Volk und Staat

Die politische Unterdrückung ethnischer Minderheiten hat in Europa weitgehend aufgehört. Dennoch fürchten viele Volksgruppen um ihren Fortbestand. Zum aktiven Schutz ihrer kulturellen Vielfalt sind Regionen und Nationalstaaten gefordert.


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Unser heuriges Thema spielt im politischen Diskurs in Deutschland gemeinhin keine große Rolle. Einerseits, weil man sich wenig davon betroffen wähnt; in den Grenzen von 1990 ist die Bundesrepublik ein reinerer Nationalstaat als es die meisten anderen deutschen Staatsgebilde der Geschichte waren, und für die noch im Ausland lebenden deutschen Volksgruppen hat man mehrheitlich sich zu interessieren aufgehört. Andererseits, weil alle ethnopolitischen Fragen unangenehme Erinnerungen hervorrufen, an die Zeit zwischen 1918 und 1950 vor allem, und von ferne immer den Geruch von Blut und Boden mit sich bringen. Das alte Wort „Volkstumspolitik“ löst bei vielen ein Grummeln in der Magengegend aus. Nicht ganz zu Unrecht ob seiner historischen Kontamination. Aber im Effekt ändert das nichts; es gibt diese Politik und muss sie geben. Man kann andere Worte für sie gebrauchen, wird aber das gleiche mit ihnen meinen. Und man wird sie gebrauchen, wird über dieses Thema sprechen müssen, gerade wenn man gesamteuropäisch denken will und nicht eng nationalstaatlich. Die objektive Lage zwingt dazu.

Blick über den Tellerrand

Europa ist geprägt durch die Vielheit seiner Völker, die weit größer ist als die Vielheit seiner Staaten. Von kleinen Völkern, die inmitten größerer Völker leben oder zusammen mit ihnen in einem Staat: Basken in Spanien, Korsen in Frankreich, Waliser in Britannien, Sorben in Deutschland und viele mehr. Von Völkern auch, zwischen denen die Staatsgrenzen nicht so gezogen wurden und oft auch gar nicht gezogen werden können, dass sie ganz den Sprach- und Siedlungsgrenzen entsprechen. Es leben etwa Dänen in Deutschland, Deutsche in Italien, Ungarn in Rumänien, Schweden in Finnland, die alle in der einen oder anderen Form besondere Minderheitenrechte genießen. Nicht zu reden von echten Zwei- und Mehrvölkerstaaten, Belgien etwa, Bosnien, Lettland oder der Schweiz. Nicht zu reden auch von den verstreut lebenden Minderheiten, den Zigeunern quer durch Europa von alters her, den in jüngerer Zeit neu hinzugezogenen, Pakistanis in England, Araber in Frankreich, Türken in Deutschland und so fort, bei denen sich in naher oder ferner Zukunft auch einmal die Frage nach den Minderheitenrechten stellen mag. Kurz: Europa ist ein ethnopolitischer Flickenteppich; die Zahl der nationalen Minderheiten schwankt je nach Zählung, aber sicher ist: sie geht in die Hunderte.

Menschenrechte und sichere Grenzen

Was folgt daraus? Zunächst einmal, das ist Konsens, ist sicherzustellen, dass den nationalen Minderheiten durch die Mehrheit ihre elementaren Menschenrechte gewährt werden. Dass sie ihre Sprache offen sprechen, ihre Bräuche pflegen, ihre Religion ungehindert ausüben dürfen; nicht benachteiligt werden in den Schulen, durch die Verwaltung, im Wirtschaftsleben.

Das erscheint trivial in unserer Zeit mit umfangreicher Antidiskriminierungsgesetzgebung, die in mancher Übertreibung wiederum selbst zur Karikatur reizt. Es ist in vielen Ländern Europas inzwischen auch weitgehend Realität, mit gewissen Gradunterschieden.  Mancherorts, zumal in Südosteuropa, ist es aber noch keine Selbstverständlichkeit und war es noch weniger, wenn man zehn, zwanzig, dreißig Jahre zurückgeht; man bewegt sich hier auf historisch unsicherem Grund, und schwerlich nur ist abzuschätzen, was an latenten Konflikten in den Völkern noch schlummert und, unter ungünstigen Umständen, vielleicht einmal wieder zum Ausbruch kommen könnte.

