Zwischen Aufklärung und Anarchie

Demokratische Rechtsstaaten bewegen sich in der modernen Netzwelt auf einem schmalen Grat. Das Staatsinteresse und der Informationsanspruch des Bürgers werden neu austariert. Aber als Journalismus camouflierter Datendiebstahl und das fanatische Streben nach totaler Transparenz liegen jenseits der Grenze des Akzeptablen.


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Als jemand ohne fachliche Ausbildung im Bereich von Netz- und Informationstechnik ist man gut beraten, nicht mit den Experten auf deren ureigenstem Gebiet wetteifern und sein eigenes Halbwissen kundtun zu wollen. Ich werde hier deshalb kaum über technische Aspekte sprechen und auch nicht auf der technischen Entwicklung an sich die Argumentation aufbauen. Man findet zwar eine Denkrichtung, die sagt, dass sich allein aufgrund der technischen Möglichkeiten eigentlich jede Diskussion erübrigt, weil etwa der Geheimnisverrat heutzutage technisch so einfach geht, dass man ihn schlicht nicht mehr verhindern und Einzeltäter, die doch nur tun, was sehr viele tun, vernünftigerweise nicht mehr bestrafen kann. Das ist eine Art technische Tautologie – alles, was einfach geht, ist letztlich auch erlaubt. Aber man kann etwa die Wikileaks-Aktivisten und die gar nicht so kleine Zahl ihrer Anhänger in der netzaffinen Jugend gewiss nicht auf diese Position reduzieren.

Es ist im übrigen auch nicht so einfach, wie oft gesagt wird, dass man hier nur eine Gruppe von Technikbegeisterten hat, die sich an den Möglichkeiten des neuen Mediums berauscht und, ohne nach links und rechts zu sehen, sich eine Ideologie zusammenbastelt, die zur Alles-ist-erlaubt-Mentalität in den ersten, sozusagen in den Flegeljahren der neuen Medien passt und diese perpetuiert. Das ist nicht so. Denn diese jungen Leute – und die Mehrzahl ist tatsächlich jung – haben nicht nur optimistische Zukunftsvisionen. Neben die informationelle Euphorie tritt bei ihnen eine informationelle Apokalyptik, welche nahezu täglich das Ende der Bürgerrechte und der informationellen Selbstbestimmung befürchtet und allenthalben einen Überwachungsstaat von Orwellschen Ausmaßen oder wahlweise die Machtübernahme durch die großen Konzerne und ihre informationelle Marktmacht an die Wand malt. Und mit dem optimistischen Teil ihrer Visionen, dem völlig transparenten Regierungshandeln und dem wohlinformierten, entscheidungsbefähigten Staatsbürger, also dem genauen Gegenteil der Inschrift „Unwissenheit ist Stärke“ am Wahrheitsministerium in Orwells „1984“, stehen sie in der Ideengeschichte durchaus nicht alleine, sondern am vorläufigen Endpunkt einer langen Entwicklung, die viel älter ist als die modernde Kommunikationstechnik.

