Unwissenheit ist Stärke

Täglich wird uns vorgebetet, dass wir in einer Wissensgesellschaft leben. Zugleich wächst unser Verdacht, das Falsche zu wissen und zu lernen. Was soll das sein, Wissensgesellschaft, Wissensökonomie? Ein kurzer Streifzug durch Philosophie, Literatur und Wirtschaftsleben.


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S149_Unwissen_4Wenn man in mein Alter kommt, merkt man allmählich, dass Wissen und Vergessen ein Zwillingspaar bilden. Man lernt ja einiges kennen an deutschen Universitäten; zum Beispiel in der schönen Mathematik, wenn man einen technischen oder halbtechnischen Studiengang durchläuft. Taylorreihen und Eigenräume, stochastische Prozesse und Kürzeste-Wege-Algorithmen, Fouriertransformationen, partielle Differentialgleichungen und derlei feine Dinge mehr. Hat man sie nach einigem Hirnen halbwegs verstanden, glaubt man ein ganzes Stück Welterkenntnis erlangt zu haben; denn mathematisches Wissen ist ja ewig gültiges Wissen. Dann vergeht einige Zeit, man steigt in den Beruf ein, in dem, mathematisch gesehen, für die allermeisten von uns Dreisatz und Prozentrechnung das höchste der Gefühle sind. Und stößt man nach Jahren doch einmal auf ein Problem, bei dem ein kleines mathematisches Modell nicht schaden könnte, stellt man fest, wie wenig man noch weiß und dass man selbst für einfachste Integrale nun wieder Wikipedia oder die alte Formelsammlung bemühen muss, die man schon als Gymnasiast in Gebrauch hatte. Und bekommt als Wissender oder Gewusst-Habender latente Zweifel an dem, was man so Wissensgesellschaft nennt.

Wissensphilosophie

Nun ist die Wissensgesellschaft zwar ein Modebegriff, Wissen als solches aber schon sehr alt; Betrachtungen darüber gehören zum klassischen Kernbestand der berufsmäßigen Nachdenker, entsprechend viel kann man nachlesen beim alten Platon, beim alten Descartes, beim alten Kant. Oft, wie Philosophen sind, sehr Grundsätzliches mit der Frage, was man denn überhaupt wissen kann und wie man zu Wissen gelangt, wo man doch als Mensch grundsätzlich nichtwissend in die Welt tritt. Bei den klugen Herren kommen dann die sagenhaftesten Gedankenkonstruktionen heraus: Metaphysische Welten, in denen Ideen wohnen; der Gedanke vom Dreieck ist dem Menschen eingegeben, ehe er das erste Dreieck sieht, weil seine Seele an die jenseitige Welt sich erinnert. Gottesbeweise, die zeigen sollen, dass es einen gütigen Herrn gibt, der kein Täuscher ist und uns kein falsches Wissen vorgibt. Kategorien wie Raum, Zeit, Kausalität, die a priori im menschlichen Geist existieren vor aller Erfahrung. Das hat alles etwas Tröstliches; praktischen Nutzen für den, der das Wissen begreifen will, stiftet es nicht. Die mittlerweile in der Mehrheit befindliche Gegenposition, dass wir nichts wirklich wissen können, weil die Wahrnehmung unserer Sinne begrenzt ist, ist weniger tröstlich; im Alltag aber ebenso unnütz.

Wer sich erdennäher vom Wissen einen Begriff machen möchte, wird den Himmel Himmel sein lassen und, ehe er die Voraussetzungen bezweifelt, an die praktischen Seiten im Theaitetos, in den Meditationes und in der Kritik der reinen Vernunft sich halten, nach einer sinnvollen Definition von Wissen fragen und versuchen, sie unserem Alltagsgebrauch des Wortes möglichst anzunähern. Das tun die meisten zeitgenössischen Wissensphilosophen; was so ganz freilich nicht gelingen will.

