Treu zur Fahne

In historischen Darstellungen kommen die Konservativen oft nicht gut weg; auch weil am Ende meist die anderen gewonnen haben. Dennoch bleibt ihr Wirken wichtig. Und sei es nur, um den Lauf der Geschichte langsamer und stetiger zu machen.


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S098_Treu_5Konservative sind auch nicht mehr das, was sie früher einmal waren. Wie die Liberalen nicht. Und die Sozialisten eigentlich auch nicht. Der politische Betrieb ist recht einfallslos mit seinen Begriffen; was einmal da ist, hält sich; die Landkarte der Meinungen wird nach den gleichen Kategorien eingeteilt, die von Anfang und Mitte des neunzehnten Jahrhunderts stammen, wenn auch die Landkarte mittlerweile eine ganz andere geworden ist. Freilich, bei Liberalen und Sozialisten, deren Ideen auf die Zukunft hin gebaut sind, hätte man den Zug in neue Lande wohl erwartet; bei den Konservativen, im ersten Nachdenken, eigentlich nicht.

Franz Josef Strauß hat sich deshalb, 1980, einmal den Spaß erlaubt, die Konservativen seiner Zeit mit denen einhundert Jahre früher zu vergleichen und die Unterschiede aufzuzählen. Das war Wahlkampf und sollte die geistige Wandlungsfähigkeit der Konservativen positiv herausstellen. Aber wahr ist es doch und ganz erstaunlich, wie sehr Werte und Einstellungen sich verschoben haben bei denen, die dem Namen nach doch bewahren wollen. Und seit Strauß ist wiederum einiges geschehen.

Hinhaltender Rückzug

Tatsächlich hängt das Konservative stärker am Wandel der Zeit als alle anderen Ideenfamilien, wenn auch in eigentümlicher Dialektik. Konservativ wird eine Einrichtung, eine Meinung, eine Einstellung immer erst, wenn die Zeit schon halb über sie hinweggeschritten ist. Allgemeingüter sind nicht konservativ, sie sind eben – allgemein. Der Begriff – Konservativ, Konservatismus, Konservativismus, je nach Geschmack – ist in Deutschland in den 1830er Jahren aufgekommen, und mit ihm konservatives Vereinswesen, Publizistik, Parteien. Damals wäre, beispielsweise, niemand auf die Idee gekommen, es konservativ zu nennen, dass eine Familie aus Vater, Mutter, eigenen Kindern besteht. Das war selbstverständlich. Heute ist es konservativ geworden, so zu denken, fast schon am Rande des Akzeptierten; in einer Generation ist es vielleicht hoffnungslos reaktionär. Umgekehrt ist der Glaube an Könige von Gottes Gnaden und erblichen Adel in unserer Zeit sehr, sehr von gestern; 1830 waren diese Ideen konservativ, und noch recht gut im Schwange; weitere hundert Jahre früher ganz unumstritten.

Das Konservative lebt von Herausforderungen durch die Zeit, durch den Wandel und jene, die ihn predigen. Es kommt stets als zweites, nacheilend, als Gegenbewegung. Entsprechend kann man die Geschichte der Konservativen als Geschichte von Herausforderungen erzählen, und so geschieht es auch meist. Beliebt ist als Ausgangspunkt die Französische Revolution. Eigentlich nicht ganz richtig, denn schon das Widerstreben gegen die Aufklärung und die mechanisch-rationalistisch angelegten Zentralstaaten der absolutistischen Könige ein halbes Jahrhundert davor hat typisch konservative Züge. Aber der wortmächtigste Konservative war eben jener, der gegen den Umsturz in Paris anschrieb. Auf ihn müssen wir schauen.

Konterrevolutionär

NPG 655; Edmund Burke studio of Sir Joshua ReynoldsDer Mann hieß Edmund Burke, englischer Schriftsteller und Parlamentsredner; das Buch die „Betrachtungen über die Französische Revolution“ – ein Stück Weltliteratur; in der glänzenden Übertragung des Friedrich Gentz auch ein schönes Stück deutscher Literatur. Seinen Reiz erhält es durch die doppelte Ausrichtung, auf den Tag hin ebenso wie auf die bleibenden Wahrheiten.