In der Tradition der Aufklärung

Die Moderne ist ja, wenn man es einmal grob vereinfacht, in erster Linie ein großer Emanzipationsprozess des Individuums. Dieser Prozess hat in Europa im übrigen durchaus christliche Wurzeln, angefangen schon in der Bibel mit dem Bild von der Gottesebenbildlichkeit des menschlichen Individuums und der Zwei-Reiche-Lehre und beispielhaft fortgesetzt in jener großen Rede des Pico della Mirandola, „Über die Würde des Menschen“, in welcher der junge italienische Philosoph Gottvater zu Adam sprechen lässt: „Die Natur der übrigen Geschöpfe ist fest bestimmt und wird innerhalb von uns vorgeschriebener Gesetze begrenzt. Du sollst dir deine ohne jede Einschränkung und Enge, nach deinem Ermessen, dem ich dich anvertraut habe, selber bestimmen. (…) Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender, schöpferischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst. Du kannst zum Niedrigeren, zum Tierischen entarten; du kannst aber auch zum Höheren, zum Göttlichen wiedergeboren werden, wenn deine Seele es beschließt.“ Derart freudig-individualistisch, schon Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, ein tiefgläubiger christlicher Denker. Das darf man erläuternd dazusagen, weil der Emanzipationsprozess der Moderne ja dann zuallererst gegen die religiöse Obrigkeit, die übrigens zeitweise auch Pico verfolgt hatte, angehen und schließlich den vernunftbegabten Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit herausführen wollte, wie Kant es dann beschrieb. Die Aufklärung war, in erster Linie, wenn nicht eine antireligiöse, so doch eine antikirchliche, antiklerikale Bewegung. Aber die Emanzipation des Individuums blieb hier nicht stehen. Auch die weltliche Obrigkeit wurde abgebaut, Feudalstrukturen abgelöst, absolutistische Monarchien wurden konstitutionalisiert oder abgeschafft. Und auch die kollektivistischen Ideologien und Ersatzreligionen, die entstanden, Nationalismus, darwinistischer Biologismus, Kommunismus und andere, wurden im Lauf der Geschichte überwunden; alte Bindungsformen sind so weit geschwächt, dass sie jedenfalls in Europa keine Gefahr für die Freiheit des einzelnen mehr darstellen. Was an Rest-Obrigkeit geblieben ist, sind liberale, demokratisch kontrollierte Nationalstaaten. Mit der ökonomischen Globalisierung und der informationellen Vernetzung scheint das Individuum nun zum letzten Angriff auch auf diesen Rest von Obrigkeit angesetzt zu haben und ihn durch eine Art herrschaftsfreier Weltgesellschaft ablösen zu wollen. Dieser letzte Sturmangriff ist gegen jede Herrschaft gerichtet und damit im Wortsinne an-archistisch.

Wenn man Vertreter dieser Denkschule dazu befragt, werden sie vermutlich antworten, dass sie nicht in erster Linie gegen staatliche Regierung sind, sondern für die komplette, transparente, demokratische Kontrolle dieser Regierung, der nur eben die Geheimniskrämerei der staatlichen Apparate entgegensteht. Sie sind also nicht gegen den Staat, sondern für die Wahrheit. Und auch darin stehen sie in einer guten Tradition, denn bekanntlich stand ja schon beim Aufklärer Kant die Wahrheit – nicht die religiöse, sondern die rational erkennbare – in der Wertehierarchie ganz oben. Jeder Kantianer kennt ja die Episode, dass der Königsberger Philosoph auf eine Preisfrage der Universität Trondheim, wie man denn moralisch richtig handelt, wenn man einen verfolgten Freund versteckt, die Häscher dann an der Türe läuten und die Frage stellen, wo der Verfolgte sei, ganz eindeutig antwortete: Man hat die Wahrheit zu sagen. Immer.

Diese Episode zeigt allerdings auch schon die Schwierigkeiten dieser Verabsolutierung der Wahrheit, wenn man sie in die historische Erfahrung einordnet. Denn natürlich kommt speziell uns Deutschen sofort der Vergleich mit verfolgten Juden im Dritten Reich in den Sinn. Der rigoristischen Ethik Kants folgend hätte die Familie Gies in Amsterdam, die seinerzeit Anne Frank und ihre Verwandten verbarg, ihre Schützlinge sofort preisgeben müssen, wenn die Gestapo fragend an der Türe gestanden hätte. Es ist eben nicht so, dass man moralische Entscheidungen als Individuum im luftleeren Raum trifft, allein auf Basis von Regeln, die man für sich irgendwann einmal als richtig erkannt hat. Man trifft sie in einer konkreten historischen Situation und als Teil eines Gemeinwesens, für das man Mitverantwortung trägt. Das ist genau der Konflikt, den Max Weber, über hundert Jahre nach Kant, im Gegensatz von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik zusammengefasst hat. In seinem Vortrag „Politik als Beruf“ sagt der Soziologe: „Wenn die Folgen einer aus reiner Gesinnung fließenden Handlung üble sind, so gilt [dem Gesinnungsethiker] nicht der Handelnde, sondern die Welt dafür verantwortlich, die Dummheit der anderen Menschen oder – der Wille Gottes, der sie so schuf. Der Verantwortungsethiker dagegen rechnet mit eben jenen durchschnittlichen Defekten der Menschen, – er hat, wie Fichte richtig gesagt hat, gar kein Recht, ihre Güte und Vollkommenheit vorauszusetzen, er fühlt sich nicht in der Lage, die Folgen eigenen Tuns, soweit er sie voraussehen konnte, auf andere abzuwälzen. Er wird sagen: diese Folgen werden meinem Tun zugerechnet.“