Vieles davon ist verursacht oder mindestens doch katalytisch verstärkt worden durch unglückliche Politik, die lange Zeit meinte, an den Grenzen der Staaten herumoperieren zu müssen. Nach dem Ersten Weltkrieg, nach dem Zerfall der östlichen Kaiserreiche, hat man bekanntlich den Versuch unternommen, die Grenzen Europas neu zu ziehen, um echte Volksstaaten dabei hervorzubringen. Das edle Ansinnen war, wir wissen es, befleckt durch mancherlei machtpolitische Interessen, die sich unter dem Deckmantel der freien Selbstbestimmung der Völker verbargen. Aber wäre es auch nicht so gewesen, hätte es unter den Staatsmännern Europas damals nur Engel und Heilige gegeben, sie hätten doch mit ihrem Unternehmen scheitern müssen. Die neuen Grenzen führten zwangsläufig zu schrecklichen Kämpfen und die frei gewordenen Völker taten einander und den Minderheiten in ihrer Mitte grausameres Leid an, als die alten Monarchen ihnen jemals zugemutet hatten. Man hätte es  ahnen können; schon 1848/49 war es so gewesen, als die alten Autoritäten für kurze Zeit gewankt hatten und die Völker in den Grenz- und Mischregionen schalten und walten konnten, wie sie wollten. Golo Mann erzählt es eindrücklich in seiner Deutschen Geschichte. „Sobald nun der preußische Staat den Polen politische Rechte zugestand, die sie bisher nicht besaßen, begannen sie sich als die Herren der Provinz aufzuspielen, errichteten ihre eigene Regierung, drangsalierten Deutsche und Juden. Der Befreite, bisher Entrechtete, nimmt sich mehr als ihm zukommt und tut gegen andere, was ihm bisher getan wurde. So begann auch der Tschechenführer Palacký bereits von einer Rückgewinnung Sachsens zu faseln, das ehedem tschechisch oder doch irgendwie slawisch gewesen sei und in dem die Deutschen sich verbotenerweise eingenistet hätten. In Prag war das nur Rederei; in Posen waren es Taten, Konfiskationen, Plünderungen.“ So 1848/49; so nach 1918, nur länger und blutiger, wobei Herren und Unterdrückte, Täter und Opfer mehrfach wechselten.

Von dem Gedanken gerechter Grenzen muss man sich verabschieden. Die Völker Europas sind viel zu alt und haben sich viel zu oft wechselseitig aneinander versündigt, als dass man von Recht überhaupt noch sprechen könnte. Verabschieden muss man sich ferner von dem Gedanken, mit gerechten Grenzen und befreiten Völkern komme der Friede wie von selbst. So war es nicht und wird es nie sein; auch nicht in den afrikanischen, arabischen, asiatischen Staaten, die neuerdings frei zu werden scheinen von den alten Tyrannen.

Wo nach dem Zweiten Weltkrieg die Grenz- und Minderheitenfragen, die Deutschland betrafen, durch barbarische Massenmorde deutscherseits, durch brutale Massenvertreibungen, die im Gegenzug folgten, sich weitgehend erledigt haben, sind sie auf der Balkanhalbinsel im Südosten Europas auch heute noch virulent. Und dort wiederholte sich das gleiche Schema, wie es sich immer wiederholt: die bedrohte, schwache Minderheit beruft sich auf das Recht, alte, heilige Verträge mit toten Marschällen und Königen, ewiges Naturrecht, neuerdings auf kodifizierte Menschenrechte; wird sie selber stark und zum Herrscher über andere, so ist das schnell vergessen, und anstatt des Rechts regiert die nackte Macht. Die großen Natostaaten mobilisierten zum Ende des Jahrtausends ihre Luftflotten und Zehntausende Fußsoldaten, um die albanische Minderheit in Serbien vor der Regierung  in Belgrad zu schützen; kaum war der autonome Kosovo-Staat errichtet, musste man dort mit Militärgewalt die serbische Minderheit gegen die Kosovaren verteidigen und muss es bis heute. Und die gleichen Formeln vom Vorrang der staatlichen Souveränität vor dem Selbstbestimmungsrecht einer Volksgruppe, die ihre Unterdrücker einst gebrauchten, hört man nun aus den Mündern der Politiker in Pristina.

