Vorwärts immer

Dass rohstoffarme Volkswirtschaften von Wissen und Innovationskraft leben, gehört zum Standardrepertoire politischer Sonntagsreden. Gleichzeitig scheint eine wachsende Dagegen-Kultur den technischen Fortschritt im Land zu gefährden.
Ein wenig Lektüre des ersten Innovationstheoretikers beruhigt – zum Teil.


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„Die Zukunft war früher auch besser“, hat der große bayerische Humorist Karl Valentin einmal bemerkt. Der Satz ist nicht so paradox, wie er klingt. Tatsächlich stimmt er sogar gelegentlich; zum Beispiel heute und in Kontinentaleuropa. Blickt man auf den rührenden Fortschrittsoptimismus, der dort die Zeit der Elektrifizierung und beginnenden Luftfahrt um die vorletzte Jahrhundertwende auszeichnete oder die anbrechende Epoche von Atom und Massenmotorisierung in den fünfziger Jahren, wird man fast ein wenig wehmütig. Dabei hat die technische Entwicklung mitnichten aufgehört, sie geht schneller denn je voran. Wir haben uns nur angewöhnt, an technischem Fortschritt und wirtschaftlichem Wachstum sogleich auch die Schattenseiten zu sehen und sie stets mit einem Murren zu begleiten.

Rauchende Fabrikschlote schaffen Wohlstand, vergiften aber auch die Atmosphäre. Neue Fertigungsmaschinen machen Produkte erschwinglicher, ersetzen zugleich jedoch menschliche Arbeit. Bio- und Gentechnik revolutionieren Medizin und Landwirtschaft und schüren doch auch unsere Angst vor synthetischer Nahrung und gemachten Menschen. Das Internet ermöglicht uns die schnelle Kommunikation rund um den Globus, macht uns aber zugleich zum gläsernen Bürger und Konsumenten. Mobile Endgeräte erlauben uns jederzeit Zugriff auf das Wissen der Welt, erzeugen jedoch ebenso neue Formen von Stress. Und dass Medienkonsum überhaupt für den Menschen ein zweischneidiges Schwert ist, liest man schon bei Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung. „Die Flut präziser Information und gestriegelten Amüsements witzigt und verdummt die Menschen zugleich.“

Optimismus und Skepsis: Bei uns ist eben stets beides da. Mal überwiegt das eine, mal das andere. Oft kommt die spielerische Freude am Neuen zuerst, der ängstliche Blick auf die Nebenfolgen später, am Ende die Gewöhnung an beides; aber da mit den Entwicklungszyklen auch die Rezeptionszeiten der Technik kürzer geworden sind, überlagern sich die Phasen immer mehr. Im Zentrum der Bedenken steht die Angst davor, dass die Technik dem Menschen entgleitet, eine Eigendynamik entwickelt, die nicht mehr steuerbar ist. „Die Planungseuphorie vergangener Politikentwürfe“, schreibt der Münchener Politologe Werner Weidenfeld, „ist der nüchternen Erkenntnis gewichen, dass sich gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungen nicht vorhersehen und nur bedingt hierarchisch steuern lassen.“ Wir neigen dazu, uns an die scheinbare Sicherheit der Gegenwart zu klammern; die Zukunft sehen wir nicht mehr als große Verheißung, sondern mit ebenso viel Skepsis.

Mutige und Furchtsame

Aber vielleicht ist das „Wir“ hier zu pauschal. Schließlich sind es ja nicht immer die gleichen, die neue Technik und neue Produkte erst begrüßen und dann verteufeln; jeder Wirtschaftsstudent kennt die klassische Marktdurchdringungskurve mit Innovatoren, „Early Adopters“, früher und später Mehrheit und jenen, die lange nörgelnd abseits stehen. Es mag sein, dass sich die Gruppen soziodemographisch im Lauf der Zeit verschieben. Es mag auch sein, dass eine alternde Gesellschaft im Ganzen konservativer agiert und sich auf lange Sicht Entwicklungszyklen auch wieder verlängern. Aber davon ist bislang noch wenig zu sehen. Dass sich große gesellschaftliche Gruppen als Konsumenten dem technischen Fortschritt auf Dauer verweigern, bleibt trotz aller Furcht der Soziologen vor neuen, technikbedingten Asymmetrien aus.