Gedankenspiele

Ist die Veröffentlichung von Staatsgeheimnissen nun also, unter Berücksichtung der voraussehbaren Folgen, verantwortungsvoll? Dient sie dem Gemeinwesen, oder schadet sie ihm?

Das ist nicht ganz einfach zu sagen. Man kann natürlich immer Gedankenexperimente anstellen, obwohl man lange zurückgehen muss, um entsprechend aufgeheizte politische Konstellationen vorzufinden, damit die Schilderungen plastisch werden. Wenn man sich beispielsweise vorstellt, dass es vor fast 100 Jahren, vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, ein Wikileaks gegeben hätte; dass nach der Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand aufgrund geheimer Akten öffentlich geworden wäre, wie der österreichische Generalstab die günstige Gelegenheit begrüßte, um mit dem verfeindeten Serbien abzurechnen; wie die deutsche Diplomatie den Verbündeten dazu ermutigte, fast anstachelte; wie umgekehrt das russische Militär den schwachen Zaren zur unverhältnismäßigen Generalmobilmachung drängte und der französische Präsident Russland in seiner harten Haltung bestärkte; dass all das bekannt geworden und in Kontrast gesetzt worden wäre zu den öffentlichen Friedensbekundungen der Regierungen: Gut möglich, dass die Völker Europas anders reagiert haben würden, als sie es dann taten, und gegen den Krieg rebelliert hätten, statt ihn zu bejubeln. Dann wäre womöglich viel Unglück vermieden worden. Und Deutschland hätte vielleicht noch einen Kaiser.

Ein anderes Beispiel, auch schon knapp fünfzig Jahre her: die Kuba-Krise. Wenn man sich ausmalt, dass in dieser heißesten Phase des Kalten Krieges, mit russischen Atomraketen in der Karibik, amerikanischen in der Türkei, mobilisierten Luftstreitkräften, einer Seeblockade und neuen Waffenkonvois, die direkt auf sie zuliefen, mit diffizilen Geheimabsprachen über Mittelsmänner und hektisch gewechselten Depeschen zwischen beiden Hauptstädten, in denen auszuloten galt, was die jeweils andere Seite eigentlich bezweckte und unter welchen Umständen sie zu einem gemeinsamen Rückzug zum Status quo ante bereit sein würde; dass in dieser kritischen Situation, in der das Zeigen von Stärke, in der Gesichtswahrung alles ist und öffentliche Bloßstellung für jeden Kompromiss tödlich, Indiskretionen nach außen gelangt wären: Wer weiß, ob nicht Chruschtschow oder Kennedy doch den Weg der nuklearen Eskalation statt der Verständigung gewählt hätten. Und ob auf diesem Wege die Menschheitsgeschichte damals nicht vielleicht schon zu einem Ende gekommen wäre.

Gewiss, das ist die Schwäche solcher kontrafaktischen Spekulationen: Wir wissen es nicht. Vielleicht wäre es so gekommen, vielleicht auch nicht. Geschichte wird nicht im Konjunktiv geschrieben. Und natürlich sollte man auch in ethischen Diskussionen nicht immer vom Extremfall und vom historischen Ausnahmezustand her argumentieren, sondern eher vom Normalzustand.