Dies Schauspiel könnte weitergehen, bis jedes Bergtal sein eigener Staat geworden ist, und würde doch nichts lösen. Man kann es nicht leugnen, dass Minderheitenschutz ein Geschäft auf Gegenseitigkeit sein muss: Die Mehrheit verzichtet darauf, von ihrer überlegenen Stärke unterdrückerischen Gebrauch zu machen; die Minderheit verzichtet auf jeden Separatismus. Minderheitenschutz und gesicherte, anerkannte Grenzen sind zwei Seiten einer Medaille.

Gruppenrechte

Gar so trivial und selbstverständlich ist es also nicht mit den Menschenrechten für die Angehörigen von Minderheiten. Doch sind sie nur die Basis und der Anfang dessen, was man eigentlich eine positive Volksgruppenpolitik nennen kann. Über individuelle Gleichbehandlung geht eine solche Politik weit hinaus, sie kennt nicht nur Menschen-, sondern auch Gruppenrechte. Und hier endet denn auch der Konsens unter den Politikern und Völkerrechtlern, wie weit eine solche Politik reichen muss und darf.

Etwas vergröbert verläuft die Trennlinie in dieser Diskussion zwischen dem traditionellen französischen und dem traditionellen deutschen Staats- und Nationsverständnis, dem die Gelehrten und handelnden Politiker jeweils zuneigen. Die französische Lehre von der „nation une et indivisible“ sieht den Staat als reinen Verfassungsstaat, Nationalität als tägliches Plebiszit, ist kulturell und ethnisch gleichsam blind, theoretisch und praktisch zentralistisch, einförmig mit der Tendenz zur Homogenisierung; nationale, regionale Minderheiten, wie es sie zur Zeit der Französischen Revolution in der Bretagne oder Provence durchaus noch gab, sind im Grunde systemfremd, sind Störfaktoren. Nun, der französische Staat, der traditionsreiche Staat der Bourbonenkönige, ist viel älter als die französische Demokratie und das französische Nationalbewusstsein; der Staat schuf sich die Nation. In Deutschland ist es umgekehrt, gibt es eine alte Tradition der unscharfen Grenzen, der in sich verschachtelten Staatsgebilde, der föderalen Strukturen. Die deutsche Nation definiert sich über Sprache, kulturelle Überlieferung, historische Erfahrung, kaum über eine Staatszugehörigkeit; sie unterscheidet zwischen ethnos und demos. Der gedankliche Sprung zu Schutzrechten für nationale Minderheiten ist nicht sehr weit. Die Paulskirchenverfassung von 1848/49 sah sie bereits vor, jedenfalls in der Theorie. Doch was folgt praktisch daraus?

Unterscheiden kann man in Unterlassungs- und Handlungsgebote für den Staat. Die Unterlassungsgebote sind weitgehend unumstritten: dass der Staat alle politischen Maßnahmen zu unterlassen habe, welche die Minderheit in ihrem sprachlichen und kulturellen Fortbestand unmittelbar bedrohen. Also etwa durch eine aktive Bevölkerungspolitik zuungunsten der Minderheit, wie sie die Franzosen einst im Elsaß betrieben, Bismarck sie in Preußisch-Polen betrieb, wie man sie heute in Tibet findet mit der gezielten Ansiedlung großer Zahlen von Han-Chinesen, welche die autochthonen Tibeter zur Minderheit im eigenen Land zu machen droht („kultureller Genozid“ aus Sicht des Dalai Lama).

Kritischer steht es um die Handlungsgebote, wobei zwei Sphären zu unterscheiden sind: die politische Partizipation der Minderheit und die Kultur- und Sprachenpolitik im engeren Sinn. Die erste Streitfrage ist demokratietheoretisch; die zweite eher anthropologisch, nach dem Wert kultureller Vielfalt fragend. Beginnen wir mit der ersten.

