Ehe bringt bis 1815 vier Kinder hervor und ist so glücklich, wie sie unter den Umständen sein kann.

Denn die meiste Zeit ist Ney fern der Heimat eingesetzt. Bonaparte findet verschiedenste Verwendungen für ihn, der sich bald Maréchal d’Empire nennen darf. Inspekteur der Kavallerie, bewaffneter Vermittler im drohenden eidgenössischen Bürgerkrieg, Korpskommandeur bei der geplanten Landung in England wie in den folgenden Feldzügen, Süddeutschland, Österreich, Preußen, Spanien, Russland. Europa kommt nicht zur Ruhe in diesen Jahren. So auch Ney nicht.

Bonaparte, nunmehr Napoleon I., Kaiser der Franzosen im Namen der Republik, schätzt Ney und vertraut ihm immer wieder wichtige Kommandos an. Der trägt seinen Teil bei zu den legendären Siegen, mit mutigem Voranstürmen zumeist, 1805 bei Ulm, wo er Macks Österreicher zur schnellen Kapitulation zwingt, 1807 bei Friedland, wo er Russen und Preußen den entscheidenden Stoß versetzt. Napoleon hatte eben stets ein scharfes Auge für Talente. Freilich auch für Schwächen.

Die liegen bei Ney im strategischen Bereich. Ein ausgebildeter Militärtheoretiker ist er nicht, vor allem aber charakterlich nicht der Typ des über dem Geschehen schwebenden, überlegten Feldherrn. Er ist gern mitten im Gefecht, braucht eine klare Richtung, Angriff oder Rückzug. Dann vollbringt er als Truppenführer Außergewöhnliches. Ist die Lage unklar, militärisch oder politisch, wird er unsicher und macht Fehler, zögert und zaudert gar manchmal oder verfällt umgekehrt in Aktionismus. Dass er an Napoleons Feldherrngenie nicht heranreicht, wie auch sonst keiner, ist gewiss kein Vorwurf; dass jeder Tambourjunge mehr strategischen Verstand besäße, wie der Kaiser in einem Moment des Zorns einmal ausrief, böse und ungerecht. Aber wahr ist wohl, dass Ney zu jenem Typ von Heerführer zählte, dem Wille über Strategie ging. Ein Typ wie Blücher. Oder Patton.

Fürst von der Moskwa

Louvre-peinture-francaise-Ney-a-Kowno-p1020309Den Gipfel seines militärischen Ruhms erklimmt Ney in dem Moment, in dem Napoleons Stern zu sinken beginnt, in Russland, 1812. In der Grande Armée befehligt er ein Armeekorps von anfangs fast vierzigtausend Mann, ein Drittel davon Württemberger. Bis es zur Schlacht mit den zurückweichenden Russen kommt, bei Borodino, ist die Streitmacht durch lange Märsche, schlechte Versorgung und Krankheiten schon stark dezimiert und die zahlenmäßige Überlegenheit dahin. In den furchtbar blutigen Kämpfen gibt allein Neys Wille beim Sturm auf Bagrations Schanzen im russischen Zentrum den Ausschlag. Später trägt ihm das, nach dem Herzog von Elchingen, einen weiteren Titel im neuen napoleonischen Adel ein: Prince de la Moskowa. Aber glücklich macht ihn das nicht mehr.

Ney hat schon länger am politischen Kurs des Kaisers zu zweifeln begonnen. Den Sinn der immer neuen Feldzüge, die fixe Idee, ganz Europa unter die Kontinentalsperre gegen England zu zwingen, durchdringt er nicht. Die Chance auf einen entscheidenden Sieg in der scheinbar endlosen Weite des russischen Raumes stuft er gering ein. Schon in Witebsk hat er sich gegen den weiteren Vormarsch ausgesprochen. Nun verharrt Napoleon mit seinen Truppen im evakuierten Moskau, auf ein Friedensangebot des Zaren wartend. Das kommt nicht. Viel zu spät und in den russischen Winter hinein beginnt er den Rückzug.