Das Unbehagen äußert sich noch eher diffus im politischen Raum, besonders stark in den Bereichen, die sich im weiteren Sinn dem Not-in-my-backyard-Phänomen zuordnen lassen: im Widerstand gegen große Verkehrsprojekte, Energieleitungen, Erdgasgewinnung; überall dort, wo qualitativ neuartige Eingriffe des Menschen in die Natur vermutet werden, in der grünen und roten Gentechnik etwa; und in all den Bereichen, gegen die besonders wir Deutschen eine spezielle Allergie entwickelt haben und die sich um die Begriffe Atom, Strahlung, Wellen gruppieren. Wo es um Grund und Boden, Genehmigungen und Forschungsgelder geht, denkt mancher als Bürger anders denn als Konsument. Freilich lässt sich der Fortschritt dadurch am Ende meistens nicht verhindern. Er kommt dann nur von anderswo.

Schumpeter und der Unternehmer

Dass Kollektivmentalitäten in Sachen des Fortschritts eine große Rolle spielen, ist freilich keine neue Erkenntnis. Tatsächlich hat Joseph Schumpeter, der als Urvater der ökonomischen Innovationstheorie gilt, schon vor dem Ersten Weltkrieg so gedacht. Sein Ansatz war ein doppelter. Einmal, die Entwicklung überhaupt in die Wirtschaftswissenschaften zu integrieren, deren Mainstream sich bis dahin in der Beschreibung statischer Gleichgewichtszustände erschöpfte. Und dann innerhalb der Ökonomie die Entwicklung durch die zentrale Figur des Unternehmers und dessen mentale Disposition zu erklären.

Schumpeter unterteilt die Wirtschaftssubjekte in zwei Gruppen. Eine statisch-hedonische, die weiter so wirtschaften möchte, wie sie es derzeit tut und immer tat, und eine dynamisch-energische, die auf Neuerungen setzt. Die erste Gruppe ist viel größer, „die Menge“, die zweite nur eine „geringe Minorität“, und das in allen Wirtschaftszweigen. Sehr stark bei den besonders konservativen Handwerkern und Bauern. „Sich selbst überlassen würde der Bauer noch jetzt so wirtschaften wie im Mittelalter, und im ganzen Mittelalter hätte er genau so gewirtschaftet wie in der Zeit der ersten Ansiedlung, wenn er nicht in bekannter Weise seine Freiheit verloren und sich einem Herrn anzubequemen gehabt hätte.“ Aber auch, jedenfalls zu Schumpeters Zeit, in der damals noch vergleichsweise jungen Industrie. „Neue Maschinen, neue kommerzielle Kombinationen werden nur und erst dann eingeführt, wenn sie von außen dargeboten, erstere etwa von einem Agenten aufgedrängt, letztere durch Bestellungen und Angebote dem ‚Fabrikanten’ gleichsam auf den Weg gelegt werden.“

Damit wird auch deutlich, dass Schumpeter im Unternehmer nicht nur einfach den Eigentümer oder Fabrikherrn sieht; nicht den Finanzier, nicht den Risikoträger, sondern den Gestalter, der Innovationen durchsetzt – neue Produkte oder Produktanwendungen, neue Herstellungsverfahren, neue Beschaffungs- und Absatzmärkte oder neue Organisationsformen. Tut er das nicht mehr, sinkt er wieder zum statischen Wirtschaftssubjekt herab. „Der Unternehmer setzt seine Persönlichkeit ein und nichts anderes als seine Persönlichkeit. Seine Stellung als Unternehmer ist an seine Leistung geknüpft und überlebt seine Tatkraft nicht.“

Die Motivation des Unternehmers im schumpeterschen Sinn ist nun nicht einfach ökonomisch, auf größeren Gewinn bedacht. Das gewiss auch; aber wäre es das alleine, müsste nach dem Gesetz des abnehmenden Grenznutzens ab einem bestimmten Vermögen der Eifer des Unternehmers nachlassen, was er nur selten tut. „Die Männer, die die moderne Industrie geschaffen haben, waren ‚ganze Kerle’ und keine Jammergestalten, die sich fortwährend ängstlich fragten, ob jede Anstrengung, der sie sich zu unterziehen hatten, auch einen ausreichenden Genußüberschuß verspreche.“

