Verpasste Chancen auf dem Weg zur Einheit

Am 11.09.2010 ist die bekannte DDR-Bürgerrechtlerin und Mitbegründerin des Neuen Forums Bärbel Bohley nach schwerer Krankheit gestorben. In ihrem letzten Interview mit Akademische-Blätter-Redakteur Stefan Martin zeigte sie sich noch einmal als große Menschenfreundin und unbeirrbare Kämpferin für Freiheit und Demokratie.


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AK-Blätter: Am 9. November 1989 fiel die Mauer. Am Tag danach kommentierten Sie den Mauerfall mit den Worten: „Heute ist uns die Revolution kaputtgemacht worden.“ Ist der Mauerfall zu früh gekommen?

Bohley: Schauen Sie sich die weitere Entwicklung an. Viele Leute aus dem Osten sind auch nach Jahren nicht im Westen angekommen. Sie hätten mehr Zeit benötigt, um sich selbst zu finden und ihre Ziele zu formulieren. Die Wiedervereinigung war ja im Grunde genommen eine Sturzgeburt. Da blieb für uns Ostdeutsche kein Raum und keine Zeit, die Einigung aktiv mitzugestalten. Das haben Helmut Kohl und die Ost-CDU für uns übernommen.

AK-Blätter: So verständlich der Wunsch vieler DDR-Bürgerrechtler war, die DDR demokratisch zu reformieren und die Verfassungsdiskussion in den Mittelpunkt zu stellen – welche Erfolgschancen hätte ein solches Unterfangen gehabt, angesichts der stark anschwellenden Zahl von Ausreisewilligen  und der maroden Wirtschaft?

Bohley: Ich denke, man hätte die Wiedervereinigung für beide Seiten zufriedenstellender gestalten können, wenn die politischen Kräfte im Westen das Selbstbestimmungsrecht der Ostdeutschen anerkannt und gefördert hätten.
Die CDU nutzte die Gunst der Stunde geschickt aus, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Sie war ja zu dieser Zeit bereits auf dem absteigenden Ast, ihr Rückhalt in der Bevölkerung bröckelte. Die deutsche Einheit hat Helmut Kohl noch einmal gerettet.

AK-Blätter: Wie sah es mit den Grünen aus? Was waren deren Motive, die Bürgerrechtsbewegung der DDR zu unterstützen?

Bohley: Auch den Grünen ging es letztlich nur um Macht. Da die Grünen im Osten nicht organisiert waren, ging es ihnen darum, einen Fuß in die Tür bekommen. Nicht anders war es bei der SPD, die im Osten bis 1989 quasi keinen Partner hatte. Da hatten es CDU und  FDP schon leichter: Sie griffen sich die Ost-CDU und die LDPD und nahmen so massiven Einfluss auf den Prozess der Wiedervereinigung.

Letztendlich haben es die Grünen geschafft, die Bürgerrechtsbewegung zu manipulieren und kaputtzumachen. Die Frage, ob wir uns in Bündnis 90 umbenennen sollten, löste heftige Diskussionen innerhalb des Neuen Forums aus. Einige gründeten schließlich die Forums-Partei, um sich gegen die Vereinnahmung durch die Grünen zur Wehr zu setzen.

AK-Blätter: Noch einmal: Wäre eine demokratische Reformierung der DDR aus eigener Kraft möglich gewesen?

Bohley: Darüber lässt sich nur spekulieren. Die katastrophale wirtschaftliche und gesellschaftliche Lage hätte es zumindest nicht leichter gemacht.

AK-Blätter: Bei einem Treffen mit Oppositionsvertretern im Dezember 1989 äußerte  der damalige Bürgermeister von Berlin, Walter Momper, die Macht liege auf der Straße, sie müsse nur aufgenommen werden.

Bohley: Ich weiß nicht, wie Walter Momper sich das vorgestellt hat. Es war wohl ein Versuch, die Macht zu organisieren und uns zuzuspielen, um sie dann selbst zu übernehmen. Diese Rechnung hat er ohne uns Bürgerrechtler gemacht. Auch wenn wir natürlich zu diesem Zeitpunkt einen großen Rückhalt in der Bevölkerung besaßen, wussten wir sehr wohl, dass wir nicht legitimiert waren, die Macht einfach so an uns zu reißen. Außerdem waren in dieser Gruppe mehrere IM. Mit denen wollten wir auf keinen Fall gemeinsame Sache machen.

