Von unserer Wut erzählt der Wind

Victor Hugo gilt in manchem als französischer Goethe; genialer, olympischer Überschriftsteller in vielen Genres; freilich auch darin dem Geheimrat ähnlich, dass er sehr selektiv gelesen wird. Bevorzugte Lektüre sind bis heute Die Elenden, ein episches Sozialdrama mit allerlei Eigenheiten.


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Schriftsteller und Politiker – als Deutscher stutzt man, wenn man diese Berufsbezeichnung liest. Mischungen von Geist und Macht waren selten bei uns und bleiben es bis heute. Gewiss, unser Gigant, Goethe, war Minister; doch in einem kleinen mitteldeutschen Herzogtum in vordemokratischen Zeiten entsprach das ungefähr einem hohen Verwaltungsposten, nicht dem, was man mit Max Weber zu den Politikern sortieren würde. Politische Schriftsteller haben wir in Menge, die politische Ideen in ihrem Werk verarbeiten, oder Pamphlete verbreiten, und immer alles besser wissen als die Politiker. Handelnde, aktive Schriftstellerpolitiker aber kaum, mit kurzen Ausnahmen, 1848/49, 1918/19; und die endeten übel.

Victor Hugo war in Frankreich Politiker über Jahrzehnte – Pair, Abgeordneter der Nationalversammlung, Stadtteilbürgermeister in der Revolutionszeit, Minderheits- und später Mehrheitsführer im Senat; im Exil, während des zweiten Kaiserreichs, nahm er ungefähr die Patriarchenstellung ein, welche Thomas Mann später in der deutschen Emigration besaß, aber, wo jener vorwiegend moralisch und ästhetisch argumentierte, mit einem handfesten politischen Programm, entschiedener Demokratisierung, Bildungs- und Sozialreform – was sofort wieder aufgenommen wurde, als Hugo, am ersten Tag nach dem Sturz Louis Napoleons, mit der Eisenbahn in Paris eintraf.

 

Reich an politischen Botschaften

Victor Hugo (1802-1885)

Insofern wäre die Frage, ob Die Elenden nun als politisches oder literarisches Werk in erster Linie anzusehen sind, schon falsch gestellt. Natürlich sind sie beides in einem; und weil Hugo, meinungsstarker alter Kämpfer, der Versuchung nicht widerstehen kann, links und rechts des erzählten Weges zu allen möglichen historischen und gesellschaftlichen Fragen Stellung zu nehmen, sind sie auch so übergebührlich lang geraten. Dass zwei Protagonisten zeitweise Zuflucht in einem Kloster suchen, der Bernhardinerinnen von der ewigen Anbetung, gibt den Anlass zur einer ausführlichen Betrachtung über Sinn oder Unsinn des Klosterwesens im frühen neunzehnten Jahrhundert überhaupt und zur Frage, ob es nun zu verbieten sei oder nicht. Ein Ausflug in die Kanalisation erlaubt, die lange Geschichte der Pariser Kloaken ausführlich zu erzählen, dabei festzustellen, dass sie eigentlich ein Unglück seien, weil die Exkremente als Dünger auf dem Acker viel besser verwendet wären statt sie fortzuspülen, und so in einem Halbsatz zu beweisen, dass das Römische Reich eigentlich an der Cloaca Maxima zugrunde gegangen ist.

Ein Barrikadenkampf kann nicht abgehen ohne eine Vergleichsstudie zu den vielen anderen Barrikadenkämpfen der Jahrzehnte davor und danach. Und dass zwei Figuren eine lose Beziehung zur Schlacht bei Waterloo in ihrer Biographie haben oder dieser Bezug zu genau diesem Zweck hineingeschrieben wurde, gibt den Vorwand für fünfzig Seiten Schlachtenepos mit Hugos persönlicher Sicht auf das welthistorische Gemetzel, die Rolle der göttlichen Vorsehung darin, auf das nicht zufällig zum Autor namensähnliche ummauerte Gehöft Hougomont auf Napoleons linkem Flügel („Dieser Flecken Erde würde ihm, wenn er ihn hätte bekommen können, zur Weltherrschaft verholfen haben“); und mit ausführlicher Rechtfertigung, warum das letzte Wort des Gardekommandeurs Cambronne gegen alle Höflichkeitsregeln wörtlich zitiert wird (nein, es war nicht „sie stirbt, aber sie ergibt sich nicht“). Kurzum, wer das Buch liest, braucht Geduld und Freude an Nebenwegen – „Wo das Thema nicht aus den Augen verloren wird, findet keine Abschweifung statt“. Hugo ist ein vielinteressierter Vielredner; eben ein Politiker.

