Was angenehm ist, ist Träumerei

Aphorismenbücher schenkt man gern: leichte Lektüre für zwischendurch, in der Kaffeepause oder Sanitärabteilung. Simone Weil taugt dafür nicht; ihre Sentenzen fordern den Leser ganz und gar. Schroff und kompromisslos auf die letzten Dinge hin; der Stil so gravitätisch wie die Titel. Zum Beispiel Schwerkraft und Gnade.


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„Da empfand ich ganz plötzlich die Gewißheit, daß das Christentum schlechthin die Religion der Sklaven ist, dass Sklaven gar nicht anders können, als ihr anzugehören, und ich mit ihnen.“

Es gibt Denker, bei denen zählt der private Lebenslauf nichts. Kants Abenteuern des Geistes gewinnt man nicht weniger ab, wenn man über sein eintöniges Gelehrtendasein in Königsberg noch nie eine Zeile gelesen hat. Von den antiken Naturphilosophen kennen wir oftmals keine privaten Lebensumstände und freuen uns dennoch an ihren ersten klugen Welterklärungsversuchen. Beim alten Shakespeare rätselt mancher Forscher, ob es ihn überhaupt gab, und dennoch wirken Hamlet,  Lear und Macbeth nicht weniger lebenswahr. Das Werk steht für sich wie eine Entäußerung, und die Person verschwindet dahinter.

Bei Simone Weil kann man diese Trennung nicht durchhalten. Die Kompromisslosigkeit ihrer Philosophie begreift man nicht mit letztem Ernst, ohne zu wissen, dass sie ebenso lebte, dass keine Spielerei, ironische Doppelbödigkeit, kein Wasser-predigen-und-Wein-trinken sich darin verbirgt. Daher müssen wir diesmal mit der Biographie beginnen.

 

Hüte deine Einsamkeit

Radikal im Leben, radikal im Denken: Simone Weil (1909-1943)

Weil stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Bürgerfamilie. Die Eltern lebten in Paris, waren aber dort nicht heimisch. Der Vater, von Beruf Arzt, war nach 1871 aus dem Elsaß emigriert, die Mutter, eine Ostjüdin, vor Pogromen aus Russland geflohen. Bruder André wurde später ein bedeutender Mathematiker. Simone selbst, gleichfalls von hoher Begabung, genoss eine hervorragende Ausbildung, studierte an der ENS, promovierte und begann mit zweiundzwanzig Jahren ihre Laufbahn als Lehrerin für Philosophie.

Drei Dinge hinderten, dass sie auf Dauer in einer ehrbaren bürgerlichen Stellung blieb. Einmal ihr empfindlicher Körper; seit dem Studium litt sie unter starkem chronischen Kopfschmerz und musste wegen Krankheiten oft ihre Arbeit unterbrechen. Dann ihre unbequeme Neigung, jedem bei jeder Gelegenheit jede Wahrheit offen ins Gesicht zu sagen. Schließlich ihr großes, mitleidvolles Herz, das sie stets für die Armen und Geknechteten Partei ergreifen ließ, was sie in den 1930ern in die Nähe der Kommunisten brachte. Sie schrieb Artikel in diesem Sinn und trat bei Kundgebungen auf. Wodurch sie bei der Schulbehörde in Ungnade fiel und in der konservativen Presse bald als rote Jungfrau verschrien war.

Freilich wurde die kommunistische Sache nie ganz die ihre. Parteimitgliedschaften lehnte sie ab; Bindungsscheu und Abneigung gegen Kollektive aller Art ließen sie Abstand halten. Von  marxistischer Revolutionslehre hielt sie wenig; stand mehr auf Linie der Gewerkschaften, die Lage der Arbeiter praktisch zu verbessern. Auch war sie keine Schreibtischideologin. Nicht nur spendete sie die Hälfte ihres Einkommens für die Armenhilfe. Trotz körperlicher Schwäche quälte sie sich mit Fabrikarbeit und auf dem Land bei der Weinernte, um das Leben der Arbeiter und Bauern am eigenen Leib zu erfahren. Und meldete sich zum Dienst im spanischen Bürgerkrieg, wo man sie freilich bloß zum Küchendienst für tauglich befand.