AK-Blätter: Nach polnischem Vorbild wurde am 7. Dezember 1989 ein „Zentraler Runder Tisch“ aus Vertretern der Oppositionsbewegung, der SED und der Blockparteien eingerichtet, dem auch Sie angehörten. Heftig gerungen wurde um die zukünftige Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Die Oppositionsvertreter setzten sich schließlich mit ihrer Forderung nach einer Auflösung des MfS („Stasi“) durch. Hätte man nicht konsequenterweise auch eine Auflösung der SED fordern müssen? Immerhin war die SED der Auftraggeber der „Stasi“.

Bohley: Eine berechtigte Frage. Doch muss man sich die damalige Situation vor Augen halten. Die SED hatte zwei Millionen Mitglieder; sie war die politisierte und am besten organisierte Gruppierung in der DDR. Ein Verbot hätte man nur gegen enorme Widerstände durchsetzen können.

AK-Blätter: Der „Zentrale Runde Tisch“ trat gegen eine Vernichtung der Stasi-Akten ein, stimmte aber gleichzeitig für die Vernichtung aller Magnetbandspeicher des MfS, mit dem Argument, es solle in Zukunft keiner mehr damit arbeiten können. Würden Sie diese Entscheidung heute als Fehler bezeichnen?

Bohley: Diese Entscheidung war wirklich absurd und zeigt, wer immer noch über großen Einfluss am Runden Tisch verfügte. Da saßen SED-Leute und Inoffizielle Mitarbeiter der Staatsicherheit, die ihre eigene Logik verbreitet haben. Einige Bürgerrechtler haben sich von denen über den Tisch ziehen lassen.

AK-Blätter: Am 18. März 1990 fanden die ersten freien Wahlen statt. Eindeutiger Gewinner war die von Helmut Kohl geschmiedete „Allianz für Deutschland“, ein Zusammenschluss aus CDU, DSU und Demokratischem Aufbruch. Die Partei der Bürgerrechtsbewegung Bündnis 90 war mit 2,9 % der Stimmen überraschender Wahlverlierer. Warum tat sich die Bürgerrechtsbewegung so schwer, ihren moralischen Kredit in der Bevölkerung auch in politische Macht umzusetzen?

Bohley: Der Kardinalfehler war, dass wir uns zum Bündnis 90 zusammengeschlossen haben. Wir hätten als Neues Forum zu den Wahlen antreten müssen! Die Menschen haben sich in der Wahlkabine gefragt: Wo ist die Bürgerrechtsbewegung? Wo ist das Neue Forum? Hinzu kam, dass viele Leute der Bürgerrechtsbewegung nicht zugetraut haben, auf der großen politischen Bühne zu bestehen.

AK-Blätter: Weniger bekannt ist, dass der „Zentrale Runde Tisch“ einen Verfassungsentwurf ausgearbeitet hat, den die Volkskammer abgelehnt hat. Wurde damit eine Chance vertan, dem Selbstbestimmungsrecht der Bürger mehr Geltung zu verschaffen?

Bohley: Ich hätte mir gewünscht, dass die Verfassungsdiskussion bei der Wiedervereinigung eine größere Rolle gespielt hätte. Leider wurde diese Diskussion von Anfang an klein gehalten. Die Volkskammer hat letztlich nur so entschieden, wie ihr das von Bonn eingeflüstert wurde.

AK-Blätter: Am 18. Mai 1990 wurde der Staatsvertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion unterzeichnet, am 1. Juli wurde die D-Mark in der DDR eingeführt. Am 3. Oktober trat die DDR schließlich nach Artikel 23 dem Geltungsbereich des Grundgesetzes bei. Konnten die Menschen dieser Entwicklung überhaupt folgen?

Bohley: Viele Menschen waren überfordert. Ihr Leben änderte sich rasant, sowohl im politischen und wirtschaftlichen als auch im privaten Bereich. Eine weitere Schwierigkeit bestand darin, den Umbruch von 1989 mental zu verarbeiten und mit der neugewonnenen Freiheit zurechtzukommen.