Zeitgebunden ist die konkrete Kritik an der Revolution selbst: den Umstürzlern und den Herren in der Nationalversammlung – „gelehrte Kabalenmacher und intrigierende Philosophen, politische Theologen und theologische Politiker“; den Ergebnissen, der Demütigung des Königs, der Entmachtung und Enteignung der Kirche, der Selbstherabsetzung des Adels; den gewalttätigen Begleiterscheinungen, „Verräterei, Meuchelmord, Straußenraub, Entehrung, Gemetzel und Mordbrennen“. Wobei das Buch geschrieben war, ehe die eigentliche Terrorherrschaft des Wohlfahrtsausschusses begann, König und Königin unter dem Beile ein so trauriges Ende fanden. Der richtigen Voraussage – „Es wird Blut fließen“ – verdankt Burke einen guten Teil seines Renommees.

Daneben aber, von gleichem Gewicht, stehen die bleibenden Aussagen. Burke glaubt nicht an Revolutionen, an rasche Umbrüche überhaupt. Er plädiert für den Mut zur Langsamkeit. Und für die behutsame Reform des Bewährten statt dem Versuch, Tabula rasa zu machen und Neues aus dem Nichts zu schaffen. Rechte, auch Verfassungen, sind für ihn nichts, was eine Nationalversammlung von heute auf morgen beschließen kann. Sie wachsen langsam und werden vererbt; wie in England von der Magna Charta über Habeas-Corpus-Akte und Bill of Rights zur halb aristokratischen, halb demokratischen Ordnung Ende des 18. Jahrhunderts. So sieht er denn die Vergangenheit wesentlich positiv, die Errungenschaften mehr als die Fehler, als Fundament, auf dem man aufbaut. Während der Revolutionär – und man kann allgemeiner sagen: der Progressist – den Vorfahren wie den Zeitgenossen vor allem ihre Irrtümer vorhält, Unterdrückung und Armut und Unmündigkeit. Die sieht zwar auch Burke. „Ich erkläre mich deshalb nicht gegen alle Veränderungen! Aber ich wünsche zu erhalten, selbst da noch, wo ich zu ändern genötigt wäre. Ich möchte nur dann zu meinen Arzneien schreiten, wenn große Übel mich aufforderten.“ Und auch dort in dem Bestreben, „zugleich zu erhalten und zu verbessern“, nichts zu rasch umzustürzen. Auf der gesellschaftlichen wie der individuellen Ebene; Standesschranken mögen durchlässiger werden, aber langsam, so „dass der Übergang aus einem niedrigen Stande zu Einfluss und Ansehen nicht zu leicht gemacht und nicht zu alltäglich werden muss“. Und wenn verändert werden muss, dann im Rückgriff auf Altes; wie die Philosophin Simone Weil später in „Schwerkraft und Gnade“ schreiben wird: „Deshalb soll eine Reform stets entweder als eine Rückkehr zu etwas Vergangenem, das in Verfall geraten war, erscheinen oder als Anpassung einer schon bestehenden Einrichtung an neue Bedingungen, eine Anpassung, die nicht eine Veränderung bezweckt, sondern im Gegenteil die Bewahrung eines unveränderten Verhältnisses.“