Hier und heute

Zum Normalzustand gehören für beinahe alle westlichen Staaten heute auch Militäreinsätze im Ausland. Je stärker die Welt sich globalisiert, desto mehr. Dass militärische Einsätze eine gewisse Geheimhaltung erfordern, weil alle Informationen, die der Öffentlichkeit in der Heimat offen stehen, auch für den Feind verfügbar sind, sieht im Grunde wohl jeder ein. Allzu freigiebiger Umgang mit Informationen gefährdet die Sicherheit der Soldaten. Und zwar nicht die Sicherheit irgendwelcher Soldaten, sondern unserer Soldaten, die für uns im Felde stehen und für die wir alle als Teil dieses Gemeinwesens, das sie dorthin befohlen hat, eine Verantwortung tragen. Auch die individuelle Nichtzustimmung zu einzelnen dieser nach klaren rechtsstaatlich-demokratischen Verfahren beschlossenen Einsätze entbindet nicht von dieser grundsätzlichen staatsbürgerlichen Verantwortung.

Die Wikileaks-Aktivisten und ihre Sympathisanten – zum allergrößten Teil, übrigens einschließlich des Australiers Assange, Bürger von Staaten, die in Afghanistan oder im Irak Truppen im Einsatz hatten, also vom Datenklau betroffen waren – empfinden diese Verantwortung augenscheinlich nicht. Sonst hätten sie nicht geheime Militärdokumente veröffentlicht, aus denen sich Einsatzstrategien, Ausrüstungsdetails und, anfänglich jedenfalls, die Namen örtlicher Informanten der militärischen Aufklärung im Klartext herauslesen ließen. Klassischerweise nennt man das Landesverrat.

Das Gegenargument ist ebenso klassisch: Dass das Militär oder jeweils einzelne Militärangehörige die militärische Geheimhaltung missbraucht hätten, unter anderem, um Kriegsverbrechen zu vertuschen, und dass sie darum ihr Recht auf ebendiese Geheimhaltung verwirkt hätten. Gewiss: Diese Vertuschung gibt es, nicht nur in Einzelfällen; Militär und Geheimdienste neigen in einem womöglich falsch verstandenen Eigeninteresse generell zu einer übertriebenen, letztlich nicht immer legitimen Geheimniskrämerei. Zur Wahrheit gehören aber zwei Seiten. Jeder weiß oder könnte wissen, wenn er wollte, dass Verstöße gegen das Kriegsrecht in allen Kriegen geschehen und daher aus sich heraus noch keinen politischen Skandal darstellen. Das ist reine statistische Empirie über „menschliche Defekte“. Wenn junge Männer aus ihrem zivilen Leben herausgerissen, in blutige Kämpfe verwickelt werden, wenn sie innerlich abstumpfen und verhärten und dann in Situationen kommen, wo sie mit ihren Waffen im Besitz totaler Kontrolle über Gefangene oder Zivilisten sind, wird immer ein gewisser Prozentsatz gegen Kriegsrecht und Befehle Gewalt ausüben. Bis zu einem gewissen Grade, so zynisch das klingt, gehören solche Ereignisse zum normalen Schmutz des Krieges. Wer Soldaten in den Krieg schickt – und es kann trotz allem gute Gründe geben, das zu tun –, muss wissen, dass er sich auch auf so etwas einlässt und einzelne Vorkommnisse in dieser Richtung einen empörten Aufschrei mit sofortiger Aufhebung militärischer Geheimhaltung nicht rechtfertigen, weil man sie voraussehen konnte. Das entbindet Vorgesetzte und Militärjustiz nicht von der Pflicht, solche Verstöße zu verfolgen und auch in angemessener Weise öffentlich zu machen. Aber die wahllose Veröffentlichung zigtausender geheimer Dokumente zur Aufklärung einzelner Kriegsverbrechen, die nur ein Bruchteil dieser Dokumente betrifft, ist schlechthin unsachgemäß und nicht verhältnismäßig.