 

Stimme der Ausgestoßenen

Monsieur Bienvenu Myriel, der gerechte Bischof von Digne, nimmt sich Jean Valjeans an

Wobei man stets dazusagen muss, mit welchem Politiker Hugo man gerade zu tun hat, denn der Mann war in einer langen Laufbahn recht wandlungsfähig in seinen Ansichten und wechselte mehrfach das politische Lager. Begonnen wurden Die Elenden in der Endphase des Julimonarchie des Bürgerkönigs Louis Philippe, beendet in der Exilzeit, 1862; da ist Hugo schon lange angekommen auf der republikanischen Linken. Als junger Schriftsteller, von der royalistischen Mutter stärker geprägt als vom bonapartistischen Vater, vertrat Hugo noch die bourbonische Restauration, den liberalen Verfassungskompromiss unter Ludwig XVIII., von dem er eine Leibrente empfing; als Karl X. das Rad zurückzudrehen versuchte zur absolutistischen Herrschaftsform, wendet Hugo sich von den Bourbonen ab, nach 1830 langsam Louis Philippe zu, neigt nach 1848 dann vorsichtig zur republikanischen Seite und endgültig, als Louis Napoleon sich per Militärputsch vom Staatspräsidenten zum Diktator und Kaiser erhebt.

Freilich finden sich früher schon Hinweise, dass Hugo die demokratische Republik theoretisch für die bessere Staatsform hielt, das Volk nur noch nicht reif dafür erachtete; und spielen schon in früheren Romanen, Dramen und Balladen oft die Ausgestoßenen der Gesellschaft Heldenrollen; Sklaven, zum Tode Verurteilte, Zigeuner, Bucklige, Monstren. Insofern ist die Entwicklung auf literarischem Gebiet wohl kontinuierlicher als auf dem politischen und weniger von scharfen Wendungen geprägt.

Die Elenden in der vollendeten Fassung fallen schon in die Phase nach der letzten Wende. Hugo sieht die „notwendige Verbindung zwischen materieller Not und moralischer Schlechtigkeit“, aber nicht, wie die Konservativen, in der Richtung, dass Unmoral in die Armut, sondern dass Armut in die Unmoral führt. Gegen Verbrechen helfen kaum die Gefängnisse – „Das Zuchthaus vermehrt die Zahl der Zuchthäusler“ –, kaum auch die Polizei, sondern hilft vor allem Bildung. „Was tun“, fragt er im Roman, während er die Räuberbande Patron-Minette beschreibt, „wenn man diese Art Nachtgespenster verscheuchen will? Das Licht der Aufklärung ihnen entgegenhalten. Vor Licht fürchten sie sich nicht weniger als die Fledermäuse. Bekämpft die Unwissenheit, die in den unteren Schichten der Gesellschaft herrscht, so wird es keine Verbrechen und Verbrecher mehr geben.“

 

Für die Revolution

Inspektor Javert verhaftet eine Verdächtige

Bei Betrachtung der verschiedenen Aufstände seit 1789 steht er in der Regel auf Seiten der Revolutionäre. „Revolutionen sind Erzeugnisse nicht eines Zufalls, sondern der Notwendigkeit und bedeuten eine Rückkehr vom Falschen zum Echten und Wahren.“ Revolutionäre Gewalt, soweit sie nötig ist, zieht er den Erbfolgekriegen und Hungersnöten der Königszeit vor, da sie in die Richtung des Fortschritts weist, die Gegenrevolution, etwa der royalistische Aufruhr in der Vendée 1793, aber zurück zu Tyrannei und Barbarei. „Was uns betrifft, so würden wir, wenn wir zwischen den Barbaren der Zivilisation und den Kulturmenschen der Barbarei wählen müssten, die Barbaren vorziehen.“