Der wird zum vollständigen Desaster, und ob ohne Ney überhaupt Bruchstücke der einstigen Großen Armee über die Memel zurückgekehrt wären, darf man bezweifeln. Er bildet über fünf Wochen die Nachhut, während die Armee allmählich auseinanderfällt, körperlich und geistig. Hunger und Frost bis zwanzig Grad unter Null greifen die unzureichend ausgestattete Truppe an, die sich nur noch wie betäubt weiterschleppt. Kameradschaft weicht dem brutalen Überlebenskampf. Verwundete, die vom Wagen stürzen, werden überrollt und niedergetrampelt; keiner hat mehr die Kraft, ihnen aufzuhelfen. Stürzende werden geplündert, noch ehe sie tot sind. Brot wird nicht mehr geteilt.

Und neben der Natur wirkt der Feind. Immer wieder werden Einheiten, die den Anschluss verloren haben, von Kosaken überfallen. Oder von den Bauern der Umgebung, die sich für Repressalien auf dem französischen Vormarsch rächen wollen; besonders grausam sind die Weiber … In diesem militärischen und menschlichen Zusammenbruch formt Ney den Schild des Rückzugs. Seine Truppe schmilzt dabei immer mehr zusammen, von wenigen Tausend auf wenige Hundert und am Ende wenige Dutzend. Er steht selbst mit der Muskete im Karree, wenn die nachstoßenden Russen angreifen. Beim Gang über die Beresina kämpft er die Behelfsbrücke frei. Bei Kaunas deckt er das Stadttor, gibt den letzten Gewehrschuss ab auf der Brücke über die Memel, lässt in den Fluss werfen, was nicht mitgeführt werden kann, und die Brücke in Brand setzen. Er, Ney, die Nachhut, der letzte Mann der Großen Armee.

Zwischen den Fronten

Bouchot_-_Napoléon_signe_son_abdication_à_Fontainebleau_4_avril_1814Neys Marschallstab trägt eine lateinische Aufschrift: Terror belli – decus pacis. Den Schrecken des Krieges hatte er verbreitet, zur Zierde des Friedens wäre er nun gerne geworden. Wie viele von Napoleons Marschällen. Zwanzig Jahre hatten sie fast ununterbrochen Krieg geführt, waren quer durch Europa marschiert bis zur Erschöpfung. Nun einen ehrbaren Frieden aushandeln, der Frankreichs Ehre und natürliche Grenzen erhielt, und dann keine Abenteuer mehr in Illyrien und Ostpreußen oder in der russischen Steppe. Ruhiger Garnisonsdienst in der Heimat, Zeit bei den Familien verbringen auf den erworbenen Gütern, Bäume pflanzen und wachsen sehen.

Daraus wird nichts. Napoleon ist noch längst nicht kriegsmüde. Eine halbe Million Soldaten hatte er nach Russland geführt, weniger als ein Zehntel davon war kampffähig zurückgekehrt. Aber schon ist er wieder in Paris und lässt aus blutjungen Rekruten eine neue Armee aufstellen, Frankreichs letztes Aufgebot; um sein Reich in der Form von 1810 zu verteidigen, gegen die große Allianz, die sich nun formt. Auf die für den Frieden gestellten Forderungen der Alliierten, durchaus keine unmäßigen, geht er nicht ein. Denn sein Thron ist auf Ruhm, nicht Tradition gebaut, und kommt ihm der Ruhm abhanden durch einen unglücklichen Frieden, so meint er, wird auch sein Thron einstürzen. Der Gerechtigkeit halber muss man hinzufügen: Ob die Koalition auf Dauer den Frieden gehalten hätte, nun, da sie Stärke und Gelegenheit genug hatte, den großen Unruhestifter in die Schranken zu weisen, das weiß man nicht mit Sicherheit; Metternich war nicht der Alleinbestimmende. Aber man weiß es auch deshalb nicht, weil schon Napoleon sich dem Kompromiss verschloss.

So ziehen die Truppen und zieht auch Ney wieder in den Krieg, an die Elbe. Gegen die Russen und die Preußen, dann auch die Schweden und die Österreicher, schließlich auch die Rheinbundstaaten, die nach und nach von der Fahne gehen. Immer wieder gibt es erfolgreiche Gefechte. Doch am Ende wird die feindliche Übermacht zu groß, droht Napoleons Hauptheer die Einkesselung. Nach der verlorenen Schlacht bei Leipzig können sich die Franzosen nur mühsam den Weg freikämpfen, über den Rhein zurück in die Heimat. Und noch immer wird kein Friede geschlossen.

