Wahrheit ist nicht alles

In einer Folge der Fernsehserie Die Simpsons, die öfter einmal philosophische Anwandlungen hat, entdeckt die kleine Lisa, klügster Kopf der Comic-Familie, dass der legendäre Stadtgründer Jebediah Springfield in Wahrheit ein übler Räuber und Halunke war, der gar George Washington überfiel. Überall trägt sie ihre Entdeckungen vor, in der Schule und vor den Oberen der Stadt, aber niemand will auf sie hören; der Stadtarchivar fälscht gar historische Beweise. Am Ende steigt sie während der großen Jubiläumsparade auf die Bühne, um dem Volk die Wahrheit zu verkünden.


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Aber als sie in die Menge blickt, zu den stolzen Stadtbürgern, den Veteranen in ihren Uniformen, den beigeisterten Kindern – da ändert sie spontan ihre Meinung; und erzählt kleinlaut, was für ein großer Mensch Jebediah gewesen sei. Denn, erklärt sie nachher, die Legende habe ihren eigenen Wert und sei hier wichtiger als die geschichtliche Wahrheit.

Dass man mit der Lüge mitunter besser leben kann als mit der Wahrheit – so weit würde Christian Meier gar nicht gehen. Aber ob es manchmal nicht besser sein kann, schlimme Wahrheit zu beschweigen, als sie immer wieder zu predigen – das fragt er in einem spannenden Essay, der in diesem Jahr in Buchform erschienen ist. „Das Gebot zu vergessen“ ist der provokante Titel. Provokant vor allem in Deutschland, in dem eine aktive Erinnerungskultur, vor allem auf die Nazivergangenheit bezogen, nicht nur sorgsam gepflegtes Ritual, sondern Staatsräson ist.

In früheren Zeiten aber war eher das Vergessen die Regel, wie Meier zeigt. Ausführlich beginnt der Althistoriker auf seinem Fachgebiet, dem alten Griechenland, spannt aber einen weiten Bogen über Mittelalter und Neuzeit bis hin zum neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert. Die tiefe Weisheit in Formen ritualisierten Vergessens, festgehalten oft in Verträgen oder gar Gesetzen, liegt darin, dass sie nach schlimmem Geschehen, nach Kriegen oder Bürgerkriegen oder Clanfehden, den Rachedurst mindern und das Wiederaufflammen von Konflikten verhindern. Das heißt nicht, das Geschehene zu leugnen oder die schlimmsten Täter nicht zu bestrafen; aber es heißt, nach einigen Säuberungen – idealerweise „kurz und blutig“, wie Meier Joseph Rovan zitiert – die Angelegenheit für beendet zu erklären und eine kollektive Amnestie zu gewähren. So jedenfalls eine quer durch alle Kulturen übliche Praxis. Und, im Ganzen, durchaus erfolgreich, so führt Meier es aus; und nennt auch die Beispiele, in denen die Weigerung zu vergessen großes Übel hervorrief, so wie der französische Revanchismus nach 1871 oder der deutsche nach 1918.

Im zwanzigsten Jahrhundert hat sich die Praxis gründlich geändert. Deshalb hat Meiers Essay auch einen Untertitel: „Und die Unabweisbarkeit des Erinnerns“. Unabweisbar wurde speziell für die Deutschen die Erinnerung an den Völkermord der Nazis, an Auschwitz. Auschwitz konnte nicht vergessen werden, trotz manch anfänglicher – nach Meier durchaus natürlicher – Verdrängungstendenzen in den fünfziger Jahren. Zu gewaltig war das Ausmaß des Zivilisationsbruches. Damit schwenkte man, bittere Ironie, auf die jüdische Praxis des Erinnerns ein, der einzigen Kultur, die Meier ausmachen konnte, die seit jeder nicht auf Vergessen, sondern Erinnern setzte.

Die Erinnerung an Auschwitz aber begründete, in Teilen jedenfalls, eine neue Regel. Denn die (west-)deutsche Erinnerungspraxis wurde eifrig exportiert, etwa in afrikanische Länder nach Diktaturen und Genoziden oder in die osteuropäischen nach dem Sturz des Kommunismus; und damit eben auch in die ostdeutschen Länder nach dem Ende der DDR.

Ob die langwierige Aufarbeitung der Partei- und Stasi-Vergangenheit eine kluge Entscheidung war oder ob, ähnlich wie etwa im Spanien der Nach-Franco-Zeit, eine Phase kollektiven Vergessens nicht segensreicher gewesen wäre, vor allem für die Mehrzahl der ehemaligen DDR-Bürger, die sich bald implizit mit auf der Anklagebank sah, weil man nicht nur über Täter, sondern die Geschichte eines ganzen Landes zu Gericht saß – das sagt Meier nicht. Er formuliert all das in Form von Fragen; eine klare Aussage vermeidet er. Auch eine Prognose gibt er nicht ab, wie es denn weitergehen wird mit der Erinnerungs- oder Vergessenspraxis in der Welt. Das deutsche Beispiel hat gewiss vielerorts Schule gemacht, aber manche Verarbeitungsformen, etwa die Wahrheitskommissionen in Südafrika nach dem Ende der Apartheid, deuten auch wieder auf das alte Muster: schnelle Aufarbeitung, und dann kollektives Schweigen.

Für den inneren Frieden mag das zuträglicher sein. Denn bei Kriegsverbrechern wie bei Parteifunktionären und Geheimdienstschergen bestätigt sich meist die Regel, dass die Täter, wieder im Alltag angekommen, oft die gleichen unscheinbaren Bürger werden, die sie gewesen waren, bevor der totalitäre Staat sie in die Finger bekam. Zur Wahrung von Frieden und Stabilität braucht man ihre Bestrafung nicht. Nur zur Befriedigung eines unstillbaren Drangs nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Wann die Gerechtigkeit Vorrang hat und wann der innere Friede, wird man pauschal kaum sagen können; aber diskutieren muss man es dürfen, in jedem Fall aufs Neue. Dazu gibt Meiers Essay den richtigen Anstoß.

 

Christian Meier: Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit. Siedler-Verlag, München 2010. 160 Seiten, 14,95 Euro


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