Zwei Zusatzmotivationen kommen nach Schumpeter hinzu: erstens die Freude an der sozialen Machtstellung, die ein Unternehmer genießt – er dachte dabei vorwiegend an die Industriemagnaten seiner Zeit –, und zweitens die Freude am schöpferischen Gestalten. Hierin rückt die Unternehmerfigur fast ein wenig in die Nähe des Künstlers, der auch von einem intrinsischen Schaffensdrang getrieben ist. Nicht im Sinne der Erkenntnissuche – wer die Idee hat, ist bei Schumpeter fast egal, die Ideen liegen gleichsam auf der Straße; entscheidend ist derjenige, der sie energisch durchsetzt –, sondern im Schaffen des Neuen. Was zugleich auch heißt: im Verdrängen des Alten. Daher die Begriffe von der „schöpferischen Zerstörung“ und der „notwendigen Periodizität der Zusammenbrüche“.

Schaffenskraft als ökonomische Ressource

Wirtschaftshistorisch spricht sehr viel für Schumpeters Deutung. In der Geschichte ist Fortschritt kein Naturgesetz. Lange Perioden des Stillstandes, wie es sie im europäischen Mittelalter, im klassischen China oder Indien tatsächlich gegeben hat, legen durchaus die Deutung nahe, dass es sehr von der mentalen Disposition von Gesellschaften abhängt, wie viel von dem, was bei Schumpeter Unternehmergeist ist, also Freude an der Gestaltung, in einem Volk auftritt und dessen Fortschritt antreibt; zusätzlich zu Fragen des Wissens, der Forschung, der geistigen Aufgeschlossenheit.

Wie verhalten sich nun diese schwer zu greifende mentale Ressource und das wachsende, aber noch wesentlich ungerichtete Unbehagen gegen Technik, Kapitalismus, Globalisierung, das in den frühindustrialisierten Gesellschaften Europas zunehmend Verbreitung findet?

Die Antwort hängt von der Wirtschaftstruktur ab, die heute natürlich anders ist als Anno 1911. Schumpeter selbst hat seine Theorien mehrfach überarbeitet und den Veränderungen im realen Wirtschaftsgeschehen angepasst; im Ganzen sind sie düsterer und pessimistischer geworden, geprägt durch Weltkriege, staatliche Intervention und Vertrustung. Freilich ist auch dies schon wieder siebzig Jahre her, und die Wirtschaft heute ist der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in manchem wieder ähnlicher geworden. Wenn man sagt, dass die alte Industriegesellschaft heute zur transnationalen Wissensgesellschaft mutiere, so ist das nur zur Hälfte wirklich neu; stark global vernetzt war auch die Zeit vor 1914. Dass die Zahl der Wissensarbeiter gegenüber den Handarbeitern sich seither vervielfacht hat, ist nun allerdings wahr, insofern kommen Bildung und Forschung gewiss größeres Gewicht zu als zu Schumpeters Zeiten. Die Zahl der Unternehmer in seinem Sinne, der Gestalter, Antreiber, Entscheider, ist allerdings nach wie vor klein. Solange es diese kleine Elite gibt – Schumpeter nannte sie, damals war das Wort noch unschuldig, Führergestalten –, solange sie ihre schöpferische Kraft bewahrt, wie sie sich vor allem in großer Breite im deutschen Mittelstand findet, solange werden wachsende Technikaversionen diese Wirtschaftsressource nicht zum Versiegen bringen und die Innovationskraft des Standorts nicht leiden. Ob sie dann noch die gleichen Gestaltungsmöglichkeiten finden wird, wenn sie von bestimmten Märkten durch Mehrheitsbeschluss ferngehalten wird – in Bio- und Medizintechnik etwa, die durchaus große Zukunftsfelder sind – und wenn sich aufgrund der politischen Rahmenbedingungen bestimmte Produktionsfaktoren wie etwa Energie deutlich verteuern, ist freilich eine ganz andere Frage.


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