Es wird zunehmend deutlicher, dass vor allem Napoleon als Person dem Frieden im Wege steht. Dennoch stehen Ney und die anderen Marschälle lange zu ihm und führen verzweifelte Abwehrgefechte. Als aber die Alliierten schließlich in Paris einmarschieren und die örtlichen Kommandeure die Seiten wechseln, ist es vorbei. Der Rat der Stadt, dann auf Betreiben Talleyrands der französische Senat, erklären den Kaiser für abgesetzt. Im Schloss Fontainebleau, 4. April 1814, konfrontieren die Marschälle mit Ney an der Spitze Napoleon mit der Lage. Der plant schon die Gegenoffensive auf Paris, mit den wenigen Truppen, die ihm geblieben sind, dann mit einer verwegenen Schwingenbewegung nach Osten, in den Rücken der Feinde. Wahnwitzige Gedanken bar jeder Realität. Die Armee werde nicht marschieren, unterbricht Ney den Kaiser. Die Armee werde gehorchen, gebietet forsch Napoleon. Die Armee gehorche nur noch ihren Generälen, macht Ney klar. Niemandem sonst.

Nachdem die Marschälle ihm den Gehorsam verweigern, bleibt Napoleon nichts anderes, als abzudanken. Pro forma zugunsten seines unmündigen Sohnes. Aber das hat er nicht mehr in der Hand; das wird Gegenstand der Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen, in denen Ney eine bescheidene Rolle spielt. Die Alliierten kommen zu dem Schluss, dass die Bourbonen, das alte Herrscherhaus, wieder Frankreich regieren sollen. Ludwig XVIII., Bruder des 1793 guillotinierten Königs, kehrt aus dem Exil zurück. Napoleon wird die Insel Elba als Fürstentum zugesprochen, Frankreich hat er zu verlassen.

Das Schicksal ist stärker als er

LaffreyWie fügt sich nun Michel Ney, Soldat der Revolution, in die neue Ordnung? Zunächst gar nicht so schlecht. Der König ist voll guten Willens und kein Mann für Rachefeldzüge, schon körperlich nicht, beleibt wie er ist, gichtkrank und sichtbar gealtert. Er strebt nach Ruhe und Frieden. Den napoleonischen Kriegeradel sucht er an sich zu binden. Die Ehrentitel werden bestätigt, teils neue verliehen – Ney etwa wird nun Pair von Frankreich –, Kommandos an die Marschälle vergeben, wenn auch nicht immer großartige. Die neue Verfassung, die der König erlässt, ist gemäßigt liberal, ein Mittelweg zwischen Absolutismus und Republik. Die königliche Entourage freilich, Exilanten und militante Royalisten, die zwanzig Jahre auf ihre Gelegenheit zur Rache gewartet haben, streben auch nach ihrem Recht, suchen Posten zu besetzen in der aus Spargründen zusammengeschrumpften Verwaltung und Armee, verhalten sich herablassend und hochnäsig den Neuadeligen aus der napoleonischen Zeit gegenüber. Was einen stolzen Mann wie den Marschall Ney bitter kränkt. Rasch stellt sich eine gewisse Unzufriedenheit ein. Mehr freilich kaum. Kurz vor der Revolte steht Frankreich im Frühjahr 1815 nicht.

Ney ist darum ehrlich entsetzt, als er hört, dass Napoleon, zu seinem und seines Volkes Unglück, wieder in Frankreich gelandet ist und er ihm mit Truppen entgegenziehen soll. Dem König verspricht er vollmundig, den Friedensstörer in einem eisernen Käfig nach Paris zu schaffen. Was sich aber als schwieriger erweist als gedacht. Napoleon ist nur mit elfhundert Mann, seiner Leibgarde aus Elba, an der französischen Küste gelandet, aber die königlichen Verbände, denen er auf dem Weg nach Paris begegnet, gehen allesamt zu ihm über, die Offiziere oft getrieben von ihren Mannschaften. Noch immer zieht der Ruf des Kaisers bei seinen Soldaten. Im Triumph zieht er in Grenoble ein und dann in Lyon, ohne einen Schuss abzufeuern. Graf Artois, Bruder des Königs und ein Maulheld, der in Lyon den Oberbefehl hatte, türmt nach Paris, hinterlässt Ney keine Weisungen. Dessen Truppen, unter denen es inzwischen auch schon rumort, steht nun eine dreimal stärkere Streitmacht des Kaisers gegenüber. Kämpfen kann Ney nicht im Ernst; das Meer nicht mit seinen Händen aufhalten, wie er sagt. Er kann sich allenfalls gefangennehmen lassen; in Schande flüchten; oder die Seiten wechseln.