Beständigkeit

S097_Treu_3Burkes Traditionalismus, den man ohne viel Vereinfachung mit Liebe zum Alten übersetzen kann, umfasst noch nicht die ganze konservative Gedankenwelt, aber doch einen wichtigen Teil von ihr, aus dem manch anderes mit Logik folgt. So das Prinzip der Dauer, die Annahme, dass das, was lange ist, Wert allein dadurch hat, dass es ist; dass es göttlichen Segen besitzt, einer natürlichen Ordnung entspricht oder schlechthin sich bewährt hat. Der Konservatismus dieser Zeit entspringt noch überwiegend der Ideenwelt des Adels; die Prägung durch das Landleben ist deutlich zu spüren, wo in der Tat noch wenig sich ändert, als oberster Wert die Treue gilt, des Bauern zu seinem Gutsherrn und umgekehrt die Pflicht des Grundbesitzers seinen Dienern gegenüber. Bismarck, als Politiker eigentlich kein Konservativer, eher ein Revolutionär, hat in jungen Jahren einmal über die Beständigkeit auf dem heimischen Gut mit Freude sich geäußert. „Die Luft hier konserviert das Gesinde. Bellin ist ein Bauernsohn hier aus dem Dorf, fing als Reitknecht an bei meinem Vater, ist nun vierzig Jahre im Dienst, davon 32 als Inspektor; seine Frau ist in unserem Dienst geboren, Tochter des vorigen, Schwester des jetzigen Schäfers; letzterer und der Ziegelmeister, der auch bald sechzig Jahre ist, dienen schon als zweite Generation hier, und haben ihre Väter bei meinem Großvater und Vater schon dieselben Stellen bekleidet.“ „Ich kann nicht leugnen, daß ich einigermaßen stolz bin auf dieses langjährige Walten des konservativen Prinzips hier im Hause, in welchem meine Väter seit Jahrhunderten in denselben Zimmern gewohnt haben, geboren und gestorben sind. “

Das ist aus Sicht des Herrn geschrieben, nicht ohne sentimentale Verklärung. Man soll das Landleben nicht romantisieren, gewiss nicht im Rückblick aus unserer verstädterten Wohlstandswelt. Aber verstehen muss man, aus welcher Tradition der Konservatismus kommt, wie tief er schöpft, weil nur dadurch die Duldsamkeit gegen bestehende Übel und die Skepsis gegen das Neue sich erklärt.

Skeptizismus

Skepsis nicht nur gegen das Neue freilich; Skepsis gegen umfassende Lösungen überhaupt. Der klassische Konservative glaubt an das organisch Gewachsene, nicht daran, was Gesellschaftstechniker wie eine Maschine neu konstruieren zu können meinen. Gesellschaft, denkt er, ist geworden, nicht gemacht, denn wenn man sie machen könnte, wäre das längst geschehen. So unwissend und unfähig waren die Väter nicht. Wenn es nicht gelang, so deshalb, weil ein ewiges Gesetz dem entgegensteht, die „verwickelte Natur“ des Menschen (Burke), das „krumme Holz“, aus dem er geschnitzt ist und aus dem „nichts Gerades gezimmert werden“ kann (Kant).

Der Konservative misstraut dem Menschen, sieht ihn nicht, wie Rousseau, als von Natur aus gut, ehe die Institutionen ihn verdarben, sondern als prinzipiell zum Bösen fähig und auch neigend, weshalb es die Institutionen gerade braucht, um ihn, durch Erziehung und soziale Kontrolle, auf den richtigen Weg zu bringen und dort zu halten. Die Institutionen sind die alten, gewachsenen, Familie, Gemeinde, Kirche, Berufsstand und der wachsame Staat. Also auch das, was man, damals mit Respekt, heute eher abwertend, die Obrigkeit nennt.

Blinder Gehorsam gegen die Obrigkeit freilich ist eigentlich nicht konservativ, auch wenn ein konservativer Rebell früherer Zeiten, Luther, ihn predigte. Denn auch die Obrigkeit besteht aus Menschen, die wiederum fehlbar sind. Konservative Obrigkeit ist darum verteilte Obrigkeit. Gegenüber dem Staat ist das Individuum allein zu schwach. Die absolute Monarchie wie die allmächtige Diktatur sind keine konservativen Staatsmodelle, weil die Gegengewichte fehlen, vor allem die Autonomie der kleinen und kleinsten Einheiten. Deren Rechte sind Teil des impliziten Gesellschaftsvertrags mit der Obrigkeit; werden sie gebrochen, endet die Treuepflicht und beginnt das Recht zum Widerstand. Wie einst schon bei den Freiherrn von der Marwitz gegen die preußischen Könige.