Eine mögliche Variante geht so. Person x weiß, dass ein bestimmter Sachverhalt y zutrifft. Beispiel: Ich weiß, dass die Sonne im Osten aufgeht. Dann bedeutet dieses „x weiß, dass y“ für eine Philosophenfraktion:

1. x ist von y überzeugt.

2. y ist wahr.

3. Die Überzeugung von x ist erkenntnistheoretisch („epistemisch“) gerechtfertigt.

In einer solchen Definition steckt eine ganze Menge drin. Zum Beispiel, dass es die Person x überhaupt gibt und dass sie eine Überzeugung hat. Maschinen „wissen“ nach dieser Lesart nichts, sie speichern nur. Vorausgesetzt wird auch, dass die Wahrheit von y für denjenigen, der über die Überzeugung von x urteilt, ob sie denn zutrifft oder nicht, bekannt ist, dass diese Person z oder die „allgemeine Überzeugung“ also selber „weiß“, dass y oder nicht-y. Und ferner, dass es anerkannte Maßstäbe gibt, nach denen beurteilt werden kann, wie die Person x zu ihrer Überzeugung gelangt ist; ob ich also nur zufällig einmal gesehen habe, wie die Sonne im Osten aufgeht, oder mir von kompetenten Astronomen den Sachverhalt habe erläutern lassen oder selbst Astronomie studiert und Planetenbahnen berechnet habe – und was davon als hinreichend für „Wissen“ akzeptiert wird.

Mit solchen Definitionen befassen sich nun die Herren Philosophen, versuchen es mal mit mehr, mal mit weniger Kriterien, prüfen, ob die Definition auf meist recht konstruiert wirkende Beispiele passt und für welche Wissensarten sie anwendbar ist – in Mathematik, Naturwissenschaft, Ökonomie, Soziologie, Geschichte, Ethik oder Religion. Intelligente Versuche, alle Wissensarten in eine Definition zu fassen, die variable Kriterien mit verschiedenen möglichen Ausprägungen enthält, gab und gibt es freilich auch; etwa bei dem Karlsruher Wissensphilosophen Helmut Spinner.

Wissen und Zeit

Nun kommt bei den gelehrten Denkspielen noch eine Dimension hinzu, denn Wissen ändert sich. Nicht so sehr auf mein eingangs erwähntes Gedächtnisproblem bezogen; darüber sind die hohen Herren erhaben. Aber auch bei unserem Wissenskollektiv, das weit weniger vergisst, muss ein „y ist wahr“, das einmal galt, zehn Jahre später nicht mehr unbedingt gelten; gerade dort, wo die Wissens-Maßstäbe am strengsten sind. Somit haben wir nicht nur Wissenslücken; auch was wir zu wissen glauben, ist stets unter Vorbehalt. Schön ausformuliert hat das einmal Sir Karl Popper mit zwei Thesen, einer optimistischen und einer pessimistischen:

„Erste These: Wir wissen eine ganze Menge – und nicht nur Einzelheiten von zweifelhaftem intellektuellem Interesse, sondern vor allem auch Dinge, die nicht nur von größter praktischer Bedeutung sind, sondern die uns auch tiefe theoretische Einsicht und ein erstaunliches Verständnis der Welt vermitteln können.

Zweite These: Unsere Unwissenheit ist grenzenlos und ernüchternd. Ja, es ist gerade der überwältigende Fortschritt der Naturwissenschaften (auf den meine erste These anspielt), der uns immer von neuem die Augen für unsere Unwissenheit öffnet, gerade auch auf diesem Gebiet der Naturwissenschaften selbst. Damit hat aber die sokratische Idee des Nichtwissens eine völlig neue Wendung genommen. Mit jedem Schritt, den wir vorwärts machen, mit jedem Problem, das wir lösen, entdecken wir nicht nur neue und ungelöste Probleme, sondern wir entdecken auch, dass dort, wo wir auf festem und sicherem Boden zu stehen glaubten, in Wahrheit alles unsicher und im Schwanken begriffen ist.“