In dieser Lage erreicht Ney ein Schreiben Napoleons, in dem ihm nach alter Art, als sei nichts geschehen, Marschbefehle erteilt werden. Der Kaiser hat bereits verlauten lassen, dass er nicht gedenkt, jene, die ihn im April 1814 abgesetzt haben, zu bestrafen, bis auf wenige, namentlich genannte Ausnahmen, und Neys Name ist nicht darunter. Die goldene Brücke ist ihm gebaut. Das Schicksal scheint stärker zu sein als sein Wille. Später wird er verlauten lassen, des Kaisers Bote hätte ihm zudem die Gesamtlage falsch beschrieben: Österreich habe seine Einwilligung erteilt, Krieg werde es nicht geben, der König sei bereits aus Paris geflohen. Andere widersprachen. Endgültig wird man das wohl nie klären können.

Klar ist: Ney stellt sich und seine Truppen in Napoleons Dienst und begründet es damit, Frankreich den Bürgerkrieg ersparen zu müssen. Später sucht er den Kaiser auf, will ihm, was im vorigen Jahr versäumt wurde, noch einmal ausführlich die Gründe auseinandersetzen, warum er ihn zur Abdankung zwang, will Forderungen stellen, wie nun in Paris zu verfahren sei, dass Friede gehalten werden müsse, und so fort. Da er aber die Seiten bereits gewechselt hat und nicht mehr zurück kann, sind Ney keine Druckmittel mehr gegeben. Napoleon winkt gnädig ab. Dass er ihm noch einmal ein Kommando anvertrauen wird, nach allem, was geschehen ist, glaubt Ney nicht. Es sieht so aus, als sei seine Rolle in diesem Stück ausgespielt. Bis ihn drei Monate später, am 11. Juni, eine kaiserliche Depesche ereilt.

Mont-Saint-Jean

Marechal_Ney_à_WaterlooMit Österreichs Einverständnis und dem Frieden war es natürlich nichts. Die alliierten Mächte, in Wien auf dem Kongress versammelt, erklären Napoleon zum Feind der Menschheit und überziehen ihn – nicht Frankreich, dem Namen nach – erneut mit Krieg. Die übermächtige Feindkoalition von 1813/14 zieht wieder gen Paris. Wenn Napoleon überhaupt eine Chance haben will, muss er dem Gegner zuvorkommen, in die Offensive gehen und die feindlichen Armeen einzeln schlagen. Zwei davon stehen im heutigen Belgien, die britisch-niederländische unter Wellington, die preußische unter Blücher und Gneisenau. Schon ihnen ist er zahlenmäßig deutlich unterlegen. Er muss schnell handeln.

In dieser Lage wird Ney herbeigerufen. Er soll den linken Flügel der Armee führen, zwei Korps und etwas Kavallerie, zusammen um die fünfundvierzigtausend Mann. Gerade rechtzeitig trifft er bei der Truppe ein. In den Feldzugsplan eingeweiht oder sonstwie vorbereitet ist er nicht, und einen Stab hat er zunächst auch nicht. Das erklärt zum Teil sein unglückliches Agieren in den folgenden Tagen.

Als erstes soll Ney die strategisch wichtige Straßenkreuzung Quatre-Bras nehmen und die Briten in Richtung Brüssel zurücktreiben. Das wäre, wissen die Militärhistoriker, leicht zu machen gewesen, wenn Ney schnell gehandelt hätte, denn Quatre-Bras war zunächst nur schwach verteidigt. Aber die Lage ist unklar, Gelegenheit zur Aufklärung hatte er bislang nicht. Darum zögert er fast einen ganzen Tag. Derweil haben die Briten ihre Stellungen verstärkt, und was vorher ein schneller Sieg geworden wäre, wird nun ein hartes Ringen. Zu allem Überfluss kommandiert Napoleon, der sich zur gleichen Zeit bei Ligny eine Schlacht mit den Preußen liefert, eines von Neys Armeekorps nach Osten ab. Der wiederum braucht die Truppen selbst und befiehlt sie zurück – so dass am 16. Juni zwanzigtausend Franzosen zwischen zwei Schlachtfeldern hin und her marschieren, ohne an einem der beiden Orte eingreifen zu können.