Ein konservativer Staatsaufbau ist ex definitione subsidiär. Noch die Verfassungsideen der Männer des 20. Juli 1944, der Goerdeler, Hassel, Schulenburg, atmen diesen Geist. Nicht so sehr, weil über dem Staatsgebilde wieder ein erblicher Monarch thronen sollte; der war mehr zur Zierde gedacht. Sondern weil der Staatsaufbau, von unten nach oben und funktional gegliedert, konservativen Vorstellungen sehr entsprach. Weitestgehende Autonomie der Familien und der Gemeinden; ein subsidiär gegliedertes Wahlrecht, in dem das Parlament der nächsthöheren Ebene zur Hälfte nicht direkt, sondern durch die Abgeordneten der niedrigeren Ebene bestimmt werden sollte, also etwa der Kreisräte durch die Gemeinderäte; parallel dazu Wirtschaftskammern und neben dem Reichstag an der Spitze ein „Reichsständehaus“ mit auf Lebenszeit gewählten Mitgliedern. Insgesamt eine Mischung aus demokratischen und aristokratischen Elementen, die sich gegenseitig ausbalancieren sollten. Durchaus konservativ; freilich daran krankend, dass nicht Gewachsenes bewahrt, sondern längst Abgestorbenes wiederbelebt werden sollte – wer konnte in der ausdifferenzierten Arbeitswelt des Jahres 1944 noch glaubhaft von Berufsständen sprechen. Manches war mehr romantische Erinnerung als noch bestehende Realität, unpraktisch und intellektuell verkopft wie der Putschversuch selber. Aber ein ehrbarer Versuch, immerhin, in harter Lage. Viele gaben ihr Leben dafür.

Schuld

Wir haben nun geschichtlich einiges übersprungen, zwischen einem rühmlichen Anfang, Widerstand gegen die Exzesse der Revolution, und einem rühmlichen Ende, dem Widerstand gegen Hitler. Dazwischen liegt manches, was weniger rühmlich ist. Ein rundes Jahrhundert, ungefähr von 1815 bis 1918, ist der Konservatismus in Deutschland „Macht“. Nicht unbedingt in dem Sinne, dass die Schriftsteller, Vereinsvorsitzenden, Parteiführer, die sich konservativ nannten, direkt Macht ausgeübt hätten; so war das System nicht gebaut, so kraftvoll war die konservative Bewegung im übrigen auch nicht, im öffentlich-parlamentarischen Sinn, wo nicht ein manipulatives Wahlrecht ihr zur Hilfe kam. Die Mehrheiten waren meist anderswo. Aber durch die Stellung bei Hofe, im Militär, in der Verwaltung, durch die Rechte, die der Staat den Land- und Fabrikbesitzern großzügig beließ, blieben die Konservativen, oder die konservativen Schichten, was praktisch das gleiche bedeutete, am Ruder, mit einigen Ausnahmen in den Klein- und Mittelstaaten, was am Gesamtbild aber nichts ändert. Konservatismus in dieser Zeit ist sehr stark das, was Eppler später strukturkonservativ nennt, allein auf den Erhalt der Machtstrukturen bedacht, und, vereinfacht gesagt, der Widerstand der Besitzenden gegen die Besitzlosen.

Nun gibt es Macht niemals ohne Schuld, des Tuns oder Unterlassens, und wer von einer Gesellschaftsklasse verlangt, ohne Widerstand aufzugeben und abzutreten, verlangt menschlich wohl zu viel. Allein, im Lauf des neunzehnten Jahrhunderts kommt dem konservativen Machtinstinkt die leitende Idee abhanden. Wohl wird die Interessenpolitik noch mit schönen Worten umkleidet, von Christentum und Königstreue und sittlicher Pflicht. Der echte Glaube daran aber schwindet. Unübersehbar wird es am Ende, als es zum Schwur kommt.