Wissen und Methoden

Dieser Prozess der Selbstprüfung ist ständig im Gange, gehört zur intellektuellen Hygiene der Wissenschaft. Sind alle Modellvoraussetzungen haltbar, ist keine Dimension vergessen worden, sind alle angenommenen Konstanten wirklich Konstanten und keine Variablen – und so fort. In Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“ gibt es eine witzige Stelle, an der das Buch den Mathematiker (und Statistiker) Carl Friedrich Gauß mutmaßen lässt, dass auch die anerkannten Naturgesetze nur stochastisch gelten und es Dinge wie Magie, Zauberei, Hexerei in der Welt als sozusagen zufällige Ausschläge der Natur durchaus geben könnte. Der Gesprächspartner erschrickt da recht heftig; aber das Selbst-Prüfen und Selbst-Hinterfragen auch gegen abstrus erscheinende Einwände gehört zum Prozess der Wissensgewinnung eben dazu.

Und nicht nur das Selbst-Hinterfragen. Mittlerweile übersteigen schon einzelne Fachdisziplinen das Maß an Wissen, das ein einzelner gewinnen und verarbeiten kann. „Wissen“ im praktischen Sinn des Wortes bedeutet hier weitgehend „Vertrauen“ – aber nicht blindes Vertrauen, sondern nur auf das, was anerkannte Kollegen nach anerkannten Methoden erforscht zu haben glauben und was man in den Bibliotheken findet.

Daten, Information, Wissen

Was man in den Bibliotheken findet – ist das eigentlich Wissen? Nach der Definition, die wir oben probeweise verwandt haben, gibt es kein Wissen ohne denkendes Subjekt. Eine Bibliothek denkt nicht – also „weiß“ sie nichts.

Hier kommt nun die Abstufung zum Tragen, die mit der Informatik Einzug gehalten hat, als Modell aber durchgehend angewendet werden kann. Üblicherweise unterscheidet man drei Stufen: Daten, Information und Wissen. Daten sind reine Zeichen – Buchstaben, Ziffern – oder reine Signale; Schall, wenn man spricht, Hirnchemie, wenn man denkt. An sich haben sie keine Bedeutung; die erhalten sie erst mit einer Interpretationslogik. Die Ziffernfolge 111 kann sehr viel bedeuten – „Hundertelf“ = 10²+101+100 im Dezimalsystem oder „Sieben“ = 2²+21+20 im Binärsystem oder etwas völlig anderes. Daten plus Interpretationslogik ergibt Information. Hieroglyphen stellten über Jahrhunderte für die sprachunkundigen Neuzeitler nur Daten dar; seit dem Fund des Steins von Rosette sind sie Information. Und zu Wissen werden sie erst, wenn sie vom Menschen verarbeitet, als wahr und als relevant erkannt werden; was durchaus nicht dasselbe ist. „Information“, so der oben schon einmal genannte Professor Spinner aus Karlsruhe, „determiniert nicht Erkenntnis; beides getrennt oder zusammen nicht Kenntnis. Was informativ ist, muss nicht richtig sein. Was richtig ist, muss nicht wichtig sein.“

Wissens- und Informationsmedien

Praktische Bedeutung hat diese Unterteilung erst mit der Auslagerung von Information aus dem menschlichen Gehirn erhalten. Solange es an Informationsspeichern mangelte, fielen alle Kategorien zusammen. Thomas von Aquin, der große Philosoph des christlichen Mittelalters, war berühmt dafür, die Texte ganzer Bücher wörtlich im Kopf gespeichert zu haben. Für ihn hätte eine definitorische Dreiteilung in Daten, Information, Wissen kaum einen Sinn gehabt. Mit der massiven Verbreitung externer Informationsspeicher wurde sie aber zunehmend wichtig. Papyrusrollen, Bücher, Speicherkassetten, Festplatten dienen hier alle dem gleichen grundlegenden Zweck, nur mit zunehmender Effizienz.