Das Ergebnis ist bekannt, die Briten werden zurückgedrängt und die Preußen geschlagen, aber beide behalten intakte Armeen, können sich reorganisieren und später vereinigen. Beide gehen nach Norden zurück. Die Briten nehmen Aufstellung am Mont-St.-Jean, Heilig-Johann-Berg; dorthin stößt auch Napoleons Hauptmacht, mit Neys Verbänden. Die Preußen marschieren in Richtung Wavre; ihnen wird Marschall Grouchy mit dreißigtausend Mann hinterhergeschickt. Am 18. Juni kommt es zur großen Schlacht. Der letzten für Napoleon und auch den Marschall Ney.

Neys Truppen stehen in der Mitte und sollen den Hauptschlag führen, das vorgeschobene Gehöft La Haye Sainte erobern und dann das Zentrum der etwa gleichstarken Briten zertrümmern. Ein mühsames Geschäft. Die ersten Infanterieangriffe scheitern. Die Masse der britischen Truppen steht hinter der Anhöhe, für die überlegene französische Artillerie schwer zu treffen. Einige Rotröcke werden dorthin verschoben. Ney deutet das als Generalrückzug und will mit seiner Kavallerie die Verfolgung aufnehmen. Die Briten formieren sich zu Karrees und wehren den Reiterangriff ab. Aber Ney attackiert erneut, ohne Infanterieunterstützung und ohne La Haye Sainte besetzt zu haben, die Ebene zu beherrschen und damit die Artillerie in Reichweite vorschieben zu können.

Das ist gegen alle Regeln der damaligen Kriegskunst. Die Karrees, mit Wällen von Bajonetten, sind auf dem Feld kleine Festungen und für die Reiter mit ihren Pistolen, Säbeln und Lanzen kaum zu brechen. Dafür bilden sie umso bessere Ziele für die Kanonen, weil die Soldaten dichter stehen, und verringern die Wirkung gegen feindliche Infanterie, weil die Gewehre in alle vier Richtungen zeigen statt nur in eine. Nur das Gefecht der verbundenen Waffen verspricht Erfolg, vermag die Infanterie in Linienformation zu zwingen, die von der Kavallerie dann niedergeritten werden kann.

Ney aber, einmal vom Schlachtfieber gepackt, das ihn selbst auf einsam stehende feindliche Kanonen einschlagen macht, lässt anreiten und anreiten, bis von der französischen Kavallerie kaum mehr etwas übrig ist. Freilich, Napoleon lässt das Ganze geschehen. Auch er zeigt in diesen Tagen, trotz des durchaus brauchbaren strategischen Gesamtplans, taktisch eine erstaunliche Einfallslosigkeit und viel primitives Haudrauf.

Mit Neys heldenhaften, aber im Ergebnis sinnlosen Kavallerieangriffen vergehen wertvolle Stunden. Erst am frühen Abend kann, nun mit allen Waffengattungen, La Haye Sainte besetzt werden. Jetzt gerät das britische Zentrum unter Druck. Ney soll ihm mit der Alten Garde den letzten Stoß versetzen. Aber als die Kämpfe noch toben, stoßen von Nordosten die preußischen Verstärkungen heran und greifen an. Napoleon hatte verbreiten lassen, die anmarschierenden Truppen seien die Marschall Grouchys. Der jagt derweil immer noch bei Wavre den Preußen hinterher. Augenscheinlich belogen, abgekämpft und in die Zange genommen, bricht die französische Linie zusammen. Ney, Napoleons Tapferster der Tapferen, kann die panische Flucht seiner Truppen nicht aufhalten. Schlacht und Krieg und Kaiser sind verloren.

Trauriges Ende, bleibender Nachruhm

La_Mort_du_Maréchal_Ney_(1868)Auch der Heldentod im Felde bleibt dem Marschall Ney versagt. Kurz nach Napoleon kehrt er nach Paris zurück – und muss sich erst einmal gegen dessen öffentliche Anschuldigung verteidigen, er und Grouchy allein hätten das Debakel zu verantworten. Das Abwälzen der Verantwortung hilft dem Kaiser nicht. Auf Druck des Parlaments muss er erneut abdanken und begibt sich schließlich in britische Gefangenschaft.