Nach dem innerlichen Abschied vom Kommunismus bekehrte sich Weil zu einem neuen Glauben. Aus weltlich-jüdischer Familie stammend, eigentlich agnostisch eingestellt, fand sie nun zum Christentum; aus dem gleichen Grund, der Nietzsche einst von ihm weggeführt hatte. Von ihrer Bekehrung bei einer katholischen Feier erzählt sie: „Da empfand ich ganz plötzlich die Gewißheit, daß das Christentum schlechthin die Religion der Sklaven ist, dass Sklaven gar nicht anders können, als ihr anzugehören, und ich mit ihnen.“ Künftig besuchte sie die Messe, pflegte Umgang mit Ordensbrüdern, las ekstatisch im Evangelium und beim heiligen Johannes vom Kreuz – und berichtet von eigenen Gotteserfahrungen. Freunde sprachen vom Geist makelloser Mystik, der von ihr ausginge. Freilich: Auch hier Einzelgängertum, Distanz zur Amtskirche, keine Mitgliedschaft in der Organisation. Trotz  womöglich stattgefundener Taufe auf dem Sterbebett.

Der Tod ereilte die junge Frau in England. Familie Weil floh ins Exil, nachdem die deutsche Wehrmacht Frankreich besetzt hatte. Bei den Eltern in Amerika wollte Simone nicht bleiben, engagierte sich in de Gaulles France Libre. Auch hier spendete sie die Hälfte ihrer Lebensmittelkarten für die Bedürftigen und wollte nicht mehr Nahrung zu sich nehmen als die Armen in der besetzten Heimat. Während einer Tuberkulose-Erkrankung wirkte das fatal; der Totenschein sagt: „Die Patientin hat sich selbst getötet“.

Ein Leben des Glaubens jedenfalls und der völligen Aufopferung. Ob Heiligkeit ein passendes Prädikat dafür wäre, bin zu entscheiden ich nicht der Fachmann. Solche Urteile obliegen dem Kardinal Ladaria in Rom.

 

Liebe zum Nichts

Schauen wir nun auf die Philosophie zu diesem Leben. Genauer: in die erste nach ihrem Tod veröffentlichte Aphorismensammlung Schwerkraft und Gnade. Zu Lebzeiten publizierte Weil manche Artikel, aber keine umfangreicheren Arbeiten. Aus der der großen Zahl hinterlassener Notizhefte erschienen ab 1947 nach und nach ein rundes Dutzend philosophischer Werke. Den ersten Schritt machte der befreundete Denker Gustave Thibon mit der Auswahl und Ordnung von Sentenzen, die Weil ihm vor ihrer Fahrt ins Exil überlassen hatte. Nicht wissenschaftlich mit philologischer Strenge, aber ehrlichem, gutem Willen.

Schwerkraft und Gnade ist die Suche nach dem Absoluten und darin eine Sammlung absoluter Aussagen, die den skeptizistisch vorgeprägten Leser überraschen, wenn nicht erschrecken werden. Schwerkraft ist, was den Menschen nach unten zieht, sittlich und spirituell. Gnade, göttliche Gnade, und sie allein zieht ihn nach oben. Diese Gnade ist immer unverdient. Der Mensch immer nichtig in einer Geringfügigkeit gegenüber Gott. „Wenn ich irgendwo bin, beflecke ich das Schweigen des Himmels und der Erde durch mein Atmen und das Schlagen meines Herzens.“ Gott kann diese Menschen nicht lieben, nur sich selbst, durch die Menschen, allgemeiner seine Schöpfung hindurch. Sich Gott nähern kann man nur durch völlige Selbstentäußerung, in der Leere, frei vom Imaginären, der Energie der Einbildungskraft, welche die Leere füllt und verhindert, dass Gott in uns eindringen kann. Übrig bleiben darf nur die Liebe zu Gott, und den Menschen, aber wiederum indirekt, Nächstenliebe durch Gottesliebe. Nichts neben ihr. „Die Seele, die nicht ganz von Liebe erfüllt ist, stirbt eines schlechten Todes.“ Dafür braucht es Gehorsam, braucht es – wörtlich – Dressur, die Ablösung von individuellem Ehrgeiz, auch vom Streben nach dem eigenen Heil, die Abtötung des Imaginären und eine Form geistiger Askese, die von fern nach dem „Werdet hart“ von Nietzsches Zarathustra klingt. „Es ist ein Kriterium des Wirklichen, dass es hart und rauh ist. Man findet dort Freuden, aber keine Annehmlichkeiten. Was angenehm ist, ist Träumerei.“