Lob der Lüge

Übrigens haben sich die meisten Kulturen in der Geschichte generell gegen unbedingte Aufklärung entschieden. Angefangen schon bei den alten Griechen wurde in den allermeisten historischen Situationen nach schlimmem Geschehen – Krieg, Bürgerkrieg, Stammesfehden – ein Schweigekonsens geschlossen. Mit Ausnahme weniger Protagonisten wurden schlimme Taten, darunter auch fast alle Kriegsverbrechen nach heutiger Definition, stillschweigend amnestiert. Dies aus der durchaus nicht unklugen Erfahrung heraus, dass aus dem Ruf nach Gerechtigkeit leicht der Ruf nach Rache wird und ein blutiger Vergeltungszirkel entsteht, der generationenlang anhalten kann. Der Münchener Althistoriker Christian Meier hat dies vor einiger Zeit sehr schön in einer Zusammenschau mit dem Titel „Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns“ dargestellt. Wobei die „Unabweisbarkeit des Erinnerns“ sich primär auf den großen historischen Ausnahmefall bezieht, der sich einfach nicht vergessen ließ: auf Auschwitz. Aber die Ausnahme bestätigt die Regel. Und die Regel hieß: Vergessen. Und nicht: Aufklären um jeden Preis.

Wie verträgt sich das mit dem unbedingten Wahrheitsstreben in der ideengeschichtlichen Nachfolge der Aufklärung?

Maß und Mitte

Die scharfsinnigsten Aufklärungskritiker sitzen – wenig überraschend – im Vatikan. Papst Benedikt hat, noch in seiner Zeit als Kardinal, in einer mittlerweile berühmt gewordenen Diskussion mit Jürgen Habermas, die interessante These aufgestellt, dass neben den Fundamentalismen der Religionen, die es natürlich auch gibt, ebenso so etwas existiert wie Fundamentalismen der Vernunft – er sagte wörtlich: Pathologien der Vernunft –, also Entwicklungen, die unter einem bestimmten politischen, ökonomischen, wissenschaftlichen oder zeitgeschichtlichen Blickwinkel jeweils vernünftig zu sein scheinen, so wie für den fanatischen Gläubigen in der eingeschränkten Perspektive seiner Heiligen Schrift schlimmste Untaten ganz selbstverständlich sind, die sich aber in einer weiteren moralischen Perspektive als furchtbare Fehlentwicklungen herausstellen. Und die im Übrigen die Eigenheit haben, dass man sie, hat man sie einmal in die Welt gesetzt und die Büchse der Pandora geöffnet, kaum mehr loswerden kann. Kardinal Ratzinger nannte damals als Beispiele die Atombombe und die Genmanipulation am Menschen.

Ich glaube, der Wunsch nach totaler Transparenz ist auch ein solcher Fundamentalismus der Vernunft. Wie an manch anderer Stelle auch übertreibt es die Moderne hier mit Bewegungen, die im Ansatz durchaus segensreich sind, sich in der Zuspitzung aber ins Gegenteil verkehren und ihre eigenen Grundlagen gefährden. Totale Transparenz. Jeder mag sich ja einmal vorstellen, wie so ein Tag abliefe, an dem er den Kollegen am Arbeitsplatz oder der Familie daheim immer offen und ehrlich sagen müsste, was er gerade denkt. Kündigung und Scheidung wären nach einem solchen Tag keine unwahrscheinlichen Folgen. Nach wissenschaftlichen Untersuchungen lügt ein durchschnittlicher Mensch über 100mal am Tag. Die Zahlen gehen sehr leicht in die Höhe, wenn man Täuschungen in Mimik oder Tonalität dabei mitrechnet. Aber es ist jedem klar: Lügen oder zumindest das stillschweigende Hinwegtäuschen über Wahrheiten sind ein wesentlicher Bestandteil menschlichen Miteinanders. Und es sind sich auch alle einig: Es geht gar nicht anders. Eine Gesellschaft, in der jeder jedem jederzeit die Wahrheit sagte, müsste in kürzester Zeit zerbrechen.