Ney droht derweil ein schlimmeres Schicksal. Die Alliierten marschieren auf Paris zu, und in ihrem Gefolge kehrt der König zurück an die Macht. Der ist zwar erneut relativ milde gestimmt. Aber um seine Autorität wieder herzustellen, müssen wenigstens einige, die ihn bei Napoleons Rückkehr offen verraten haben, bestraft werden. Neys Name steht ganz oben auf der Proskriptionsliste. Der Marschall ist vom Polizeiminister, Fouché, dem Großintriganten, freundlicherweise mit falschen Pässen ausgestattet worden, nutzt sie aber nicht zur Flucht ins Ausland, sondern verbirgt sich eine Weile bei Verwandten seiner Frau in Südwestfrankreich. Verschwörung und Heimlichkeit liegen dem Mann aber nicht, er zeigt sich unvorsichtig, wird prompt denunziert und als Gefangener ins Pariser Conciergerie-Gefängnis geschafft, wo er dann auf seinen Hochverratsprozess wartet.

Der Prozess verläuft in zwei Stufen. Zunächst wird ein Kriegsgericht zusammengerufen. Ney, stolz und herrisch, bestreitet dessen Zuständigkeit, weil nach der Verfassung nur die Pairskammer über ihn richten darf. Wohl unklugerweise. Von den Kameraden Marschällen und Generalen hätte er vielleicht ein milderes, auf jeden Fall ein gerechteres Urteil erhoffen dürfen. Die Pairskammer richtet politisch, will ein Exempel statuieren und folgt der These der Anklage, Ney habe schon, als er dem König Bonaparte im eisernen Käfig versprach, den Vorsatz gehabt, Ludwig zu verraten und überzulaufen. Bewiesen durch windige Zeugen, die vor allem den eigenen Hals retten wollen. Feinsinnige Gegenreden der Verteidigung, etwa dass durch das Waffenstillstandsabkommen Napoleons Soldaten Schonung versprochen worden sei, worauf man sich in gutem Glauben ergeben habe, lässt man nicht gelten, weil dies die Alliierten, nicht aber den König binde. Auf einen anderen Vertrag zurückzukommen, an den der König durchaus gebunden ist, nämlich den Friedensvertrag, nach dem Neys Heimatstadt Saarlouis an Preußen abgetreten wurde und er formal gar nicht mehr französischer Jurisdiktion untersteht, untersagt der Marschall seinen Anwälten. Er sei Franzose, und als Franzose wolle er sterben. So soll es sein. 159 Pairs stimmen für den Schuldspruch; ein einziger, der Herzog von Broglie, dagegen.

In der Nacht des 7. Dezember verliest man Ney im Kerker sein Todesurteil. Er hat noch Gelegenheit, seine Verhältnisse zu ordnen, ein letztes Mal Frau und Kinder zu sehen und die Beichte abzulegen. Dann wird er zum Richtplatz gefahren, der streng abgesperrt ist. Die Regierung fürchtet Sympathiebekundungen oder einen Fluchtversuch. Dergleichen liegt Ney fern, dem seine Ehre stets wertvoller war als das Leben. Er trägt zivil; Epauletten und Ehrenzeichen müsste man ihm sonst vom Leibe reißen. Weder sinkt er auf die Knie, noch lässt er sich die Augen verbinden. Gegen viertel nach neun geben die Soldaten Feuer. –

Solange die Bourbonen Frankreich regieren, nicht mehr sehr lange, eineinhalb Jahrzehnte, bleibt Neys Name verfemt. Danach beginnt schrittweise seine Rehabilitierung, wie auch der ganzen napoleonischen Zeit. 1840 holt man den toten Kaiser von St. Helena zurück und bettet ihn im Invalidendom zur letzten Ruhe. 1853 weiht Napoleon III., noch zu Lebzeiten Eglé Neys und in Anwesenheit ihrer Söhne, unweit der Hinrichtungsstätte beim Luxemburg-Palais für den Marschall ein würdiges Denkmal ein. Heute leuchtet sein Stern wieder beinahe wie zu Lebzeiten: Michel Ney, Pair und Marschall von Frankreich, Herzog von Elchingen, Fürst von der Moskwa, Tapferster der Tapferen.


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