 

Platon, Buddha, Christus

Von Weil gern gelesen: St. Johannes vom Kreuz

 Dies ungefähr der rote Faden. Daneben noch viele andere Gedankensplitter, die freilich nicht immer mit dem roten Faden logisch in Einklang zu bringen sind oder nur auf einer höheren Ebene, auf der sich alle Widersprüche aufheben. Weil ist klar, dass Glaube sich in verschiedenen Seelenschichten unterschiedlich äußert. „Die Mysterien des katholischen Glaubens“, schreibt sie zum Beispiel, „sind nicht so geschaffen, daß sie von allen Teilen der Seele geglaubt werden sollen.“

Sie bündelt Gedanken aus verschiedenen Einflussrichtungen zusammen. So der mathematisch-naturwissenschaftlichen, von den alten Griechen herrührend, die sie gerne las, Pythagoras, Heraklit, Platon, welch letzteren sie christlich deutet. Philosophie mit geometrischer Basis. Daher das mitunter ungewöhnliche Vokabular. Schwerkraft, Energie, horror vacui; eigene Wortschöpfungen wie die „Deifugalkraft“, ohne die alles Gott wäre; bis hin zu absonderlich anmutenden Formeln. „Die Schöpfung besteht aus der Abwärtsbewegung der Schwerkraft, der Aufwärtsbewegung der Gnade und der Abwärtsbewegung der Gnade in der zweiten Potenz.“ Vermutlich metaphorisch und nicht streng mathematisch zu lesen.

Daneben freute sich Weil auch an östlichen Lektüren, zitiert aus der Bhagavad Gita und den Upanishaden. Streben nach Leere und Nichts, nach Ablösung und Auslöschung gleichen deutlich buddhistischen Denkstrukturen. „Ich soll es lieben, nichts zu sein.“ Und: „Die Leere ist voller als sämtliche Fülle.“ Freilich macht sie immer deutlich, dass es der christliche Gott ist, auf den sie hinauswill. „Das Kreuz Christi ist die einzige Pforte zur Erkenntnis.“ Bis hin zu stellenweiser heftiger Verunglimpfung der anderen Monotheismen samt Aneinanderreihung von Moses, Mohammed und Hitler in einem Satz. „Jehova, Allah, Hitler sind irdische Götter. Die Läuterung, die sie bewirken, ist imaginär.“ Von den historischen Verbrechen der christlichen Kirchen schweigt sie allerdings ebenfalls nicht.

 

Selbstreinigung durch Atheismus

An dieser Stelle muss man sich des Notizheftcharakters der Aphorismen erinnern. Sie sind kein fertig konstruiertes Ideengebäude; man schaut der Autorin zu bei der allmählichen Verfertigung der Gedanken im Schreiben. Eine Lehre verbreiten, gar als Prophetin gelten, das lag Weil fern; fest erwartete sie, vergessen zu werden, und wünschte, Ideen zu deren Wohl nicht mit ihrem Namen zu verbinden.

Freilich hält sie für ihre Form des Glaubens doch eine Art Lehre bereit. Ihrer eigenen Entwicklung entsprechend, sieht sie eine Reinigung des Glaubens durch eine Phase des Atheismus als nötig, zur Überwindung kindlichen Trostglaubens, zur inneren Festigung, um für das „übernatürliche Brot“ empfänglich zu werden. Gott lieben in dem Gedanken, dass es ihn nicht gibt. Da man nichts, was wirklich existiert, grenzenlos lieben kann, wie es Gott gebührt.

Viele funkelnde Gedanken jedenfalls in großer Dichte. Je nach metaphysischer Empfänglichkeit wird der Leser mit manchen mitgehen und anderen nicht. Aber bedenken wir auch bei den übrigen: Ein großer Irrtum bringt das Denken weiter als eine triviale Wahrheit.

 

 

Das Buch

Simone Weil: Schwerkraft und Gnade. Deutsche Erstveröffentlichung 1952, Übersetzung von Friedhelm Kemp


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