Während Hugo also politisch mit dem Geist der Zeit geht und 1862, mit sechzig Jahren, voll auf der Höhe scheint, bekommt er künstlerisch langsam eine anachronistische Geschmacksnote. Sein Stil, in dem Romantik und Realismus sich mischen, scheint jungen Autoren schon nicht mehr zeitgemäß. Der neue Sozialroman will die Dinge beschreiben, wie sie sind; harten Naturalismus aber wie bei Émile Zola, in dem über hunderte Seiten monoton gelitten, gehungert und gestorben wird, sucht man bei Hugo vergebens. Die Elenden sind im Kern eine Abenteuer- und Liebesgeschichte, noch dazu, wie erwähnt, mit mancherlei Nebenbetrachtung, in der Not und Armut zwar vorkommen und die Handlung vorantreiben, aber die längste Zeit nicht im Zentrum der Darstellung stehen. Und die tragenden Figuren, die sich durch eine Reihe geradezu aberwitziger Zufälle immer wieder begegnen, wirken idealistisch überhöht und an manchen Stellen beinahe schematisch.

 

Idealgestalten

Valjean rettet ein Kind vor Thénardier

Jean Valjean, Held der Geschichte, ein entlassener Sträfling, der für einen kleinen Diebstahl und mehrere Fluchtversuche fast zwanzig Jahre im Gefängnis zubrachte, wird durch den Bischof von Digne, eine Art frühen Sozialheiligen, mit einem Akt der Großherzigkeit und Vergebung zum Guten und zum Glauben bekehrt. Der Staat aber verfolgt Valjean weiter, er muss immer wieder fliehen mit wechselnden Identitäten; vor materieller Not bewahrt ihn eine unternehmerische Erfindung, mit der er zu Vermögen gelangt. Trotz mancher Anfechtung und Zweifel setzt sich das Gute immer wieder in ihm durch, wirkt er, meist heimlich, für das Wohl anderer, zum Ende bis zur Selbstverleugnung.

Dagegen das Ehepaar Thénardier, zeitweise Kneipiers, zeitweise Diebe, Betrüger und Kinderhändler; durch und durch Verbrecher, unbesserbar böse. „Die Frau war mehr roh und dumm, der Mann mehr Lump und Gauner.“ Hass und Neid treiben sie an, jedermann suchen sie auszunutzen, Valjean, dem sie begegnen, werden sie mehrfach denunzieren, ihm ungewollt freilich gelegentlich auch Dienste leisten. In Not geraten, wird die Familie im Zuge der Geschichte kräftig dezimiert; der Mann, unverdient mit 20.000 Francs abgefunden, siedelt am Ende nach Amerika und wird Sklavenhändler.

Oder Javert, der Polizeiinspektor. Mann der Obrigkeit, eigentlich rechtschaffen, hegt jedoch „grimmigen Hass gegen das Gesindel, dem er entstammte“, als Sohn eines Sträflings und einer Wahrsagerin; engstirnig daher in seinen moralischen Begriffen, im Glauben, dass, wer einmal das Recht verletzte, immer ein Verbrecher bleibe. Den armen Valjean jagt er erbarmungslos. Als er schließlich zur Einsicht kommen muss, dass er darin falsch lag, dass auch die Obrigkeit irren, Recht manchmal Unrecht werden kann, „dass auch oben ein Abgrund existierte“, nicht nur in den unteren Volksschichten, erträgt er das nicht.