Demokratietheoretisch ist die Frage, ob nationale Minderheiten bei der politischen Repräsentation bevorzugt werden sollen. Konkret sind solche Minderheiten zahlenmäßig oft zu klein oder leben zu zerstreut, um Abgeordnetenmandate in den Parlamenten zu erringen oder hierfür festgelegte Sperrklauseln zu überwinden. Zum Ausgleich gibt es in vielen regionalen und nationalen Parlamenten Europas Sonderregeln für einzelne Volksgruppen und die aus ihrer Mitte heraus gegründeten Parteien. Ebenso stellt sich die Frage, ob die Minderheit in bestimmten Fragen, die ihre kulturelle Identität betreffen, Mitbestimmungsrechte oder auch Veto-Rechte gegen Entscheidungen der Mehrheit erhalten soll.

Auf den ersten Blick sind solche Regelungen demokratietheoretisch problematisch, denn sie durchbrechen den Grundsatz one man one vote. Nicht wenige Politikgelehrte lehnen sie darum ab. Stark befürwortet werden sie unter anderem durch den Freiburger Staatsrechtsprofessor Dietrich Murswiek. Zwei markante Sätze von ihm beantworten die oben gestellten Fragen. „In einem Staat, auf dessen Gebiet mehrere Völker, Volksgruppen oder ethnische Minderheiten beheimatet sind, ist eine reine Mehrheitsdemokratie undemokratisch.“ Und: „Die Mehrheit ist prinzipiell nicht legitimiert, Entscheidungen zu treffen, durch die identitätsbestimmende Merkmale der Minderheit langfristig zerstört oder ihre Aufrechterhaltung praktisch unmöglich gemacht würde.“ Die dahinterstehende Argumentation beruft sich auf das immer in der Demokratie bestehende Spannungsfeld zwischen dem Mehrheitsprinzip und dem Schutz der individuellen Freiheit; lediglich niedrige oder mittlere Beeinträchtigungen dieser Freiheit seien legitim durch eine Mehrheit zu beschließen, Fragen der Identität, von Sprache, Kultur, Sitten, Religion für die Angehörigen von Minderheiten aber von entscheidender Bedeutung und damit dem Mehrheitsprinzip entzogen. (Umgekehrt liegen darin auch Grenzen für die sich üblicherweise in Quotenregelungen aller Art ausdrückende positive Diskriminierung, affirmative action nach amerikanischem Muster, weil nur identitätsbestimmende Fragen die hierfür nötige Bedeutungsschwere besitzen.)

Bewahrung von Kultur und Sprache

Nun gelangen wir zum zweiten Handlungsgebot für den Staat und auf das Feld der Kultur- und Sprachenpolitik (ein sperriges Wort, doch wir haben kein besseres), im wesentlichen: direkt oder indirekt staatlich gewährleistete und finanzierte Maßnahmen, die zum Fortbestand von Kultur und Sprache der nationalen Minderheit beitragen. Solche sind etwa: eigene Schulen mit muttersprachlichem Unterricht, eine mehrsprachige Verwaltung, überhaupt ein mehrsprachiger öffentlicher Raum mit entsprechenden Medien in Zeitungen, Funk, Fernsehen, Internet; Förderung von Brauch und Volkstum, der lokalen Theater und des Liedguts.

Dass eine Volksgruppe solcher Förderung überhaupt bedarf, ist natürlich bereits ein Zeichen von Schwäche; betroffen sind meist kleine Volksgruppen mit einer Bevölkerungszahl im fünfstelligen oder niedrigen sechsstelligen Bereich, deren Fortbestand akut gefährdet ist. Ob ein Staat solche Politik zur Förderung einer bestimmten Sprache und bestimmter Kulturformen überhaupt betreiben solle und dürfe, ist eine ernsthaft diskutable Frage. Wo Minderheitenpolitik in Zeiten der Unterdrückung durch einen aggressiven Zentralstaat natürlich, sympathisch, freiheitskämpferisch erscheint, wirkt die gleichsam museale Konservierung einer eigentlich im Niedergang begriffenen Kultur gezwungen, einengend, künstlich; liegt dahinter, möchte man fragen, nicht eigentlich ein arg simplifiziertes kulturstatisches Menschenbild, wonach auf ewig bewahrt werden müsse, was einmal sei? Ist es nicht der normale Gang der Weltgeschichte, wenn Kulturen, im Großen und im Kleinen, werden, wachsen, vergehen, wie auch in der Natur das Entstehen und Verschwinden biologischer Arten ein normaler Prozess der Evolution ist? Und wäre es nicht besser, wenn die alten Minderheiten sich durch allmähliche Assimilation in die Mehrheitsgesellschaften ganz oder doch nahezu auflösten und die Nationalstaaten sich auf diese Weise am Ende doch ausformten und abrundeten? Nach all dem Leid und Unheil, das die Kämpfe um Blut und Boden in Europa angerichtet haben?