AK-Blätter: Die politischen Akteure von damals würden Ihnen entgegenhalten, dass man in Anbetracht des begrenzten Zeitfensters zu schnellem und entschlossenem Handeln gezwungen war.

Bohley: Natürlich hat die Zeit gedrängt, da brauchen wir uns nichts vorzumachen. Doch rechtfertigt dieser Zeitdruck nicht, dass man die Menschen nicht in den Einigungsprozess eingebunden hat.

AK-Blätter: Was wäre nötig gewesen, um die Menschen „mitzunehmen“?

Bohley: Ich hätte mir ein größeres Interesse des Westens gegenüber dem Osten gewünscht. Es gab kein wirkliches Interesse an den Menschen und ihrer Lebenssituation. Der Westen hat den Mauerfall als sein Verdienst verbucht, ohne wahrzunehmen, dass die Veränderungen, die zum Mauerfall führten, von den Bürgerrechtlern im Osten angestoßen wurden. Auch hätte ich mir eine gesamtdeutsche Debatte über Werte und Maßstäbe gemeinsamen politischen Handelns gewünscht. Wirtschaftswachstum allein bringt uns nicht weiter. Was haben wir von wirtschaftlichem Wohlstand, wenn die Menschen unzufrieden sind?

AK-Blätter: Helmut Schmidt hat damals eine „Blood, sweat and tears“-Rede gefordert, wie sie Churchill im britischen Unterhaus während des Zweiten Weltkrieges gehalten hat. Wäre das eine Option gewesen – die Menschen auf die kommenden Härten vorzubereiten, um sie zusammenzuschweißen? Stattdessen wurden ihnen „blühende Landschaften“ versprochen.

Bohley: Ich finde es unfair Helmut Kohl gegenüber, wenn man ihm immer wieder die „blühenden Landschaften“ zum Vorwurf macht. Genau das kann man ihm nicht vorwerfen! Schauen Sie sich doch einmal um: Wenn man die Lebensverhältnisse im Osten mit denen der ehemaligen DDR vergleicht, wird man feststellen, dass es die blühenden Landschaften mittlerweile gibt.

AK-Blätter: Also hat Helmut Kohl alles richtig gemacht?

Bohley: Die Menschen im Osten kannten die Politiker des Westens im Grunde genommen gar nicht. Alles was sie wollten, war Sicherheit, Freiheit und bescheidener wirtschaftlicher Wohlstand. Um das zu bekommen, haben sie diejenige Partei gewählt, die ihnen die Erfüllung dieser Sehnsüchte in Aussicht stellte; das war eben zur damaligen Zeit die regierende Koalition aus CDU und FDP. Wenn damals die SPD regiert hätte, dann hätten die Leute wahrscheinlich die SPD gewählt.

AK-Blätter: Zurück zu Helmut Schmidt: Hätte man den Menschen mehr zumuten müssen?

Bohley: Man hätte viel deutlicher machen müssen, dass die Bewältigung des politischen Transformationsprozesses eine gewaltige Aufgabe darstellt, nicht nur für die Menschen in Deutschland, sondern vor allem auch für die Menschen in den ehemaligen kommunistischen Ostblockländern. Während wir in Deutschland die Wende leidlich gut hinbekommen haben, haben die osteuropäischen Länder teilweise bis auf den heutigen Tag mit den Folgen des Zusammenbruchs des Kommunismus zu kämpfen.

AK-Blätter: 1996 gingen Sie nach Bosnien-Herzegowina und engagierten sich dort in verschiedenen Projekten für die vom Krieg gebeutelte Bevölkerung. Nach 12 Jahren kehrten Sie 2008  nach Berlin zurück. Wie stellte sich die Situation der Menschen in Bosnien für Sie  dar?

Bohley: Wenige haben sich am Krieg bereichert, den meisten Menschen geht es wirtschaftlich schlecht. Leider sind sie vom Status des mündigen Bürgers noch weit entfernt. Die Menschen dort haben es nicht gelernt, demokratische Rechte einzufordern und dafür zu kämpfen.