Gewiss, die individuellen Lebenslügen und Geheimnisse wollen die Verfechter des freien Netzes nicht antasten. Ihnen geht es um Institutionen, um Regierungen und Firmen. Aber auch Politiker und Unternehmensführer sind Menschen, und es wäre arg lebensfremd, zu meinen, dass das Miteinander unter ihnen so völlig anders ablaufen kann als unter normalen Menschen. Natürlich wird auch dort getrickst und getäuscht, Sympathie geheuchelt, wo keine besteht; hat man über Menschen zwei Ansichten, eine, die man öffentlich äußert, und eine, die man insgeheim hat und in Akten notiert, wo der einzelne sie im Gedächtnis behält. Das ist einfach Menschenart, das sind die „durchschnittlichen Defekte“, von denen Max Weber sprach, mit denen man als Verantwortungsethiker zu rechnen hat. Und ich kann mich des Verdachts nicht erwehren, dass es den Verfechtern totaler Transparenz in letzter Konsequenz nicht eigentlich um den freien Fluss von Informationen geht, sondern klassisch-utopistisch mehr darum, ehrlichere und gutmütigere Menschen hervorzubringen, die sich in einer solchen Welt, in der jede Lüge jederzeit offenkundig werden kann, unfallfrei bewegen könnten. Wo man aber mit den herkömmlichen Menschen nicht mehr auskommt und meint, für seine Utopie erst einen neuen Typus Mensch zu benötigen, beginnt meistens der Extremismus.

Kurzum: Nach meiner Auffassung bringt es für die westlichen Gesellschaften sehr viel mehr Schaden als Nutzen, wenn Netzanarchisten vom Schlage eines Assange und seiner Anhänger weiterhin auf die totale Transparenz aller Institutionen hinarbeiten. Ob sie anderswo, in Diktaturen, segenreicher wirken könnten, muss man abwarten. Bezüglich Iran, Nordkorea oder China haben sie noch nicht sehr viel geleistet. Hierzulande aber gilt es, sie in die Schranken zu weisen.

Was zu tun bleibt

Mit dieser Einsicht allein ist freilich noch nicht sehr viel gewonnen. Denn es stellt sich ja die Frage, ob die Staaten, die den Netzaktivisten ja nicht ganz ohne Grund als unbewegliche Dinosaurier gelten, überhaupt imstande sein werden, den ungehemmten Informationsfluss in verträgliche Bahnen zu lenken. Sie können es meines Erachtens nicht auf der technischen Ebene. Für jedes Wikileaks, das man durch Löschen aus dem Netz verbannte, würden zehn neue entstehen. Technisch gewinnen könnte man einen solchen digitalen Bürgerkrieg mutmaßlich nur durch den Aufbau eines Zensurapparats von chinesischen Ausmaßen, den man unter fachlichen Gesichtspunkten gewiss bewundern kann, der aber, in einem Rechtsstaat, wiederum nicht verhältnismäßig wäre.

Nun schön. Wo der Staat präventiv nicht siegen kann – oder darf –, wird er auf das älteste Hausmittel zurückgreifen müssen, das ihm zu Gebote steht und an dessen Wirksamkeit man kaum zweifeln kann. Dieses Mittel heißt Abschreckung. Würden einige der Netzaktivisten tatsächlich einmal wegen Landesverrats zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, dürfte die Begeisterung am Datenklau sehr rasch abnehmen.

Es ist nur bisher faktisch kaum möglich. Denn in den meisten westlichen Staaten hat sich in den letzten Jahrzehnten de facto die Rechtsauffassung durchgesetzt, wonach der Geheimnisverrat, der in Deutschland etwa in den Paragraphen 93–97 des Strafgesetzbuches geregelt ist, zwar demjenigen staatlich Angestellten oder Spion anzulasten ist, der das Geheimnis erstmalig weitergibt, so wie etwa mutmaßlich der US-Soldat Manning, der Journalist aber, der das Staatsgeheimnis wissentlich veröffentlicht oder sein Medium dafür bereitstellt, straffrei ausgeht.

Ich habe das persönlich immer für eine sophistische Deutung gehalten, weil es auch de iure ein Unterschied sein muss, ob zwei Menschen von einem Geheimnis wissen, das nur einer kennen sollte, oder ob es Millionen sind. Aber letztlich war eben eine Abwägung anzustellen zwischen dem Nutzen, der dem investigativen Journalismus und auch der Gesamtgesellschaft durch die Möglichkeit, Skandale leichter aufdecken zu können, entstand, und dem Schaden, den die staatlichen Behörden erlitten, wenn ab und an einmal Staatsgeheimnisse ans Licht der Öffentlichkeit kamen. Und der Nutzen, so die Mehrheitsauffassung, überwog.