Ob zusätzlich zur Effizienzsteigerung mit einem neuen Medium stets eine neue Qualität entsteht, ist dagegen so eindeutig nicht. Zwar nimmt die Informationsmenge erkennbar exponentiell zu – von einer Verdoppelung alle paar hundert Jahre auf bald eine Verdoppelung alle zwölf Monate und wer weiß, wohin noch. Aber zunehmendes Wissen ist damit nicht automatisch verbunden; Information kann in Büchern verstauben ohne Menschen, die sie lesen können. Die Wissensmenge, die Menschen verarbeiten können, ist aber bislang biologisch begrenzt; und ähnlich, wie die Informationsspeicher bei Annäherung an die Atomgröße an eine natürliche Grenze stoßen könnten, mag die Wissensmenge einer Gesellschaft limitiert sein durch die Zahl der Menschen, die sich berufsmäßig mit Wissen beschäftigen können – mithin die Zahl der denkfähigen Menschen überhaupt.

Wissen und Ökonomie

Mag eine solche Wissensgrenze auch noch in einiger Ferne liegen, stellt sich weit vorher schon die Frage nach dem, was die Ökonomen das Prinzip des abnehmenden Grenznutzens nennen. Denn der Nutzen, den man aus Wissen zieht, nimmt nicht notwendigerweise linear mit der Wissensmenge zu. Wissen muss effizient bewirtschaftet werden.

Vielleicht ist das nicht auf den ersten Blick offenkundig. Ganz augenscheinlich gilt es für blanke Information. Lese ich ein Buch über, sagen wir, die Bundeskanzlerin Angela Merkel, lerne ich daraus recht viel über ihre Biographie; beim zweiten Buch, wenn es einen anderen Ansatz wählt, vermutlich auch noch einiges; ab dem dritten nur noch Einzelheiten, weil vieles sich wiederholen wird. Die Menge neuen Wissens nimmt für mich ab (wenn das Wissen durch mehrere Quellen auch zugleich sicherer wird). Aber das Wissen stiftet auch selbst weniger Nutzen. Wenn ich die Grundzüge Merkelscher Politik verstanden habe, trägt weiteres Wissen, über ihre wissenschaftliche Laufbahn, ihre Datscha in der Uckermark, ihren bevorzugten Brotaufstrich nur noch sehr begrenzt zu meiner politischen Bildung bei.

Effizient wirtschaften müssen vor allem jene, die sich mit einem Thema beschäftigen, von dem sie noch wenig wissen. Das gilt für Studenten, Berufseinsteiger, vor allem aber solche Menschen, die selber von der Verbreitung von Wissen leben, wie Lehrer und Journalisten, sich aber auf einem so breiten Themenspektrum tummeln, dass ihr eigenes Wissen niemals an das echter Experten heranreicht.

Tatsächlich kommt man oft mit wenig Wissen schon recht weit – jedenfalls gegenüber denen, die noch weniger wissen. Ein wenig Gaukelei ist da immer im Spiel. Bei Thomas Mann kann man viel Schönes dazu nachlesen, im Felix Krull etwa oder in den Josephsromanen. In „Der junge Joseph“ lässt der Ironiker seinen Helden auf einem bunten orientalischen Markt auftreten und mit wenig Wissen viel Bewunderung einheimsen. „Er ließ Sprachkenntnisse glänzen, die er mit Hilfe Eliezers erworben, und redete unterm Tore chettitisch mit einem Manne aus Chatti, mitanisch mit einem aus dem Norden und einige Worte ägyptisch mit einem Viehhändler aus dem Delta. Es war nicht viel, was er wußte, aber ein Gescheiter redet mit zehn Worten besser als ein Dummer mit hundert, und er verstand es, wenn nicht dem Unterredner, so doch denen, die zuhörten, den Eindruck wunderbarer polyglotter Beliebigkeit zu erwecken.“ Wem die ans Alte Testament angelehnte Geschichte gar zu weit weg erscheint, möge sich an die Bewunderung erinnern, mit der die Presse einst vom weltmännischen Englisch des Freiherrn zu Guttenberg schrieb und davon, wie er in den Ferien Platons Politeia im griechischen Original las. – Wo Wissen soziales Prestige verheißt, sind die Hochstapler nicht weit.