Wie alles im Leben ist auch dies eine Frage des Maßes. Was den Frieden angeht: Aggressiv sind in aller Regel dynamische, junge Volksgruppen, solche die zahlenmäßig wachsen oder eine aufstrebende ausländische Schutzmacht hinter sich haben; schrumpfende, überalterte, in ihrer Substanz bedrohte Volksgruppen sind es nicht. Jeder Konflikt wäre für sie existenzgefährdend, das wissen sie.

Und die Analogie zur Natur trägt weiter, als man im ersten Augenblick denkt. Tatsächlich betreiben wir ja aktiv Naturschutz, ist die Erhaltung der Biodiversität eines seiner ranghöchsten Ziele. Weil wir das Artensterben als solches verhindern und den natürlichen Evolutionsprozess aufhalten wollen? Gewiss nicht. Sondern weil das Artensterben in den letzten Jahrzehnten durch menschlichen Einfluss, insbesondere durch die industrialisierte menschliche Hochzivilisation, gänzlich unnatürliche Ausmaße angenommen hat. Umweltschutzausgaben sind genau besehen nichts anderes als eine Reparationsleistung des modernen Menschen an die Natur, auf deren Kosten er seinen Lebensstandard verwirklicht.

Ethnodiversität

Mit dem Verschwinden zahlreicher ethnischer Minderheiten verhält es sich nicht anders. Überhaupt sollten wir aufhören, Natur und Kultur als völlig verschiedene, wesensfremde Sphären zu betrachten. Von den vielen bedeutungsschweren Sätzen, die Papst Benedikt XVI. im letzten September bei seiner Rede im Reichstag gesagt hat, sticht eine Aussage besonders hervor. „Die Bedeutung der Ökologie“, so der Pontifex, „ist inzwischen unbestritten. Wir müssen auf die Sprache der Natur hören und entsprechend antworten. Ich möchte aber nachdrücklich einen Punkt ansprechen, der nach wie vor – wie mir scheint – ausgeklammert wird: Es gibt auch eine Ökologie des Menschen. Auch der Mensch hat eine Natur, die er achten muss und die er nicht beliebig manipulieren kann. Der Mensch ist nicht nur sich selbst machende Freiheit.“

Die Ökologie des Menschen kann man weit oder eng sehen; wenn man Kultur und Sprache hinzuzählt, und viel spricht dafür, dann gerät sie immer mehr in Schieflage. Immer mehr Sprachen und Kulturen verschwinden, weltweit, ohne dass in vergleichbarem Maße neue entstehen. Zumeist nicht durch Politik, durch Krieg und Genozid, wiewohl das auch vorkommt; sondern in aller Regel, wie bei der Naturzerstörung, durch die moderne, technisierte Lebensweise: durch Landflucht und Verstädterung, durch verstärkte, oft vom Wirtschaftsalltag geforderte Mobilität; durch die Ablösung alter Berufsstände und Traditionsbindungen; durch die modernen, aber oft nur in den Hauptsprachen existierenden Medien, Funk, Film und Fernsehen; durch die allgemeine Tendenz zu Individualisierung und Globalisierung, unter der alle wichtigen Gruppenbindungen leiden, auch etwa die Kirchen, Gewerkschaften, Parteien.

Den Verlust, der im Absterben einer anderen Kultur liegt, spürt eine Mehrheitsgesellschaft freilich oft erst, wenn es zu spät ist. Wie in der Natur kann eine Kultur, einmal gestorben, nicht maschinell wiederhergestellt werden; man kann ihre alten Schriften und Zeugnisse im Museum ausstellen wie einen abgestorbenen Baum, sie aber nicht wieder zum Leben erwecken.

Nicht alles und jeden kann man konservieren wollen. Die Welt ist ein ständiges Werden und Vergehen. Aber schonungsvollen Umgang auch mit den kulturellen Ressourcen der Menschheit muss man erwarten.


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