Ich glaube, diese Abwägung muss man im Internetzeitalter neu treffen, weil nun der Schaden um ein Vielfaches größer ist. Geheimdokumente werden heutzutage nicht mehr in einzelnen Auszügen in Zeitungen veröffentlicht, sondern zigtausendfach im Volltext, mit wenig erkennbarer Unterscheidung nach Relevanz, Brisanz, Authentizität, häufig ohne eine vorgeschaltete journalistische Qualitätskontrolle, ohne erläuternden Kommentar, ohne Gewichtung, ohne Einordnung, losgelassen auf eine unvorbereitete Öffentlichkeit, die daraus nun ihre Schlüsse ziehen soll. Das führt dann dazu, dass belanglose Kleinigkeiten, wie die Frage, was amerikanische Botschaftsangestellte über deutsche Regierungsmitglieder denken, eine hysterische Resonanz finden, während politische Treibsätze, wie etwa die klammheimliche Aufforderung Saudi-Arabiens an die Amerikaner, den Iran anzugreifen, allenfalls am Rande wahrgenommen werden. Um dieses drohende Chaos einzudämmen, wäre es meiner Auffassung nach durchaus verhältnismäßig, auch die Seitenbetreiber für die Veröffentlichung von Geheimdokumenten haftbar zu machen, jedenfalls, wenn ihnen Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit nachgewiesen werden kann.

Wem das schon zu weit reicht, der muss sich nach den Alternativen fragen lassen. Die Alternative, dass die Staaten nichts tun und die Netzanarchisten weiterhin gewähren lassen, ist nicht gegeben. Finden wirksame Gegenmaßnahmen nicht im Rahmen des Rechtstaates, auf Basis von Gesetzen und klaren Verfahren statt, werden die betroffenen Behörden andere Mittel und Wege finden. Dass Suchmaschinen, Webhoster, Internetfinanzdienstleister wie auch klassische Banken gegen Wikileaks mobilisiert wurden, als die erste große Welle von Veröffentlichungen über das Netz flutete, war hier ein erster Vorgeschmack. Und es ist vielleicht der erste Schritt auf dem Weg hin zu dem, was manche einen digitalen Feudalismus nennen, in dem geschwächte Staaten die virtuellen Territorien, die sie nicht mehr kontrollieren können oder dürfen, großen Monopolfirmen überlassen, so wie die mittelalterlichen Kaiser Grenzbezirke zum Schutz ihren Markgrafen abtraten, die in ihrem Machtbereich dann nach eigenem, oft willkürlichen Recht agierten; oder wie heute auch schon wieder in manchen Krisengebieten für die heiklen Aufgaben nicht mehr reguläre staatliche Armeen eingesetzt werden, sondern wieder private Söldner wie zu Wallensteins Zeiten. Beides sind zivilisatorische Rückschritte. Und die Gegenangriffe von Hackergruppen wie Anonymous auf die digitalen Feudalherren sind womöglich Vorboten eines virtuellen Bürgerkrieges, die erste Stufe auf einer Treppe, die steil hinabführt in die Anarchie, wo nicht mehr Freiheit herrscht, sondern das Recht des Stärkeren oder in diesem Fall desjenigen, der über die bessere Technik verfügt. Natürlich kann ein Netzaktivist sich von diesen Folgen gleichsam freisprechen und gesinnungsethisch argumentieren, nach seinen Wertmaßstäben habe er sich korrekt verhalten, und wenn die Welt so übel reagiere, sei das eben Schicksal und nicht seine Schuld. Aber wenn wir stringent mit Max Weber argumentieren, werden wir ihm für das, was an absehbaren Folgen entsteht, zumindest eine Mitverantwortung zuweisen müssen. Und das, was entstehen kann, ist wahrlich keine verlockende Perspektive. Da heißt es gegensteuern; rechtzeitig.


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