Das Recht auf Nichtwissen

Dies am Rande. Wissen muss bewirtschaftet werden, ob in guter und in böser Absicht, und sein Grenznutzen nimmt mit der Menge ab. Bleibt freilich die Frage, ob der Nutzen auch negativ werden, ob zu viel Wissen also Schaden stiften kann.

Nun sitzt Wissen, wie schon mehrfach gesagt, in den Köpfen der Menschen. Offensichtlich negativ kann für uns das falsche Wissen in den falschen Köpfen sein. Wissen über bestimmte Waffen etwa in den Köpfen von Gewalttätern. Oder ganz simpel Wissen über unser Privatleben in Köpfen, in denen wir es nicht haben wollen.

Wir durchleben derzeit eine Phase der Furcht vor Durchleuchtung, durch Behörden und Firmen, die Zeit der Ernüchterung nach der großen Euphorie in den Anfangsjahren des Informationszeitalters. Mediengeschichtlich ist das völlig normal; jedes neue Medium wird teils mit berechtigten, teils völlig irrationalen Hoffnungen und Ängsten verbunden. Die große Euphorie, dass das Sender-Empfänger-Verhältnis aufgebrochen und jeder ein eigener Informations-, Meinungs-, Kulturproduzent werden könne, ist keine Erfindung des Web 2.0; dergleichen gab es schon bei der Erfindung des Radios. Damals wie heute aber scheitert das Alle-werden-Sender-Theorem schon aus Zeitgründen. Was alle senden, können niemals alle empfangen und verarbeiten, folglich schrumpft die Reichweite bei den Kleinsendern auf nicht viel mehr, als das abendliche Thekengespräch früher in der Dorfkneipe hatte. Man kommuniziert anders, man kommuniziert auch mehr, aber die Grenze ist durch das Zeitlimit sehr streng vorbestimmt.

Umgekehrt übertreiben wir es auch gern mit unseren Sorgen. Die Furcht vor der allgemeinen Volksverdummung hat alle Medienumbrüche seit dem Buchdruck konstant begleitet. Dass man nichts mehr auswendig lernt, dass man nicht mehr liest, dass man nicht mehr Radio hört, dass man nicht mehr fernsieht – regelmäßig galt und gilt das alles als kultureller Untergang des Abendlandes. Übersehen wird dabei regelmäßig, dass mit jedem neuen Medium die Reichweite stieg. Medienkonsum war früher ein Elitenphänomen. Ganze Bücher rezitieren konnten im Mittelalter vielleicht ein Thomas von Aquin und einige Mönche, Bücher lesen zu Gutenbergs Zeiten nur kleine Zirkel von Gebildeten. Über das Internet Information konsumieren können jedenfalls in westlichen Ländern heute nahezu alle. Massenmedien demokratisieren die Information. Dass die Masse als kulturbestimmender Faktor dann nicht mehr den Geschmack aufweist wie früher Könige und Gelehrte – nun schön. Aber wer das zurückdrehen möchte, muss sich auch anderes aus alter Zeit zurückwünschen.

So ist denn auch die Furcht vor zu viel Wissen über uns in den Köpfen von Geheimdienstlern und Händlern um ein gutes Stück übertrieben. Zum einen, weil es auch Nutzen stiftet; Sicherheit im einen Fall, personalisierte Ansprache im anderen. Wer sich die Frage ernsthaft stellt, wird auf den Einkäufen basierende, sehr treffsichere individuelle Anzeigen von Amazon jedenfalls als sehr viel wohltuender empfinden als die Postwurfsendungen alten Stils, die man fast durchweg ungelesen im Papierkorb entsorgt.

Zum anderen schafft es allein aufgrund der schieren Zahl der betroffenen Menschen die Information in den allermeisten Fällen nicht zum Wissen; sie bleibt in Maschinen gespeichert und die Drohung, dass sie durch Menschen missbraucht werden könnte, daher doch zumeist sehr abstrakt.