Die heutige Schwäche des deutschen Konservatismus hat manches mit historischen Traumata zu tun. 1918 ist das erste. Und dabei nicht so sehr die Tatsache des Zusammenbruchs der alten Ordnung. Sondern die Art und Weise der widerstandslosen Selbstaufgabe. Der Kaiser: desertiert nach Holland. Die Fürsten: fliehen bereitwillig aus den Hauptstädten. Die Offiziere: lassen sich entwaffnen. Der Adel: verschanzt sich auf seinen Gütern. Die Bürgerlichen: fügen sich dem, was die Räte beschließen. Kaum ein Finger rührt sich zum Widerstand. Keine Opferbereitschaft; kein Heldentum; nirgends. Des Kaisers letzter Regierungschef, dem sein Nachfolger, der Sozialdemokrat Friedrich Ebert, noch ehrenhaft anbietet, die Position des Reichsverwesers zu übernehmen, um die Monarchie in die neue Zeit hinüberzuretten, bis die Fragen der Erbfolge, der Dynastie, der neuen Verfassung geklärt sind, lehnt schroff ab. Prinz Max steigt in den Zug und flieht aus der Geschichte; wie ein feiges Weib.

Somit bricht nicht nur eine Verfassungsordnung zusammen, sondern das ganze konservative Weltbild. In den 1920ern sind Hilf- und Orientierungslosigkeit die Folge, Widerstand und dann doch wieder keiner, Mitarbeit an der Republik und dann doch wieder nicht, romantische Schriftstellerei, jugendliches Aufbegehren, alles ohne sehr viel Wirkung, am Ende das Bündnis mit dem großen Schurken, der Anteil an der Macht verspricht, die man aus eigener Kraft nicht zu erkämpfen können glaubt, der Wandel der Obrigkeit zum Verbrecherstaat und der Verlust jedes Glaubens daran.

Dem geistigen Verlust folgt der physische: Blut und Boden. Der Krieg und Hitlers Rache nach dem 20. Juli bringen von den besten Konservativen viele ums Leben. Die Niederlage gegen Russland, Flucht, Vertreibung, die kommunistische Herrschaft bis zur Zonengrenze schleifen die ostelbischen Festungen der Konservativen.

Bleibende Aufgaben

S099_Treu_9Mit dem alten Konservatismus konnte es nach 1945 aus vielfachen Gründen nicht mehr weitergehen; hätte es selbst dann nicht weitergehen können, wenn es die Kriege und Katastrophen der drei Jahrzehnte zuvor und die bleibenden geistigen Belastungen daraus nicht gegeben hätte. Denn mittlerweile hatte die Lebenswelt sich so sehr verändert, dass mit den alten Ideen beim besten Willen kein Staat mehr zu machen war.

Bismarcks Bild vom statischen Landleben konnte nicht mehr greifen, wo die Landbevölkerung durch stetige Urbanisierung immer mehr schrumpfte. Burkes Mut zur Langsamkeit muss in einer Zeit rasanten technischen Fortschritts anachronistisch wirken. Beides, Urbanisierung und technische Entwicklung, führt zu sozialer und räumlicher Mobilität, in der vom alten Gedanken des Erbes nicht mehr viel bleibt. Vielfache Umzüge in einer normalen Lebensspanne, wechselnde Berufe entwerten das Alte, die Herkunft, das Familienerbe; kaum weiß der Enkel noch, wo der Großvater lebte und arbeitete, wenn es denn, wie die Demographie sich entwickelt hat, überhaupt noch Enkel gibt. Erfahrungen von früher taugen für die neue Zeit oft nicht mehr; der Respekt vor den Vorfahren schwindet; die Geschichtsphilosophie, die nationale wie die europäische, ist vorwiegend negativistisch, von dem simplen Narrativ geprägt: Früher war Krieg; heute ist Friede; somit ist das Heutige dem Gestrigen per se moralisch überlegen.