Mein Anspruch war und ist nie bescheiden gewesen. Um die Probleme dieser Welt anzugehen, kann man nicht genug mündige Bürger haben, das galt damals für die DDR, das gilt heute für Bosnien und Afghanistan. Die Welt braucht Menschen mit klarem Verstand, die mehr an eine nachhaltige Zukunft denken als an Wachstum und mehr an Nächstenliebe als an die Durchsetzung egoistischer Interessen. Das gilt durchaus nicht nur für Länder wie Bosnien, sondern auch für prosperierende, westeuropäische Länder wie Deutschland.

AK-Blätter: Wo sind die Menschen glücklicher, in Deutschland oder in Bosnien?

Bohley: In Deutschland sind sie definitiv nicht glücklicher als in Bosnien. Wohlstand allein macht nicht glücklich. Die Menschen sind dann zufrieden, wenn sie das Gefühl haben, in gesellschaftliche Prozesse eingebunden zu sein und selber etwas zur Lösung der Probleme beitragen zu können. Wenn die Menschen sehen, sie können das nicht, weil sie gleichsam nur verwaltet werden von einem undurchsichtigen bürokratischen Apparat, wie wir es jetzt leider auch auf europäischer Ebene sehen, dann entmutigt das die Leute, und mit entmutigten Leuten kann man die Welt nicht verändern.

AK-Blätter: Ist es aus Ihrer Erfahrung heraus möglich, unser Verständnis von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf andere Länder zu übertragen?

Bohley: Wir können unsere Art von Demokratie nicht 1:1 exportieren. Was man tun kann, ist, Rahmenbedingungen für ein demokratisches Staatswesen zu schaffen, indem man die Sicherheit der Bürger gewährleistet und rechtsstaatliche Institutionen aufbaut. Das Wichtigste aber ist, die Menschen mit einzubeziehen. Ich habe es in Bosnien und auch in Ostdeutschland nach der Wende erlebt, dass die Menschen alle negativen Aspekte der neugewonnenen Freiheit mit der neuen Staats- und Regierungsform in Verbindung bringen und dabei völlig vergessen, welche schöpferische Kraft in jedem Einzelnen steckt. Das zeigt mir, dass man den Menschen die Möglichkeit geben muss, sich in die Gesellschaft einzubringen und sich aktiv am politischen Willensbildungsprozess zu beteiligen.

AK-Blätter: Deutschland erlebte 1848/49 schon einmal eine Freiheitsrevolution. Leider sind diese mutigen Vorkämpfer für Freiheit und Demokratie heute nahezu in Vergessenheit geraten, wohl auch deshalb, weil die Revolution von 1848/49 ein trauriges Ende nahm. Welchen Stellenwert wird die friedliche und dazu noch erfolgreiche Revolution von 1989 in der politischen Erinnerungskultur der Deutschen in 100 Jahren einnehmen?

Baerbel Bohley

Bärbel Bohley (* 24.05.1945 † 11.09.2010) Foto: Nikola Kuzmanic

Bohley: Man wird sich auch in 100 Jahren noch an die Revolution von 1989 erinnern, zumal sie nicht nur auf Deutschland beschränkt war. Das Signal dieser Revolution ist: Jede Art von Unterdrückung und Manipulation des Bürgers findet irgendwann einmal ein Ende. Die Revolution von 1848/49 ist auch nicht ständig in unseren Köpfen präsent. Aber immer wenn es um Freiheit und Demokratie geht, erinnert man sich an die Paulskirche. So wird es auch mit der Revolution von 1989 sein.

 

Bärbel Bohley zählte zu den bekanntesten Bürgerrechtlern der ehemaligen DDR. Geboren 1945 in Berlin, lebte und arbeitete sie bis zum Mauerfall 1989 in der DDR. Aufgrund ihrer oppositionellen Aktivitäten geriet sie wiederholt in Konflikt mit der Staatssicherheit und wurde zweimal inhaftiert. Als Mitbegründerin der Bürgerbewegung Neues Forum setzte sie sich für eine demokratische Erneuerung der DDR ein. Für ihre Verdienste um die friedliche Revolution in der DDR wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz (1994) und dem Nationalpreis (2000) ausgezeichnet.


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Stefan Martin

geb. 1979, Ingenieur, VDSt Freiberg.

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