Dies zum Wissen von anderen über uns. Das Recht auf Nichtwissen, wie es von Hans Jonas einmal formuliert wurde, bezog freilich auch andere Punkte mit ein; Dinge, die ich selbst von mir und anderen nicht wissen möchte, Dinge, bei denen sich eine Gesellschaft insgesamt entscheidet, sie nicht wissen zu wollen. Diese Interpretation, aufgekommen in den späten 1970ern, frühen 1980ern, ist auch furchtgetrieben, im Kern durch die Furcht vor den Nebenwirkungen moderner Technik, vor Massenvernichtungswaffen, vor den Gefahren der Kernkraft, vor zunehmender Umweltzerstörung, vor der Selbstmanipulation des Menschen über die Genetik. Dies ist tatsächlich, menschheitsgeschichtlich gesehen, etwas relativ Neues. Früher kam die Gefahr durch Naturgewalten; mehr Wissen, mehr Technik versprach ein Mehr an Schutz. Mittlerweile hat die Gewalt des Menschen über die Natur so sehr zugenommen, dass auch sein eigenes Zerstörungspotential relevanter Teil der Gesamtbetrachtung sein muss. „Pathologien der Vernunft“, wie der Papst Benedikt XVI. sie einmal nannte, technische Mittel ohne mitgewachsenes ethisches Urteilsvermögen sind keine ganz ferne Utopie mehr. Freilich: Zerstörerisch wirkt hier weniger das Wissen selbst; Zerstörung bringen nur Taten, ermöglicht durch Technik, ermöglicht durch Wissen. Die Kausalkette ist also eine sehr indirekte.

Wissen und Arbeit

Sind Wissensökonomie und Wissensgesellschaft auch etwas grundlegend Neues? Wissen als Produktionsfaktor ist ganz und gar nicht neu; schon der bäuerliche Selbstversorger alter Tage konnte ohne Wissen über Klima und Jahreszeiten, Feldfrüchte und Ackerboden nicht auskommen. Wenn die Ökonomen von den Produktionsfaktoren Boden, Kapital und Arbeit sprechen, so bedeutete die Arbeit immer schon die Kombination aus menschlichem Wissen und menschlicher Arbeitskraft. Freilich haben die Gewichte sich so sehr verschoben, dass man von einer neuen Qualität durchaus sprechen kann. Der Zeitanteil, den der durchschnittliche Arbeitnehmer in Industrie- oder Postindustrieländern heute mit Kopfarbeit gegenüber Handarbeit verbringt, ist viel, viel größer als in alter Zeit. Auch die Zeit, die man mit Lernen verbringen muss. Technischer Fortschritt und wechselnde Anforderungen zwingen heute dazu, in zwei Jahren mehr zu lernen als früher in zwei Generationen. So dass zu tiefes, zu spezialisiertes Wissen in manchen Fällen auch zum Nachteil gereichen kann, indem man mit seinem Wissen veraltet. Unwissenheit zum richtigen Zeitpunkt kann auch eine Stärke sein.

Damit verschieben sich auch die Rollen derjenigen, die Wissen aktiv bewirtschaften. Mönche, Gelehrte, Professoren galten einst primär als Wissensbewahrer, die Bibliotheken als Wissenslager mit geringem Umschlag und wenig Neuem, das hinzukam. Heute geht es um Wissensproduktion, Wissensdistribution; die ehrwürdigen Wissenshüter sind zu Händlern auf einem belebten Marktplatz geworden.

Auf diesem Marktplatz müssen wir uns nun zurechtfinden: als Marktteilnehmer ebenso wie als Bürger des Staates, der sich um Regeln für das Marktgeschehen bemüht. Dass wir viel vergessen, das wir einmal gelernt haben, ist nicht ungewöhnlich; Überproduktion und Vergeudung sind fester Bestandteil des Kapitalismus, einer freien Gesellschaft überhaupt. Ob der Markt freilich bei der Produktion von Wissen auch so überlegen effizient funktioniert wie bei Gütern und Dienstleistungen und die Streuverluste damit überkompensiert: das muss sich noch erweisen.


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