Interessant ist nun aber, dass, obwohl die Konservativen in den letzten zweihundert Jahren zahllose Positionen räumen mussten, bestimmte Grundstrukturen sich erhalten haben. Das Hängen an historisch gewachsenen Bindungen und Gemeinschaften, wenn auch im Gewicht verschoben, da anderes sich löst und lockert, zur Großkonstante der Nation. Die Subsidiarität, der Vorrang kleiner Einheiten vor den großen, von Land und Region etwa vor der europäischen. Die Betonung der kleinsten Einheit, der Familie, als Keimzelle. Der Glaube an bestimmte Elemente einer natürlichen Ordnung, mit dem, gegen wirtschaftliche Vorteile und schrankenlose individuelle Freiheit, Grundsätze verteidigt werden, im Sinne des Lebensschutzes etwa und gegen den Wahn, der Mensch könne seine Natur selbst bestimmen. Überhaupt die Skepsis gegen die großen Machbarkeitsphantasien, gegen die Gestaltbarkeit von Gesellschaft durch progressivistische Sozialingenieure. Das sind Konstanten, die zu bleiben scheinen, wenn auch die Einzelfragen, über die gestritten wird, immer wieder andere sein werden.

Auf der Bremse

Geändert hat sich freilich auch nicht, dass, solange nur Ideen und nicht Interessen berührt sind, die überzeugten Konservativen strukturell die Minderheit bilden. Sie stehen gegen den Trend. Genauer: Der Trend wird erst dann ein Trend, wenn nur noch die Konservativeren gegen ihn stehen. Prinzipiell und auf Dauer werden sie in den meisten Fällen verlieren.

S097_Treu_2Überflüssig werden sie und wird ihr Auf-der-Bremse-Stehen dennoch nicht, selbst wenn die Fahrt am Ende weitergeht. Friedrich Gentz, der Burke-Übersetzer, selber ein politischer Schriftsteller und selber ein Konservativer, mit wachsendem Bedürfnis nach Ruhe und Ordnung, trat zum Ende der Napoleonzeit in den Dienst Fürst Metternichs. Freunde aus liberaleren Tagen hielten ihm die Tätigkeit für den Wiener Zensur- und Repressionsapparat oft bitter vor. Darunter die kluge Publizistin Amalie Imhoff. Ihr gegenüber rechtfertigt Gentz sein Tun in einem klassischen Brief. „Die Weltgeschichte“, schreibt er, „ist ein ewiger Übergang vom Alten zum Neuen. Im steten Kreislaufe der Dinge zerstört alles sich selbst, und die Frucht, die zur Reife gediehen ist, löst sich von der Pflanze ab, die sie hervorgebracht hat. Soll aber dieser Kreislauf nicht zum schnellen Untergang alles Bestehenden, mithin auch alles Rechten und Guten führen, so muss es notwendig neben der großen, zuletzt immer überwiegenden Anzahl derer, welche für das Neue arbeiten, auch eine kleinere geben, die mit Maß und Ziel das Alte zu behaupten, und den Strom der Zeit, wenn sie ihn auch nicht aufhalten kann noch will, in einem geregelten Bette zu erhalten sucht.“ Dass er den Strom am Ende nicht aufhalten kann, betont Gentz noch einmal; schreibt von seiner Überzeugung, dass „der Zeitgeist zuletzt mächtiger bleiben würde als wir … Das war aber kein Grund, die mir einmal zugefallene Aufgabe nicht mit Treue und Beharrlichkeit zu verfolgen; nur ein schlechter Soldat verlässt seine Fahne, wenn das Glück ihm abhold zu werden scheint.“

Nun ist der Grat am Ende schmal. In Gentzens romantischem Kampf für die verlorene Sache ist, ganz gewiss, auch ein wenig Pose; Selbststilisierung, wenn nicht Selbstbemitleidung. Wenn das überhand nimmt, bleibt vom Konservativen auf dem Rückzugsgefecht allenfalls eine Karikatur. Nur wenn – das hatte er wohl freilich auch – genügend männlicher Ernst hinzukommt und echter Glaube an die Sache: nur dann bleibt die konservative Idee legitim.

 

Zum Weiterlesen

Sven-Uwe Schmitz: Konservativismus. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 2009, 170 S.

Edmund Burke: Betrachtungen über die Französische Revolution. Verlag Johannes G. Hoof. Warendorf, 2005, 406 S. Aus dem Englischen von Friedrich Gentz.


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