 

Fortschrittsglaube

Raubmörderbande Patron-Minette

Dem in Hugos späten Jahren aufkommenden Naturalismus wären auch die häufigen Gottesbezüge, die Begriffe des Heiligen und des Schicksals fremd gewesen, von denen Die Elenden von Anfang bis Ende bestimmt sind. „Dieses Buch ist ein Drama, dessen Hauptrolle der Unendliche spielt. Der Mensch spielt die zweite.“ Hugo, kein Sozialist, kein Atheist, antiklerikal, aber nicht antireligiös („die französische Revolution ist eine Willensäußerung Gottes“), billigt dem Göttlichen seine Rolle in der Welt zu; sein Optimismus hat etwas Religiöses, die Märtyrer des Fortschritts behandelt er wie frühchristliche Heilige.

Neben der Dramatik der Erzählung dürfte auch das eine Rolle dabei gespielt haben, dass Hugo sich von den vielen Pariser Revolten jener Jahre mit dem Juni 1832 einen gescheiterten, weniger bekannten Aufstand ausgesucht hat, um seine Figuren zum großen Endkampf zu versammeln und in der Niederlage zu zeigen, dass die Geschichte dennoch weitergeht. „Es muss jemand für die Besiegten eintreten. Man ist ungerecht gegen die großen Anbahner der Zukunft, wenn sie Misserfolge haben.“ Welche Anbahner in diesem Fall die jungen Studenten sind, die auf der Barrikade Homerverse zitieren, es freilich nicht schaffen, die Arbeiter von Paris für ihren Aufstand und so den nötigen Schwung für einen erfolgreichen Umsturz zu gewinnen. Aber: „Wer an der Welt verzweifelt, hat unrecht. Der Fortschritt erwacht wieder, und im Grunde könnte man sagen, dass er auch im Schlaf vorwärtskommt, denn er wächst während der Zeit.“

Man vergibt sich übrigens nichts, wenn man diesen Ausgang der Geschichte vorher kennt. Hugos Erzählung geht im wesentlichen davon aus, dass der Leser früh ahnt, was ihn erwartet, durch geschickte kleine Hinweise in diese Richtung gelenkt und in der Regel nicht enttäuscht wird. Bei allen Wirrungen und Wendungen folgt die Geschichte im Kern doch einer klaren Linie; was sie wohl auch – bis heute – so attraktiv für dramatische Adaptionen gemacht hat, mit ungefähr so vielen Verfilmungen wie Die Drei Musketiere und einem der langlebigsten Musicals der westlichen Welt.

 

Die große Internationale

Juni 1832

Das dürfte bis auf weiteres so bleiben. Über seinen historischen Gegenstand, Frankreich im frühen neunzehnten Jahrhundert, ist das Epos lange schon hinausgewachsen; war es übrigens von Anfang an ausgelegt. Denn „solange die drei Probleme des Jahrhunderts, die Entartung des Mannes durch das Proletariat, die Entsittlichung des Weibes infolge materieller Not und die Verwahrlosung des Kindes nicht gelöst sind“, sei ein solches Buch nicht unnütz und unnötig, merkt Hugo im Vorwort an; was wohl vielerorts erreicht ist, im Weltmaßstab aber noch lange nicht, und die zivilisatorische Mission, die Frankreich im neunzehnten Jahrhundert bei sich sah, insofern nicht abgeschlossen.

Bei einer Jubiläumsvorstellung der englischen Musicalversion von Les Misérables führte die Regie einmal am Ende Valjean-Darsteller aus vielen Ländern auf der Bühne zusammen, die in einem Dutzend Sprachen das Lied des Volkes, Do you hear the people sing, anstimmten; beeindruckende Internationale des Freiheitswillens. Dem Zuseher fiel freilich auf, alle Sänger, alle Vorführungen stammten aus westlichen Demokratien, Ländern, die ihre Freiheitsrevolutionen bereits hinter sich hatten. Denn wo wirklich Not und Tyrannei noch dominieren, unterliegt solch aufrührerischer Gesang natürlich strenger Zensur. Da bleibt nur der Ruf aus der Ferne, wie er von Hugo 1862, aus dem englischen Exil, gekommen war. Es ist ein lauter.

 

 

 

Das Buch

Victor Hugo: Die Elenden. Erstveröffentlichung 1862. Hier verwendete Fassung: Anaconda-Verlag 2013, basierend auf der Übersetzung von Gustav Adolf Volchert, 1910.


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